In vielen Ländern stieg in den letzten Jahren die Inanspruchnahme psychiatrischer Leistungen markant. Österreich bildet hierin keine Ausnahme. In landesgesundheitsfondsfinanzierten Spitälern (Fonds-Spitälern) etwa stieg die Anzahl von stationären Aufenthalten im ICD-10 Kapitel V „Psychische und Verhaltensstörungen“ im Zeitraum 2003 bis 2009 um insgesamt 18 Prozent (je 100.000 Einwohner). Bereits jetzt klagen jedoch viele Krankenhäuser über Schwierigkeiten, freiwerdende Stellen nachzubesetzen. Wächst die Nachfrage nach psychiatrischen Leistungen in ähnlichem Ausmaß weiter, ist zu befürchten, dass sich die Problematik in diesem Bereich weiter verschärft. Um ein konkreteres Bild über die voraussichtlichen zukünftigen Entwicklungen zu gewinnen, wurde daher eine Studie über die quantitative Entwicklung von Bedarf und Angebot an Psychiatern im Zeitraum bis 2030 durchgeführt, die unlängst veröffentlich wurde (Riedel et al., 2014).

Die Abschätzung des zukünftigen Bedarfs verknüpft Projektionsrechnungen der zukünftigen Inanspruchnahme im intra- und extramuralen Bereich mit aktuellen Fallzahlen je Vollzeitäquivalent (VZÄ), um so den Bedarf an Psychiatern abzuschätzen. Die Berechnungen stützen sich im Wesentlichen auf zwei Datenquellen. Für den stationären Bereich wurden die psychiatrischen Abteilungen von Fonds-Spitälern herangezogen und die Steigerung der Inanspruchnahme in fünfjährigen Altersgruppen nach Geschlecht ermittelt. Vergleichbare Daten waren zum Zeitpunkt der Berechnungen für den Zeitraum 2003 bis 2009 verfügbar und ergaben eine jährliche Steigerung der Inanspruchnahme um 3,3 Prozent. Für den stationären Sektor außerhalb von Fonds-Spitälern lagen keine Daten vor; für diesen Bereich wurde die idente Wachstumsdynamik wie in Fonds-Spitälern unterstellt.
Für den ambulanten Bereich lagen Auswertungen der Sozialversicherung vor, die allerdings keine Aufschlüsse über Alter und Geschlecht bei Inanspruchnahme gaben. Die Fallzahlen in diesem Bereich wuchsen im Zeitraum 2003 bis 2009 um 3,9 Prozent jährlich. Auch für diesen Bereich wurde modelliert, dass sich die Dynamik der Inanspruchnahme nicht zwischen datenmäßig erfasstem Bereich – also krankenkassenfinanzierten Fällen – und datenmäßig nicht erfasstem privat finanziertem Bereich unterscheidet.

Bedarfsszenarien

Der beobachtete Anstieg der Inanspruchnahme in der Vergangenheit war nur zu einem geringen Teil demografisch verursacht. Er wird üblicherweise mit steigender Akzeptanz und Wissen um psychische Erkrankungen erklärt (Wittchen, 2012). Unter der Annahme, dass die Inanspruchnahme von psychiatrischen Leistungen pro Person in Zukunft nicht weiter steigt, sondern auf dem erreichten Niveau verharrt, lässt sich eine rein demografisch bedingte Vorausschätzung errechnen. Diese ergibt ein marginales Wachstum, impliziert aber ein abruptes Wegbrechen der Wachstumsdynamik der vergangenen Jahre. Ein solcher „Knick“ ist aber wenig wahrscheinlich; plausibler wäre ein gradueller Rückgang. Allerdings ist schwer abzuschätzen, auf welches Niveau sich die Inanspruchnahme längerfristig einpendeln wird. Dementsprechend wurden zwei unterschiedliche Bedarfsszenarien mit schwächer werdender Wachstumsdynamik modelliert:
Das Bedarfsszenario „Ausklingendes Wachstum“ unterstellt, dass die Wachstumsrate des gesamten Behandlungsvolumens über die nächsten Jahre sukzessive auf jenes Wachstum fällt, das durch Demografie alleine erklärbar ist. In diesem Bedarfsszenario steigt der Ärztebedarf bis 2030 um rund 19 Prozent auf 1.267 Vollzeitärzte (VZÄ).
Im Bedarfsszenario „Ambulantisierung“ pendelt sich lediglich die Inanspruchnahme des intramuralen Bereichs auf die demografisch bedingte Entwicklung ein, während der extramurale Bereich mit gleicher Rate wie in den Jahren 2003–2009 weiter wächst. In diesem Szenario steigt der Bedarf um 554 VZÄ oder 52 Prozent bis 2030 (Grafik 1).

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Abschätzung des zukünftigen Angebots

Das verwendete Stock-and-Flow-Modell baut auf die bestehende Anzahl von gemeldeten Ärzten nach Alter und Geschlecht auf. Weiters berücksichtigt das Modell „Zuflüsse“ in diesen Ärztebestand entsprechend den in der Vergangenheit beobachteten Werten bzw. den Zahlen an Medizinabsolventen. Da über „Abflüsse“ aus dem Ärztestand keine Daten zur Verfügung stehen, wurde mit den bestehenden Gesetzen bzw. Vereinbarungen zur Pensionierung gearbeitet. Berücksichtigt wurden hierbei alle der sich im Zeitablauf ändernden Bezeichnungen einschlägiger Fachärzte, also die Fächer „Psychiatrie“, „psychiatrische Medizin“ und anteilig die Fächer „Psychiatrie und Neurologie“ sowie „Neurologie und Psychiatrie“.
Da die konkrete Auswirkung der geänderten Zugangsbedingungen zum Medizinstudium und der steigenden Migrationsbereitschaft von Studierenden und Absolventen schwer vorhersagbar ist, wurden verschiedene Szenarien hierfür modelliert. Weiters berücksichtigen die Szenarien Auswirkungen des steigenden Frauenanteils in der Ärzteschaft. Dieser Faktor ist relevant, da Frauen – jedenfalls im vertragsärztlichen Bereich – um rund ein Viertel weniger Patienten behandeln als ihre männlichen Kollegen.
Allen berechneten Angebotsszenarien gemeinsam ist die hohe Auswirkung der Zugangsbeschränkungen zum Medizinstudium (Studienplätze nach der Summativen Integrativen Prüfung 1 seit 2002, Aufnahmeprüfung seit 2006). Es wurde unterstellt, dass die damit verbundene Selektion die Drop-out-Raten senkt, sodass die Zahl der Medizinabsolventen weniger stark als jene der Studienanfänger zurückgeht.
Das Hauptmodell der Angebotsentwicklung unterstellt eine Halbierung der zuvor beobachteten Drop-out-Quote bei Männern auf 15 Prozent und Frauen auf 16 Prozent und Emigration von zehn Prozent der ausländischen und fünf Prozent der inländischen Facharztabsolventen. Der in der Vergangenheit beobachtete Produktivitätsunterschied zwischen Männern und Frauen bleibt bestehen.
Das Angebotsszenario „Optimistisch“ unterstellt eine gleichzeitige Reduktion der Drop-out-Quote (auf fünf anstelle von ca. 15 Prozent), eine Reduktion der Emigration und eine Halbierung des beobachteten geschlechtsbezogenen Produktivitätsunterschieds.
Das Angebotsszenario „Pessimistisch“ unterstellt verstärkte Emigration nach abgeschlossener Facharztausbildung, und zwar bei ausländischen Absolventen von zehn auf 30 Prozent und bei Absolventen mit österreichischem Maturazeugnis von fünf auf 15 Prozent. Ansonsten gelten die Annahmen des Hauptmodells.
In allen Angebotsszenarien beginnt das psychiatrische Angebot nach anfänglichen Steigerungen ab 2017 in unterschiedlichem Ausmaß zu sinken (Grafik 2).

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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Nach den dargestellten Projektionsrechnungen wird die zukünftige Versorgung mit psychiatrischen Leistungen in Österreich unter Status-quo-Bedingungen bald an ihre Grenzen stoßen. Grafik 3 illustriert, dass unter den plausibelsten Annahmen die Nachfrage nach Leistungen das Angebot bereits ab dem Jahr 2018 übersteigen wird und unter den optimistischsten Annahmen auch nur um fünf Jahre später.
Die berechneten Szenarien zeigen, dass ein Ausreizen politischer Handlungsspielräume den zu erwartenden Engpass in der psychiatrischen Versorgung beeinflussen kann. Bei gleichzeitiger Reduktion von Drop-out-Quote und Emigration der Jungmediziner sowie einer Produktivitätsannäherung der Frauen an Männer kann die Versorgungslücke um knapp 160 Vollzeitäquivalente reduziert werden. Gute Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen erscheinen daher unerlässlich, um Produktivität zu erhalten oder zu verbessern und Emigration ausgebildeter Mediziner zu vermeiden.
Derartige Projektionsrechnungen treffen notwendigerweise eine Reihe von Annahmen, um die zukünftigen Entwicklungen abschätzen zu können. Seit Durchführung der Berechnungen wurden zusätzliche Informationen zugänglich, die eine bessere Einschätzung einzelner, für die Szenarien relevanter Parameter erlauben. Dies betrifft insbesondere die Auswirkungen der relativ neuen Selektionsmechanismen zu Beginn des Medizinstudiums. An den medizinischen Universitäten in Graz (Reibnegger et al., 2011) und in Innsbruck (Kraft et al., 2012) konnte festgestellt werden, dass die Studienabbrüche seither tatsächlich wie erwartet stark zurückgegangen sind. Die im optimistischen Szenario unterstellte Drop-out-Rate von fünf Prozent scheint in der Realität jedoch noch nicht erreicht worden zu sein. Somit erscheint aus heutiger Sicht eine zukünftige Drop-out-Rate zwischen Hauptszenario und optimistischem Szenario als wahrscheinlich.
Als durchaus erwünschter Nebeneffekt der Selektion zeigte sich weiters, dass die somit erfolgreich selektierten Studierenden ihre Prüfungen rascher und besser ablegen als Studierende in Zeiten des offenen Zugangs zum Medizinstudium (Kraft et al., 2012): Der Selektionsmechanismus bevorzugt demnach jene, die besonders zielgerichtet arbeiten bzw. studieren. Es ist jedoch zu bedenken, dass besonders zielgerichtete Studierende wohl auch ihre Erwerbskarriere mit ähnlicher Zielstrebigkeit verfolgen werden und daher die Entwicklung der Arbeits- und praktischen Ausbildungsbedingungen in Österreich sehr kritisch verfolgen. Diesem Bild würde auch entsprechen, dass nunmehr bereits weit höhere Zahlen von Jungmedizinern ins Ausland abwandern, als noch vor kurzem angenommen wurde. Selbst wenn der emigrationswillige Anteil der Absolventen nicht die in den Medien kolportierte Marke von 50 Prozent erreicht, erscheinen die in den Projektionen getroffenen Annahmen zum Migrationsverhalten als optimistisch, und damit auch die Abschätzung der zu erwartenden Lücke zwischen Angebot an und Nachfrage nach psychiatrischer Arbeitskraft. Das pessimistische Szenario unterstellt, dass 15 Prozent der inländischen und 30 Prozent der ausländischen Absolventen des Facharztprogramms Psychiatrie emigrieren. Steigt der Emigrantenanteil hingegen auf 30 Prozent (inländische) bzw. 50 Prozent (ausländische Medizinabsolventen), also weit weniger als kolportiert, summiert sich dies bis zum Jahr 2030 bereits auf fast 100 psychiatrische VZÄ weniger als im ursprünglichen pessimistischen Szenario.
Ein weiterer neuer Faktor seit Durchführung der Projektionsrechnung liegt darin, dass im März 2014 das Parlament die Errichtung einer medizinischen Universität in Linz beschlossen hat, die im Vollausbau die Ausbildung von 300 Medizinern pro Jahrgang erlauben soll. Würden auch in Linz, wie bei den Jungmedizinern der Vergangenheit, fünf bis sechs Prozent eine psychiatrische Karriere einschlagen, so könnte dies pro Jahrgang weitere zirka 16 Ärzte für die psychiatrische Versorgung in Österreich bedeuten – sofern diese eben nicht emigrieren. Diese zusätzlichen Ärzte sollten dann einer weiteren Öffnung der projizierten Versorgungslücke entgegenwirken.
Offen ist aber, ob eine Verbesserung der aktuellen praktischen Ausbildungsbedingungen und der Arbeitsbedingungen nicht eine effizientere Maßnahme für die Sicherung des zukünftigen Ärztebestandes wäre, als eine weitere Medizinuniversität einzurichten, die hochmotivierten jungen in- und ausländischen Medizinabsolventen einen guten Karrierestart im Ausland ermöglicht. Dass nunmehr die ärztliche Arbeitszeit zumindest mittelfristig auf 48 Wochenstunden eingeschränkt wird, wie von der Europäischen Union seit Längerem gefordert, könnte einen Beitrag zu besseren Arbeitsbedingungen leisten. In welchem Ausmaß eine Umsetzung dieser EU-Richtlinie die verfügbare psychiatrische Arbeitskraft aber unmittelbar verringert, wurde in die hier besprochenen Projektionsrechnungen freilich noch nicht mit eingerechnet.

Riedel M, Röhrling G, Czypionka T, Kasper S: A gap analysis for future supply of and demand for psychiatrists in Austria; The Journal of Mental Health Policy and Economics 2014; 17 (1):9–18
Weitere Literatur bei der Autorin

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wird auf die unterschiedliche geschlechtsspezifische Schreibweise verzichtet. Die gewählte Form ist in diesem Sinne geschlechtsneutral zu verstehen.

Autorin: Dr. Monika Riedel
Institut für Höhere Studien (IHS), Wien, E-Mail: riedel@ihs.ac.at