Mehr als 700 Menschen nahmen im vergangenen Jahr eines der Selbsthilfe-Angebote von pro mente Wien in Anspruch. Die Selbsthilfe bietet Orientierung im Alltag, bei Ausbildung oder im Berufsleben und macht Mut, sich Ärzten und Therapeuten gegenüber zu öffnen.

Silvia Ballauf leitet seit 2007 den Fachbereich Selbsthilfeorientierte Projektarbeit (SOP) bei pro mente Wien. Erst vier Jahre davor stieß sie selbst als Betroffene zu pro mente. Rückblickend war für sie der Kontakt zur Selbsthilfe eine „Zurechtrücken“ ihrer Selbstwahrnehmung. „Erstmals hatte ich hier das Gefühl, dass ich gar nicht so verrückt bin, wie ich es selbst von mir glaubte. Es waren einfach sehr entlastende Momente für mich“, schildert Ballauf. Zunehmend brachte sie sich selbst aktiv in die Selbsthilfearbeit ein und bekam die Möglichkeit, Fortbildungen zu absolvieren und zunächst ehrenamtliche Aufgaben zu übernehmen. Heute ist Ballauf vollzeitbeschäftigte, hauptamtliche Mitarbeiterin von pro mente Wien und koordiniert gemeinsam mit vier weiteren hauptamtlichen Mitarbeiterinnen die gesamte Selbsthilfearbeit.

Soziale Stützfunktion

„Menschen wie Silvia Ballauf sind in der Selbsthilfearbeit durch ihren eigenen Erfahrungshintergrund für andere Betroffene nicht nur hochgradig glaubwürdig, sondern sie haben ohne Zweifel auch Vorbildfunktion“, sagt Dr. Rudolf P. Wagner, Geschäftsführer von pro mente Wien, über seine Kollegin. Menschen, die auf Basis der eigenen Betroffenheit und entsprechender Schulungen andere Betroffene beraten können, vermitteln damit Hoffnung und Perspektiven. „Niemals zurückweichen“ lautet auch das Motto, das Silvia Ballauf über ihre bisherige Tätigkeit bei pro mente stellt: „Gerade wenn Betroffene die Tendenz haben, zurückzuweichen und vielleicht nicht zur Gruppe kommen, dann wäre es ganz wichtig, zu kommen“, meint Ballauf.

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Ballauf: „Das soziale Netz und das Spiegeln der momentanen Befindlichkeit sind die wichtigsten Funktionen, die Selbsthilfeangebote im psychiatrischen Bereich bieten.“

„Das soziale Netz und das Spiegeln der momentanen Befindlichkeit sind die wichtigsten Funktionen, die Selbsthilfeangebote im psychiatrischen Bereich bieten“, betonen Ballauf und Wagner unisono. Auch ein gewisser sekundär-präventiver Effekt sei dabei nicht auszuschließen, da die Gruppenmitglieder Veränderungen im Verhalten wahrnehmen und rückmelden bzw. bei Fernbleiben aus der Gruppe aktiv nachfragen, was denn los sei. „Die soziale Unterstützung reicht oft so weit, dass sich die Gruppenmitglieder etwa bei Behörden- oder Arztterminen gegenseitig begleiten“, berichtet Wagner.

Diagnose-spezifisches Angebot

Insgesamt 18 Selbsthilfegruppen werden derzeit von pro mente Wien angeboten, rund die Hälfte davon für Menschen mit Depressionen und Angststörungen sowie Burnout. Weitere Gruppen gibt es für Menschen mit bipolaren Erkrankungen, Zwangsstörungen oder Erkrankungen des schizophrenen Formenkreises. Zwei Gruppen bieten darüber hinaus ein spezielles Angebot für jüngere Patienten, bei denen – unabhängig von der Diagnose – die Themen Ausbildung oder „im Beruf bleiben“ eine besondere Priorität haben. Fast alle Gruppen werden von ehrenamtlichen Mitarbeitern geleitet, die so wie Ballauf selbst an einer psychischen Erkrankung gelitten haben und zudem speziell für diese Aufgabe geschult wurden sowie regelmäßige Supervision und Weiterbildung erhalten. Nur bei zwei Gruppen für Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreises gibt es neben dem ehrenamtlichen Co-Leiter einen bzw. eine psychologische Leiterin.

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Wagner: „Selbsthilfe ist kein Ersatz für eine Therapie oder Behandlung, sie ist allerdings ein wichtiges ergänzendes Angebot.“

„Die Erfahrung hat gezeigt, dass es ohne diese fachliche Leitung speziell in diesen Gruppen Schwierigkeiten gab, den Rahmen bzw. die Struktur aufrechtzuerhalten“, erklärt dazu Wagner. Für alle Gruppen wurde unter Mitbeteiligung der Gruppenleiter ein eigener Leitfaden erstellt. Eine der darin festgeschriebenen Regeln lautet, sich niemals in die Therapie der Teilnehmer einzumischen oder diese zu bewerten. „Selbsthilfe ist kein Ersatz für eine Therapie oder Behandlung, sie ist allerdings ein wichtiges ergänzendes Angebot. In einem als neutral wahrgenommenen Rahmen können Ängste und Sorgen rund um die Behandlung besprochen und auch abgebaut werden“, sagt Wagner. „Es ist erstaunlich, aber mitunter erzählen Patienten, dass sie sich nicht getrauen, mit ihren behandelnden Ärzten über Probleme oder etwaige Verschlechterungen zu sprechen. Manche haben sogar richtig Scheu davor, ihre Ärzte zu enttäuschen, etwa wenn sie sich nicht an deren Empfehlungen gehalten haben“, schildert Wagner.

„Dann wird in den Gruppen natürlich schon Mut gemacht, im Kontakt mit den behandelnden Ärzten und Ärztinnen zu bleiben.“ Auch Ballauf ist davon überzeugt, dass mit Unterstützung der Selbsthilfegruppe ein vielleicht langer Leidensweg verkürzt werden kann, und sei es durch den Hinweis auf die entsprechenden Anlaufstellen im psychiatrischen Versorgungssystem.

Eins-zu-eins-Beratung

Neben den Gruppentreffen bietet pro mente Wien im Selbsthilfebereich auch Peer-Beratungen bzw. Peer- Coachings in einem „Eins-zu-eins- Setting“ an. „In der Einzelberatung geht es darum, Perspektiven zu eröffnen oder ganz konkrete Fragestellungen etwa im Zusammenhang mit der Berufstätigkeit zu beantworten“, erklärt Ballauf. Generell ortet Ballauf in den letzten Jahren eine Zunahme an Berufstätigen, die bei pro mente Wien Rat suchen. Die Berater bzw. Coaches sind ebenfalls ehemals Betroffene, die sich zu bestimmten Zeiten für Beratungen bereithalten. Sie werden vom Team von pro mente jeweils nach persönlichem Hintergrund und Diagnose der Klienten ausgewählt.

Ein Pool von rund 20 Beratern steht zur Verfügung; im Unterschied zu den Gruppenleitern arbeiten die Berater allerdings nicht ehrenamtlich, sondern legen Honorare für ihre Leistungen. Dies sei nicht nur aus finanziellen Gründen wichtig, sondern unterstreiche, dass die Erfahrung als Ressource geschätzt wird, wie Wagner hervorhebt. „Die gesellschaftliche Debatte um die Inklusion bekommt damit wichtige Argumente: Menschen mit psychischen Erkrankungen haben nicht nur Defizite, sondern auch Erfahrungen und Ressourcen, die sie für sich und andere nutzen können.“ Etwa fünf Prozent jener Menschen, die zunächst als Betroffene bei pro mente Rat suchen, gehen den Weg in die aktive Mitarbeit.

50 Jahre pro mente Wien

1965 als Verein „pro mente infirmis“ vom Psychiater und Psychoanalytiker Prim. Dr. Raoul Schindler (1923–2014) gegründet, begeht pro mente Wien in diesem Jahr sein 50-jähriges Jubiläum. Schindlers Ziel war es, mit der Gründung der Organisation das Ehrenamt in der Nachbetreuung psychisch Kranker zu strukturieren. Bekannt ist Schindler zudem als ein Wegbereiter der Wiener Psychiatriereform sowie für das von ihm entwickelte Interaktionsmodell der Rangdynamik. Als Grundmodell der Gruppendynamik legt es eine Basis für die heute anerkannte Psychotherapie-Methode.

Abb.: pro mente Wien

pro mente Wien/Selbsthilfe: die Fakten

Fünf hauptamtliche Mitarbeiter, rund 40 ehrenamtliche Gruppenleiter bzw. Co-Leiter sowie rund 20 Peer-Berater und -Coaches für Einzelberatungen arbeiten in der selbsthilfeorientierten Projektarbeit (SOP) bei pro mente Wien. Für Klienten sind alle Angebote kostenfrei, das Angebot wird aus Mitteln des Fonds Soziales Wien sowie des Sozialministeriums Service finanziert. 18 Selbsthilfegruppen treffen sich regelmäßig in den Räumen von pro mente Wien im 4. und 5. Wiener Bezirk, wo auch Betroffene andere Betroffene beraten. Alle Mitarbeiter erhalten regelmäßig Supervision und sind für ihre Aufgaben entsprechend geschult, zudem besteht Rückhalt durch das professionelle Team psychosozialer Fachkräfte. Regelmäßig suchen die Mitarbeiter von pro mente Wien auch den Kontakt sowie den Austausch mit den Mitarbeitern psychiatrischer Einrichtungen.
Die Angebote der Selbsthilfe von pro mente Wien richten sich an Erwachsene mit allen psychiatrischen Erkrankungen. Freiwilligkeit gilt als die wichtigste Voraussetzung, um vom Angebot Gebrauch zu machen. Für die Klienten sind sowohl Beratungen als auch die Teilnahme an den regelmäßigen Gruppentreffen kostenfrei, Einzelberatungen sind jedoch auf maximal fünf Einheiten beschränkt. Neben dem Selbsthilfebereich gehören zum Angebot von pro mente Wien unter anderem Freizeitangebote, das Urlaubsprojekt „Atempause“, Arbeitsintegrationsprojekte oder das Betreute Wohnen. Aus dem ehemaligen „Atelier Sonnensegel“ ist der „reflektor“ hervorgegangen: In der Nähe des Wiener Naschmarktes gelegen, verfügt er über ein Atelier, eine Galerie und eine Kellerbühne. Hier soll die soziale Teilhabe der Mitglieder durch künstlerische Professionalisierung gefördert werden.
Obmann von pro mente Wien ist Prim. Dr. Georg Psota, Chefarzt des Psychosozialen Dienstes und derzeit auch Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Obmann-Stellvertreter ist Univ.-Doz. Dr. Karl Dantendorfer. Als Geschäftsführer fungieren Dr. Rudolf P. Wagner sowie Michael Felten, MAS. pro mente Wien ist gemeinsam mit anderen gemeinnützigen Organisationen, die im psychosozialen und sozialpsychiatrischen Bereich tätig sind, im Dachverband pro mente Austria zusammengeschlossen (Präsident: Prof. Univ.-Doz. Dr. Werner Schöny). pro mente Austria vertritt 26 Organisationen mit insgesamt mehr als 3.000 Mitarbeitern und erreicht damit mehr als 50.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen in Österreich. Spezielle Fachgruppen von pro mente Austria widmen sich Themen wie „Ehrenamt“, „Berufliche Integration“ oder „Kultur“.
www.promente-wien.at; www.promenteaustria.at

Autor: Mag. Christina Lechner