Hinter der bei vielen „Celebrities“ vermuteten Borderline- Persönlichkeitsstörung könnte ein „Endorphin-Mangel-Syndrom“ stehen, meint der deutsche Psychiater und Neurologe Prof. Dr. Borwin Bandelow.

Es ist augenscheinlich, dass viele Größen des internationalen Show- Business an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden. Warum dies der Fall ist und welche neurobiologischen Mechanismen dahinter stecken könnten, erläuterte im Frühsommer dieses Jahres Prof. Dr. Borwin Bandelow, Stv. Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen, im Rahmen eines wissenschaftlichen Seminares an der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie.

„Ich habe mich immer wieder gefragt, warum gerade die besten Rockmusiker die größten psychischen Probleme haben“, schickte Bandelow voraus. Beispiele dafür sind etwa Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain oder Amy Winehouse, die alle im Alter von 27 Jahren an einer Überdosis Drogen oder Alkohol verstarben. Weitere Gemeinsamkeiten in den Biografien des „Club 27“ (Bandelow) sind narzisstisches Verhalten, Drogen- und Alkoholsucht, Impulskontrollstörungen und häufige Partnerwechsel.

Auch eine problematische Kindheit haben sie gemeinsam, ebenso eine Historie von Essstörungen, Selbstverletzungen und Impulskontrollstörungen. „Auch wenn man keine Ferndiagnosen stellen soll, so sieht man doch eindeutig, dass hier eine Borderline-Persönlichkeitsstörung dahinter steckt“, so Bandelow.

Neurobiologische Ursachen

Neurobiologisch dürfte die Erkrankung mit einer Veränderung im körpereigenen Belohnungssystem zusammenhängen, das unter anderem im ventralen tegmentalen Areal und im Nucleus accumbens lokalisiert ist, meint Bandelow. Schon vor mehr als 60 Jahren zeigten Experimente an Ratten, denen in diesen Regionen Elektroden eingepflanzt wurden, dass die Tiere durch Stimulation dieser Elektroden bis zu 5.000-mal pro Tag versuchten, eine Endorphin-Ausschüttung hervorrufen.

Auch Drogen und Alkohol stimulieren dieses endogene Opiat-System oder EOS. Laut seiner These besteht bei Borderline- Persönlichkeitsstörungen ein Defizit im EOS, weshalb auch Drogen- und Alkoholmissbrauch bei Borderline- Patienten sehr häufig vorkommen. „Sogar Selbstverletzungen lassen sich damit erklären: Während Gesunde Schmerzen empfinden, ruft Ritzen oder Schneiden bei Menschen mit einem defizitären Opiat-System anscheinend ein Wohlgefühl hervor. Es müsste allerdings einmal untersucht werden, ob es bei Borderline-Patienten während Selbstverletzungen zu einem Anstieg der Endorphin-Spiegel kommt“, sagte Bandelow.

Weitere Borderline-Symptome wie Hypersexualität, „Sensation Seeking“ oder haltloses Konsumieren von Süßigkeiten lassen sich ebenso durch den Versuch einer Stimulation des schwach ausgeprägten EOS erklären. Komplexer zu erklären ist dagegen der Zusammenhang zwischen Anorexie und dem EOS. „Hunger ist eine Stresssituation, die zu einer Endorphinausschüttung führt. Manche Borderline- Patienten bekommen offensichtlich durch Hungern eine stärkere Ausschüttung als durch Essen“, lautet die Erklärung von Bandelow dazu. Symptome wie innere Leere und Anhedonie sind genauso eine Folge der chronisch erniedrigten Endorphin-Spiegel. „Die Anhedonie bei Borderline- Patienten ist jedoch eine andere als die Anhedonie bei depressiven Patienten – bei Borderline-Patienten kann die Stimmung durch äußere Ereignisse rasch wieder aufgehellt werden.“

Therapeutische Ansätze

„Fast alle diese Symptome bessern sich, wenn Borderline-Patienten mit dem Opiat-Antagonist Naltrexon behandelt werden“, berichtete Bandelow. Die neurobiologische Erklärung dafür: „Naltrexon blockiert die Opioid- Rezeptoren, das heißt, die Belohnung des pathologischen Verhaltens wie Spielsucht bleibt aus. Langfristig wird durch die Behandlung mit Naltrexon die Empfindlichkeit der Rezeptoren erhöht, was sich bei Borderline- Persönlichkeitsstörungen günstig auswirken könnte. Allerdings erhöht sich damit bei Drogenabhängigen die Gefahr einer Überdosierung.“ Auch steht für die Wirkung von Naltrexon bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen die Untersuchung in einem doppelblinden Design noch aus.

Weitere Zusammenhänge?

Im Rahmen seines Vortrages in Wien stellte Bandelow zudem die „gewagte Hypothese“ auf, dass bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung ein ganz ähnlicher biologischer Mechanismus bestehen könnte. Immerhin treten viele der Symptome bei beiden Formen von Persönlichkeitsstörungen auf, und bei beiden Erkrankungen gibt es häufig die Diagnose ADHS in der Kindheit. „Interessanterweise haben die an sich völlig unterschiedlich wirkenden ADHS-Medikamente Atomoxetin, Dextroamphetamin und Methylphenidat eine Gemeinsamkeit: sie wirken am Opiat-Rezeptor“, betonte Bandelow.

Sind ADHS, Borderline- und antisoziale Persönlichkeitsstörung daher im Grunde ein „EOS- bzw. Endorphin- Mangelsyndrom“, wie Bandelow vermutet? „Hier gibt es noch ein großes Forschungsfeld: Vor allem müssten die Bedeutung der einzelnen Opioid-Rezeptoren in diesem Zusammenhang näher untersucht und schließlich therapeutische Optionen entwickelt werden.“ Bandelow erklärte schließlich, warum so viele Rock- und Popstars mit Borderline-Persönlichkeitsstörung im Alter von 27 Jahren verstarben.

„Offensichtlich ist in diesem Alter die Störung am schlimmsten, sie wird auch sehr häufig in diesem Alter diagnostiziert.“ Allerdings: Ihre rastlose Suche nach Erfolg und Anerkennung und der damit einhergehenden Endorphin-Stimulation ebnet so manchen Stars erst den Weg zum Erfolg auf der Showbühne. „Unser EOS – oder wie Freud sagen würde, das ‚Es‘ – hat Triebwünsche wie Sex oder Hass, die unser soziales Angstsystem, das ‚Überich‘, uns auszuleben verbietet – die Stars erfüllen uns diese Wünsche stellvertretend auf der Bühne.“

„Celebrities – Vom schwierigen Glück, berühmt zu sein“, Wissenschaftliches Seminar, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Wien, 25.6.15

Autor: Mag. Christina Lechner