Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom ist eine Störung, die nicht auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt ist. Häufige Konfliktfelder erwachsener ADHS-Patienten sind Substanzmissbrauch, Probleme mit Partnerschaft und Sexualität sowie Delinquenz.

Der zunehmenden Beschäftigung der Erwachsenenpsychiatrie mit dem ADHS trägt auch das DSM-5 Rechnung. So wurde etwa in der neuesten Auflage des diagnostischen und statistischen Leitfadens psychischer Störungen das Alterskriterium für die Erstmanifestation von ADHS-Symptomen vom siebenten auf das zwölfte Lebensjahr angehoben. Gleich geblieben ist im aktuellen Klassifikationssystem die Unterscheidung von drei ADHS-Typen: Der unaufmerksame Typ begegnet einem im Alltag als Tagträumer, Chaot oder desorganisierter Mensch.

Beim zweiten Typ stehen Überaktivität und Impulsivität im Vordergrund. Für beide Typen werden je neun Kernsymptome beschrieben, von denen für die Diagnose mindestens sechs vorhanden sein müssen. Der ADHS-Mischtyp zeigt Auffälligkeiten in allen drei Kernsymptombereichen. Neu im DSM-5 ist, dass die Zahl der für die Diagnose erforderlichen Symptome für Patienten ab 17 Jahren von sechs auf fünf reduziert wurde. Zusätzlich werden die im DSM-IV beschriebenen Kernsymptome noch um Kriterien, die in der Erwachsenenwelt stärker von Belang sind, ergänzt: „Als ADHS-Symptom gilt nun nicht mehr nur die die Unfähigkeit, in der Schule ruhig sitzen zu können, sondern auch Rastlosigkeit im Büro oder an anderen Arbeitsplätzen“, erklärt OA Dr. Wolfgang Kaschnitz, Klinische Abteilung für Allgemeine Pädiatrie, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Graz.

Man weiß heute, dass in der Ätiologie des ADHS verschiedene neurobiologische Prozesse zusammenspielen. Eine wichtige Rolle spielen strukturell und funktionell veränderte Hirnregionen, insbesondere der präfrontale Cortex (unter anderem zuständig für Aufmerksamkeit und Handlungsplanung) und der vordere Bereich des Gyrus cinguli (reguliert Verarbeitung von Emotionen und Impulsivität). Die Tatsache, dass auch die Neurotransmittersysteme von den Veränderungen betroffen sind, bietet die Möglichkeit, hier auch psychopharmakologisch intervenieren zu können. Zu den bildgebenden Verfahren, in denen sich die veränderte Neurobiologie widerspiegelt, zählt die funktionelle Magnetresonanztomographie: Werden gesunden Kindern Aufgaben gestellt, bei denen es um die emotionale Verarbeitung von Entscheidungen geht, sieht man im fMRI eine massive Erregung dopaminerger Zentren im vorderen Gyrus cinguli. Bei ADHSKindern bleibt eine vergleichbare Aktivierung weitgehend aus.

Wandel der Symptome

Im Kindergartenalter sind das Hauptproblem noch die klassischen Kernsymptome. Eltern berichten über Schwierigkeiten in sozialen Systemen, Beziehungsprobleme mit Gleichaltrigen, Konflikte mit Pädagoginnen und teilweise aggressive Verhaltensweisen. In der Schule können betroffene Kinder häufig die erwarteten Leistungen nicht erbringen, dazu kommen soziale Probleme, die meist in der Pubertät kulminieren. Bei jugendlichen ADHSPatienten zeichnen sich dann mit beginnendem Substanzmissbrauch und ersten Verkehrsdelikten bereits die Probleme im Alltag ab, die vielfach dann auch noch das Erwachsenenalter bestimmen.

Substanzmissbrauch

Die hohe Komorbidität von ADHS und Suchtverhalten zeigt sich eindrucksvoll in den Untersuchungen von Joseph Biederman: Der amerikanische ADHS-Experte fand bei Jugendlichen mit unbehandeltem ADHS eine im Vergleich zu einer gleichaltrigen Kontrollgruppe mehr als dreimal so hohe Rate von Substanzmissbrauch (33 vs. 10 Prozent). Zugleich ist dieses Problem aber auch ein gutes Beispiel für die Effektivität der Therapie: Wurden die Jugendlichen mit Stimulantien behandelt, sank das Risiko für eine Suchtentwicklung auf 13 Prozent.

„Besonders groß ist die Gefahr eines illegalen Drogenkonsums, wenn noch zusätzliche Komorbiditäten, wie eine Sozialverhaltensstörung in der Kindheit oder eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, vorliegen“, berichtet Kaschnitz. Zu den bevorzugten Drogen gehören Marihuana, Stimulantien, Kokain und Halluzinogene. Eine wichtige Rolle dürfte in diesem Zusammenhang die Tatsache spielen, dass diese Substanzen bei ADHS-Patienten oft eine andere Wirkung haben als bei Gesunden. Betroffene erfahren durch den Drogenkonsum eher eine Beruhigung, ein „Herunterkommen“.

„Man kann den Substanzmissbrauch daher auch als eine Art Selbsttherapie sehen“, so der Grazer Kinder- und Jugendpsychiater. Ähnliches gilt für Nikotin, das bei ADHS ebenfalls beruhigend und entspannend wirkt. Gefährdet sind daher vor allem Patienten, bei denen die Hyperaktivität im Vordergrund steht. Problematisch ist in vielen Fällen auch der Alkoholkonsum, der bei Jugendlichen mit ADHS im Schnitt wesentlich früher beginnt und deutlich exzessiver ist. Erklärbar ist das unter anderem durch die zum Störungsbild gehörende Impulsivität. Die Langzeitfolgen können fatal sein: Epidemiologische Daten zeigen, dass mindestens 20 Prozent der Alkoholkranken ein manifestes ADHS haben.

Partnerschaft und Sexualität

Die Impulskontrollstörung und die mangelnde Fähigkeit, sich längere Zeit einer Sache oder einem anderen Menschen widmen zu können, sind nicht die allerbeste Voraussetzung für eine Partnerschaft. Beziehungsprobleme können auch dadurch entstehen, dass ein ADHS Auswirkungen auf die Sexualität der Patienten haben kann. Sex dient häufig dem Spannungsabbau und wird zur Stabilisierung des emotionalen Gleichgewichts eingesetzt. Die vielfach beobachtbare Hypersexualität korreliert weniger mit der Hyperaktivität als mit dem reduzierten Selbstwertgefühl, unter dem viele Betroffene leiden.

Aus der Literatur ist bekannt, dass Menschen mit ADHS nicht nur früher mit sexueller Aktivität beginnen, sondern ihre Sexualpartner auch dreimal häufiger wechseln. Da Verhütung oft ausgeblendet wird, gibt es in den Beziehungen eine hohe Rate an unerwünschten Schwangerschaften, zugleich auch eine erhöhte Inzidenz von sexuell übertragbaren Krankheiten. Kaschnitz hebt jedoch hervor, dass ein ADHS für Partnerschaften nicht nur eine Belastung sein kann: „Vielfach findet man eine deutlich größere Offenheit gegenüber anderen. Menschen mit ADHS akzeptieren häufiger auch Partner, die nicht unbedingt den gängigen Normen und Idealen entsprechen.“

Delinquenz

Die explosive Mischung von Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, Beziehungsproblemen, Substanzmissbrauch und Impulsivität erklärt, warum jugendliche und erwachsene ADHS-Patienten dreimal häufiger mit dem Gesetz in Konflikt geraten als gesunde Vergleichsgruppen. Oft bleibt es nicht bei den klassischen Vorstrafen Jugendlicher wie Alkohol am Steuer und Körperverletzung im Zuge eines Raufhandels. Untersuchungen in den USA kamen zu dem Ergebnis, dass jeder vierte Gefängnisinsasse unter einem diagnostizierten ADHS leidet.

Dabei dürfte es noch eine hohe Dunkelziffer geben: Im Jahr 2000 ergab eine Studie, dass sogar 50 bis 80 Prozent der Strafgefangenen deutliche Symptome eines ADHS aufweisen. Hier sieht Kaschnitz noch einen erheblichen Mangel an Problembewusstsein bei den Verantwortlichen: „Es wäre sicher sinnvoll, diese Menschen genauer zu untersuchen, damit ihnen auch die therapeutischen Möglichkeiten, die wir heute für die Behandlung des ADHS haben, zur Verfügung gestellt werden können.“

„ADHS – Auf- und Erregung ein ganzes Leben lang“, 11. Grazer Psychiatrisch- Psychosomatische Tagung, Graz, 22.1.16

Von Mag. Dr. Rüdiger Höflechner