Ist es vertretbar, pharmakologisch wirksame Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung einzusetzen? Orientierungshilfen aus Sicht von Psychiatrie, Psychologie und Philosophie lieferte eine vom Alumni Club der MedUni Wien veranstaltete Podiumsdiskussion.

Uralt ist der Traum der Menschheit, durch die Einnahme bestimmter Substanzen oder neuerdings auch durch technische Tricks die Fähigkeiten unseres Gehirn zu optimieren: Kann es mittels Neuro-Enhancement (auch: Neurocognitive Enhancement) gelingen, praktisch im Schlaf zu lernen, mit Leichtigkeit Projekte zu entwickeln oder zu bahnbrechenden Forschungsergebnissen zu gelangen? Das Thema wird aktuell europaweit als so bedeutsam eingeschätzt, dass die EU-Kommission in ihrem 7. Rahmenprogramm das Forschungsprojekt NERRI (Neuro-Enhancement: Responsible Research and Innovation) finanziert. Forschung und Innovation in Zusammenhang mit den als „Hirndoping“ bezeichneten Möglichkeiten sollen damit in „ethisch akzeptable und sozial erwünschte Richtungen führen“ (www.nerri.eu).

„Europaweit sind wir nun dabei, die Debatte über Neurocognitive Enhancement zu erfassen“, erklärt dazu Assoc.-Prof. Mag Dr. Nicole Kronberger von der Abteilung Sozial- und Wirtschaftspsychologie der Johannes- Kepler-Universität Linz und eine der heimischen Forscherinnen und Forscher, die sich im Projekt NERRI engagieren. Auf die Frage, was Neurocognitive Enhancement so verführerisch macht, meint Kronberger: „Lebensstilfaktoren wie ausreichend Schlaf oder gesunde Ernährung wirken sich erwiesenermaßen günstig auf die Hirnfunktion aus. Allerdings wirken Lebensstiländerungen nicht auf Knopfdruck, was Neuro-Enhancement allerdings verspricht.“

Selbstoptimierer, Mutmacher

Im Prinzip gibt es zwei grundlegende Motive für Neuro-Enhancement: „Da gibt es eine Gruppe von Personen, die sich gewissermaßen selbst optimieren und das Beste aus sich herausholen möchten. Eine zweite Gruppe macht Neuro-Enhancement eher aus einer defensiven Haltung heraus und setzt es ein, um sich angesichts schwieriger Aufgaben Mut zu machen“, erklärt Kronberger. Werbestrategien für Neuro-Enhancement im World Wide Web zielen auch in diese Richtung und machen etwa glaubhaft, dass es Grund dafür gäbe, auf die Erhöhung der Leistungsanforderungen in Schule, Studium und Beruf entsprechend zu reagieren. Schüler und Studierende sollen demnach ebenso von verbesserten Konzentrations- und Gedächtnisleistungen profitieren wie Manager oder Schichtarbeiter.

Konkrete Ergebnisse zu Anwendung und Einstellungen in Bezug auf Neuro- Enhancement liefern zwei aktuelle Untersuchungen an Schweizer Studierenden, die von der Universität Basel in Zusammenarbeit mit dem Institut für Suchtforschung der Universität Zürich durchgeführt wurden. Jeder Fünfte gibt dabei an, bereits einmal gezielt „Hirndoping“ eingesetzt zu haben, einen regelmäßigen Konsum von beispielsweise Methylphenidat vor Prüfungen geben jedoch nur ein Prozent jener zu, die den ausgesandten Fragebogen retourniert haben. „Die Studierenden ziehen in ihren Einstellungen zudem eine deutliche Grenze: Wenn jemand Amphetamin-artige Substanzen als Selbstmedikation einsetzt, so wird dies abgelehnt. Werden sie dagegen per Rezept verordnet, dann wird es akzeptiert“, berichtet Univ.-Prof. Dr. Matthias Liechti, leitender Arzt an der Abteilung für Klinische Pharmakologie und Toxikologie am Universitätsspital Basel.

Die Studierenden ziehen zudem eine klare Grenze zwischen kompetitiven und nicht kompetitiven Situationen: „Wenn es darum geht, als Team etwas zu erreichen, dann wird Neurocognitive Enhancement eher akzeptiert als in Wettbewerbssituationen.“ Unter Hirndoping, so Liechti, werden übrigens nicht nur Substanzen zur Erhöhung der Aufmerksamkeit wie Methylphenidat oder Modafinil hinzugerechnet, sondern auch jene, die es leichter machen, sich nach einem anstrengenden Tag wieder zu entspannen – und da ist Alkohol der Renner“, so Liechti. „Im Prinzip braucht der ausgeschlafene und intelligente Student aber sicher kein Neuro-Enhancement.“

Auf die Schwierigkeit der exakten Grenzziehung zwischen „gesund“ und „krank“ verweist jedoch Univ.- Prof. Dr. Matthäus Willeit von der Klinischen Abteilung für Biologische Psychiatrie an der MedUni Wien: „Gerade bei ADHS haben wir es mit einer Gauß´schen Verteilungskurve zu tun. Erwiesenermaßen profitieren Kinder und Erwachsene mit der Diagnose ADHS von einer Behandlung mit Methylphenidat.“ Auf die Frage nach möglichen Risiken einer Selbstmedikation im Sinne von Hirndoping meint Willeit: „Mit Sicherheit kann die Einnahme von sogenannten Weckaminen oder auch Alkohol das Risiko für spätere Suchterkrankungen erhöhen. Von Patienten mit ADHS wissen wir allerdings, dass es das spätere Suchtrisiko senkt, wenn sie rechtzeitig medikamentös behandelt werden.“

Willeit bringt zudem einen weiteren Warnhinweis zum Neuro-Enhancement hervor: „Wenn alle danach trachten, ihre Gedächtnisleistungen zu optimieren, kann dies auch Nebenwirkungen haben. Von Personen mit per se sehr guten Gedächtnisleistungen wissen wir beispielsweise, dass sie zu depressiven Verstimmungen neigen – es stellt sich also die Frage, ob wir das wirklich wollen.“ Wie sehr die Wirksamkeit von Hirndoping mit den darauf ausgerichteten Erwartungshaltungen verknüpft ist, weiß Univ.-Prof. Dr. Christoph Eisenegger als Leiter der Abteilung für Neuropsychopharmakologie und Biopsychologie am Institut für Psychologische Grundlagenforschung der Universität Wien.

„Von Modafinil heißt es, es kann zu längerer Wachheit verhelfen, in doppelblinden Untersuchungen ist dieser Effekt aber nicht sehr stark ausgeprägt.“ Ähnliches kennt Eisenegger von Untersuchungen mit Testosteron, das bis vor Kurzem in Zusammenhang mit aggressivem Verhalten stand. „In Studien zum Sozialverhalten zeigt sich, dass sich eher jene Personen asozial verhielten, die glaubten, sie hätten Testosteron bekommen. Jene dagegen, die tatsächlich Testosteron bekamen und es nicht wussten, wurden kooperativer.“ Die Frage, wie in einer auf Leistung, Ausdauer und Erfolg ausgerichteten Gesellschaft Neuro-Enhancement zu bewerten ist, lässt sich aus heutiger Sicht noch nicht eindeutig beantworten.

„Wir als die Gesellschaft sind aufgerufen, technische Entwicklungen zu begreifen, nicht als Selbstläufer zu verstehen und sich auch zu widersetzen“, meint dazu Univ.-Prof. Dr. Mona Singer, die sich am Institut für Philosophie der Universität Wien auf die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen im Kontext von Wissenschaft und Technologie spezialisiert hat. Phänomene wie die Bewerbung von Neuro-Enhancement im Internet müssten kritisch wahrgenommen werden, so Singer: sie führen schließlich dazu, dass nicht mehr über den „Wert“ von Leistung diskutiert werde, sondern Leistung selbst in der Gesellschaft zum ausschlaggebenden Argument wird.

Psychopharmakologie des Neuro-Enhancements

Wie Neuro-Enhancement genau zustande kommt, ist eine noch weitgehend offene Forschungsfrage.

Neuro-Enhancement bedeutet, durch die Einnahme von legalen oder illegalen Substanzen die Leistungsfähigkeit des Gehirns zu steigern; also Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisleistungen zu verbessern, erklärt Univ.-Prof. Dr. Harald Sitte, Professor für Psychopharmakologie am Institut für Pharmakologie der MedUni Wien und Präsident des AlumniClubs. „Neuro- Enhancement bedeutet, dass Gesunde Medikamente einnehmen, die zum Teil bei Erkrankungen indiziert sind. Wir gehen davon aus, dass die Wirkung dieser Substanzen auf kranke und auf gesunde Menschen nicht vollständig vergleichbar ist“, betont Sitte.

Die Palette der verwendeten Substanzen reicht von Koffein über Amphetaminartige Substanzen (Modafinil, Methlyphenidat) bis hin zu Betablockern, Antidementiva oder Antidepressiva. Sitte warnt in diesem Zusammenhang allerdings vor einem Umkehrschluss: „Keinesfalls dürften Menschen mit Depressionen oder ADHS in den Ruf gelangen, lediglich Neuro-Enhancement zu betreiben.“ Beworben und vertrieben werden Substanzen zum Neuro-Enhancement über meist fragwürdige Quellen im Internet.

Komplexe neurobiologische Mechanismen

Wie genau Neuro-Enhancement auf neurobiologischer Ebene zustande kommt, ist eine derzeit noch weitgehend offene Forschungsfrage. „Sicher spielt das dopaminerge aber auch das serotonerge System dabei eine Rolle. Die genaue Abstimmung dieser beiden Systeme kann auch den Ausschlag geben, ob es zu verbesserten kognitiven Leistungen oder zur Entwicklung von Suchtmechanismen kommt“, betont Sitte gegenüber CliniCum neuropsy. „Beim Neuro- Enhancement spielt zudem sicher auch das noradrenerge System eine Rolle, das zur Erhöhung der Aufmerksamkeit oder Wachheit beiträgt.“ Trotz des weltweiten Hypes um Neuro-Enhancement glaubt Sitte allerdings nicht, dass es in Österreich in absehbarer Zeit zu einem Boom kommen könnte: „Solange es keine bahnbrechende pharmakologischen Entwicklungen auf diesem Gebiet gibt, rechne ich nicht damit, dass die Nachfrage stark steigen wird. Die vorherrschende Einstellung in Österreich dürfte ähnlich vorsichtig sein wie in der Schweiz, wo die Befragung von Studierenden gezeigt hat, dass doch eine Trennlinie zwischen Therapie und Enhancement gezogen wird.“

Alumni-Standpunkt Neurocognitive Enhancement: Leistungssteigerung durch Gehirndoping – Chance oder Fluch?, Wien, 2.3.16

Von Mag. Christina Lechner