Therapierichtlinien bieten eine wertvolle Orientierung bei der Therapieentscheidung. Doch an welcher der verschiedenen Guidelines sollten Behandler sich orientieren? (CliniCum neuropsy 2/17)

Es sei höchst an der Zeit, die unterschiedlichen „Guidelines“ für bipolare Störungen zu einer internationalen Therapierichtlinie zusammenzufassen, betont die spanische Psychi aterin Dr. Iria Grande von der Abteilung für Bipolare Erkrankungen/ Klinisches Institut für Neurowissenschaften an der Universität von Barcelona. Bei einem Vortrag an der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie richtete sie kürzlich den Fokus auf Stärken und Schwächen von Therapierichtlinien. „Guidelines fassen die aktuelle Evidenz zu einer Erkrankung zusammen und geben uns wichtige Anhaltspunkte für die Therapieentscheidung. Keinesfalls ersetzen sie jedoch klinisches Wissen oder entbinden die Behandler von der Verantwortung für die Wahl der Therapie.“ Die meisten der heute zur Verfügung stehenden Therapierichtlinien legen ihr Augenmerk auf die psychopharmakologische Behandlung, zunehmend werden jedoch auch psychologische Therapien berücksichtigt. Guide lines, so Grande, tragen zudem zur Qualitätssicherung bei und liefern nicht zuletzt auch den Sozialversicherungen in den jeweiligen Ländern eine Orientierungshilfe für die Kostenübernahmen einer Behandlung.

Stärken und Schwächen

So liegen für bipolare Störungen heute etliche Richtlinien vor, darunter jene des Canadian Network for Mood and Anxiety Treatment (CANMET, 2013), der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP, 2010) oder des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE, 2016). „Bei letzterer Richtlinie gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass sie ohne jegliche psychiatrische Expertise erstellt wurde“, ergänzt o. Univ.-Prof. Dr.h.c.mult. Dr. Siegfried Kasper, Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Wien. Die derzeit aktuellste Leitlinie für die Behandlung bipolarer Störungen ist jene des International College of Neuropsychopharmacology (CINP), die zu Beginn 2017 veröffentlicht wurde.

„Es ist eine gut lesbare, übersichtliche und zugleich praxistaugliche Leitlinie“, meint Grande. Einen Pluspunkt der CINP-Richtlinie ortet Grande darin, dass sie den unterschiedlichen Verlaufsformen bipolarer Störungen gut gerecht wird und auch Hinweise zur Risikoabschätzung enthält. „In der Praxis heißt es für uns als behandelnde Ärzte, in akuten Phasen etwaige Gewaltbereitschaft, Suizidalität und die Notwendigkeit einer Hospitalisierung zu berücksichtigen. Wir raten unseren Patienten auch stets, in akuten Phasen keine wichtigen Entscheidungen zu treffen, da die Problemlösekompetenz deutlich beeinträchtigt ist.“ Speziell bei bipolaren Störungen ist bereits mit der Erstdiagnose auch die Langzeittherapie zu berücksichtigen. „Einige für die Behandlung akuter Phasen eingesetzte Substanzen eignen sich gut für die Langzeitbehandlung, die in vielen Fällen lebensbegleitend sein muss.

Es bedeutet sicher eine Herausforderung, den Patienten dies entsprechend zu vermitteln und ihre Kooperation zu fördern.“ In vielen Fällen sind zudem Kombinationstherapien erforderlich, etwa ein Antipsychotikum plus ein Stimmungsstabilisierer, wobei für die Wahl der am besten geeigneten Kombination über die Leitlinie hinaus viel klinische Erfahrung gefordert ist. Dass Richtlinien zudem Hinweise auf als selbstverständlich anzusehende Therapiemaßnahmen enthalten – etwa jenen, in einer manischen Episode Antidepressiva abzusetzen –, hat laut Grande guten Grund: „Fakt ist, dass bis zu einem Drittel der Patienten in manischen Phasen weiterhin Antidepressiva einnehmen.“ Die CINP Leitlinien gehen zudem in abgestufter Form auch auf „Reserve-Therapien“ wie die Elektrokrampftherapie ein, die auf der letzten Ebene der Empfehlungsgrade angeführt wird.

Warnhinweise

Grande und Kasper führen in der Diskussion auch wichtige Warnhinweise für die Nutzung von Leitlinien an: So beruht die Gewichtung einzelner Psychopharmaka auch in der CINP-Leitlinie zum Teil nur auf indirekten Vergleichen und nicht auf direkten Vergleichsstudien, wie Kasper betont. „Solche Vergleiche sind nicht zulässig.“ Einige Richtlinien wie jene der British Association of Psychopharmacology (BAP) führen auch Netzwerkanalysen an, in der Substanzen nach Effektivität und Akzeptabilität gereiht werden. „Dazu wurden allerdings nur einzelne Studienparameter wie der Wirksamkeitsnachweis berücksichtigt und etwa nicht die Studienabbrüche aufgrund von Nebenwirkungen, sodass es zu verzerrten Darstellungen kommt“, ergänzt Kasper. Die internationale Diskussion über derartige Netzwerkanalysen sei also ebenso dringlich wie die Forderung nach einer gemeinsamen Leitlinie. Als oberstes Gebot gilt jedoch, die Unabhängigkeit der Therapieentscheidung zu wahren, resümieren Grande und Kasper.

„Guidelines for Bipolar Disorder“, Wissenschaftliches Seminar, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Wien, 9.3.17

Von Mag. Christina Lechner