Ketamin steht gegenwärtig als Behandlung abseits der Zulassung als antidepressive Wirksubstanz in stationär psychiatrischen Settings zur Verfügung. Bei der Ketaminbehandlung ist auf äußerste Sorgfalt zu achten. (CliniCum neuropsy 4/17)

Klinische Studien hatten in den letzten Jahren einen relevanten raschen antidepresssiven und antisuizidalen Effekt von niedrigdosiertem Ketamin gezeigt. Bei einer subanästhetischen Dosis, welche über Kurzinfusionen intravenös verabreicht wird, resultieren bei einer Mehrzahl (je nach Studie zwischen 50 bis 80 Prozent) der Patienten signifikante Reduktionen von depressiven Symptomen innerhalb weniger Stunden nach Gabe. Dieser Effekt hält jedoch nur wenige Tage an, sodass bei Respondern wiederholte Gaben angedacht werden können. Bisher liegen jedoch keine ausreichenden Daten über Langzeitanwendung von Ketamin vor, auch besteht keine Zulassung als Antidepressivum, sodass die Gabe als Off-label-Therapie durchgeführt werden muss. Die notwendige wissenschaftliche Basis für eine zulassungsüberschreitende Anwendung als Antidepressivum, die Verabreichungsmethoden sowie ethische und rechtliche Aspekte werden im folgenden Artikel präsentiert.

Bisherige Anwendungen

Ketamin wurde erstmals 1962 von Calvin Stevens bei der amerikanischen pharmazeutischen Firma Parke-Davis synthetisiert. Das Ziel war, ein Anästhetikum mit weniger Nebenwirkungen als Phencyclidin (PCP) zu synthetisieren. Zur breiten Anwendung kam es in Folge im Vietnamkrieg, wobei Ketamin nicht zuletzt wegen der kaum atemdepressiven, aber signifikanten schmerzstillenden Wirkung als i.m. Narkosemittel verwendet wurde Seit ca.1970 wurde Ketamin auch als Rauschdroge, v.a. wegen der halluzinogenen Wirkung, missbraucht, sodass es 1999 als „Class-III-drug“ in den USA als kontrollierte Substanz eingestuft wurde. In Österreich ist Ketamin kein Suchtgift. Sowohl PCP („angel dust“) als auch Ketamin („Special-K“) werden von substanzabhängigen Patienten als Halluzinogen missbraucht.

Nach einer australischen Studie hatten ca. 40 Prozent aller Konsumenten von sogenannten Partydrogen, z.B. bei einschlägigen Musikfestivals, Ketamin probiert. Zunahmen des Missbrauches werden weltweit registriert. In der Medizin wird Ketamin primär als Anästhetikum (ca. 1–4,5mg/kg KG Einleitung der Narkose, 1–2mg/min Aufrechterhaltung) und in der Notfallmedizin in der klinischen Routine häufig verwendet. Weitere Einsatzgebiete findet Ketamin in der schmerztherapeutischen Behandlung, wobei hier ebenfalls eine „Off-Label“-Behandlung durchgeführt wird. Die antidepressiven Dosen liegen mit 0,5– 1mg/kg KG deutlich unter den anästhetischen. Höhere Dosen haben sich bisher nicht als effektiver in der Depressionsbehandlung erwiesen. Dies lässt sich auch bei Ketaminnarkose beobachten, so führt diese in Kombination mit EKT nicht zu einer besseren antidepressiven Wirkung.

Die Hauptwirkungen von Ketamin lassen sich am besten als dissoziativ, analgetisch und narkotisch beschreiben, somit ist es ein dissoziatives Anästhetikum. Weiters ist ein psychotomimetischer Effekt beschrieben, bei dem im dissoziierten Dämmerungszustand psychoseähnliche Symptome wie (meist optische) Halluzinationen, Verlust der Raum- und Zeitwahrnehmung und reversible Kurzzeitgedächtnisreduktion auftreten können. Mit Ende der Ketamininfusion sind diese Symptome rasch und nach bisheriger Studienlage vollständig reversibel.

Antidepressive Wirkung

Die intensive Erforschung antidepressiver Eigenschaften von Ketamin und erste systematische klinische Studien gehen auf Psychiater aus den USA rund um John Krystal (Yale) und Carlos Zarate (National Institute of Mental Health) und andere zurück. Im Jahr 2000 wurde, ausgehend von Arbeiten in Tiermodellen zu Stress und Depression, erstmalig eine rasche antidepressive Wirkung beschrieben, welche mittlerweile in über zehn klinischen Studien sowie mehreren Metaanalysen bestätigt wurde. Dabei wurden signifikante Reduktionen von Depressions- Items bei Selbst- und Fremd-Rating- Skalen ca. 40 Minuten nach Gabe bis zu zwei bis sieben Tage nach Gabe gefunden. Der antidepressive Effekt wurde primär bei therapieresistenten uni- und bipolar depressiven Patienten gezeigt. Evidenz für Depression bei Persönlichkeitsstörungen bzw. Belastungsstörungen liegt derzeit nicht ausreichend vor.

Besonders erwähnenswert ist der antisuizidale Effekt von Ketamin, welcher ebenfalls rasch einsetzt und nach einigen Tagen wieder rückläufig ist. Dies wurde in Studien mit akut depressiv-suizidalen Patienten in Notaufnahmen sowie anhand Skalen zu Suizidgedanken bei depressiven Patienten nachgewiesen. Entgegen der Lehrmeinung werden in angenehmer Umgebung und mit der notwendigen Vorbereitung bei antidepressiver Dosierung kaum „bad trips“ beobachtet, gelegentlich kommt es zu phobischen Reaktionen. Häufige Nebenwirkungen können hypertone Auslenkungen, Übelkeit/ Erbrechen, Schwindel und Sehstörungen sein. Depressive Patienten beschreiben während Ketamingabe eine oft als angenehm erlebte Spannungsreduktion, welche mit einer Grübelreduktion einhergeht, sowie kurzfristige Stimmungsauslenkungungen in euthyme oder teilweise euphorische Bereiche.

Pharmakologie

Ketamin besitzt antagonistische Eigenschaften an N-Methyl-D-Aspartat-( NMDA)-Rezeptoren, welche für viele der pharmakologischen Wirkungen verantwortlich gemacht werden. Die Wirkmechanismen scheinen jedoch komplexer zu sein, da ebenfalls Bindungsaffinitäten an Serotonin- und Dopamintransporter sowie Opioidrezeptoren, Glutamatrezeptoren wie AMPA-Rezeptor (α-amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolepropionic acid receptor) gefunden wurden. Der aktive Metabolit der R-Isoform-(2R, 6R)-hydroxynorketamine scheint, zumindest im Tiermodell, über AMPA-Rezeptoren ebenfalls Antidepressiva-ähnliche Wirkung zu zeigen. Antidepressive Wirkungen sind zwar von anderen NMDA-Rezeptor-affinen Substanzen wie z.B. d-Cycloserin (partieller Agonist an der Glyzin-Bindungsstelle) bekannt, und einige potenziell wirksame Substanzen mit primärer Wirkung am NMDA-Rezeptor oder anderen glutamatergen Strukturen befinden sich in Entwicklung, jedoch bleiben alle bisher in Potenz der Wirkung Ketamin unterlegen.

Die meisten pharmazeutischen Produkte verwenden eine Mischung aus dem Razemat R-Ketamin und S-Ketamin, wobei für beide Substanzen antidepressive Wirkungen gezeigt wurden, in R-Ketamin jedoch primär im Tiermodell. Die Halbwertszeit beträgt 80 bis 180 Minuten, und nach Konjugation durch CYP-3A4-Enzymen wird Ketamin primär renal eliminiert. Bei reduzierter Nierenfunktion ist daher eine Dosisanpassung notwendig. Als Wirkmechanismen werden neben Rezeptor- und Transporterinteraktionen Steigerung von synaptischer Plastizität, Freisetzung von neurotrophen Faktoren (z.B. BDNF) sowie Interaktionen mit  Transkriptionsfaktoren und intrazellulären Signalwegen diskutiert. Grundlagenwissenschaftliche Studien am Menschen zeigen, dass Patienten mit geringeren Plasmaspiegel an Chemokinen oder Fibroblasten-Wachstumsfaktoren (FGF-2), erstgradig Verwandten mit Alkoholabhängigkeit oder hoher Angstkomponente besser auf Ketamin ansprechen. Ein Screeninginstrument für erfolgreiche Ketamintherapie ist aktuell nicht vorhanden. Funktionelle Bildgebungsstudien unter Ketamintherapie zeigen, dass Ketamin in die Verbindungsstärke von thalamo-corticalen Netzwerken, welche bei schwerer Depression verändert ist, modulierend eingreift.

„Off-Label-Use“

Antidepressive Therapie mit Ketamin ist eine zulassungsüberschreitende Anwendung („Off-Label-Use“). Die rasch einsetzende antidepressive und antisuizidale Wirkung von Ketamin hat dazu geführt, dass die intravenöse Ketamintherapie weltweit in klinischen Routine als „Off-Label-Use“ eingesetzt wurde. Eine Zulassung für Ketamin als Antidepressivum bei therapieresistenter Depression wird derzeit von Forschungsgruppen in Zusammenarbeit mit pharmazeutischen Unternehmen bei der FDA in den USA angestrebt. Sofern dies noch nicht erfolgt ist, sind für rechtlich und medizinisch sicheren „Off-Label-Use“ einige Voraussetzungen zu beachten. Erstens müssen Patienten über die geplante „Off-Label“-Behandlung mündlich und schriftlich aufgeklärt werden und in Form einer Einverständniserklärung zustimmen. Der Behandlungsverlauf sowie die Krankengeschichte sollten so gut dokumentiert sein, sodass bei etwaigen Komplikationen ein externer Prüfer Indikationsstellung, Einverständniserklärung, Gabe und Überwachung des Therapieansprechens ausreichend nachvollziehen kann.

Grundsätzlich ist eine „Off- Label“-Behandlung unter genau definierten Rahmenbedingungen ethisch und rechtlich rechtfertigbar. So ist einem Urteil des Deutschen Bundessozialgerichts nach ein „Off-Label-Use“ angezeigt, wenn eine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt, keine andere Behandlung verfügbar ist und eine begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht. Als therapieresistente Depression lassen sich Patienten diagnostizieren, die auf mindestens zwei Antidepressiva in zwei unabhängigen, aufeinanderfolgende Gaben in ausreichender Dauer und Dosierung nicht ansprechen. Darüber hinaus sollten auch andere Behandlungsmodalitäten wie elektrokonvulsive Therapie (EKT), transkranielle Magnetstimulation (TMS) oder Psychotherapie ausgeschöpft sein.

Diese Erkrankungskonstellation, mit ca. fünf bis 15 Prozent Häufigkeit aller Depressionsverläufen, ist hinsichtlich Morbidität und Mortalität mit einer onkologischen Erkrankung gleichzusetzen. Daher ist das Schweregradkriterium bei sorgfältiger Indikationsstellung gegeben. „Off-Label“-Behandlung durch Ketamin sollte nicht first-line sein, das heißt, es muss gut dokumentierte, erfolglose vorhergehende Behandlungen geben. Zuletzt ist bei diesen Patienten mittlerweile ausreichend positive Literatur vorhanden, sodass ein Therapieversuch auch medizinisch fachfremden Personen (z.B. Richter) rechtfertigbar ist. Ein vorsichtiges Vorgehen der behandelnden Ärzte und die sorgfältige Dokumentation ist demnach im Zweifelsfall ein Vorteil „vor dem Richter“. Die Autoren haben zur Unterstützung der „Off-Label“- Behandlung einen Leitfaden zur Ketamingabe entwickelt (siehe Abbildung). Ein „Informed Consent“-Formular ist bei den Autoren erhältlich. Grundsätzlich ist eine „Off-Label“- Ketaminbehandlung aktuell ausschließlich in stationären psychiatrischen Settings bei therapieresistenten uni- oder bipolaren Patienten zu befürworten. Dies ergibt sich aus der bestehenden Studienliteratur.

Über Ansprechraten bei begleitender Depression bei Persönlichkeitsstörungen, Belastungsstörungen oder schizoaffektiver Depression ist nichts bekannt. Daher sollte Ketamin in diesem Patientenkollektiv nicht angewendet werden. Auch Anwendungen bei psychiatrischen Patienten durch andere Fachrichtungen bzw. ambulante Anwendungen sind nach aktuellem Wissenstand nicht empfehlenswert. Mittlerweile hat sich weltweit ein Trend von sogenannten „Ketaminkliniken“ entwickelt. Diese sind ambulante Institutionen, die zwar von Ärzten betrieben werden, wo jedoch auf die Sorgfalt der Indikationsstellung möglicherweise aus verschiedensten Gründen weniger genau geachtet wird. Durch unsorgfältige Indikationsstellung kann ein potenzielles Abhängigkeitspotenzial von Ketamin gefördert werden, welches bisher von Fallberichten bekannt ist. Dieses ist in Anbetracht der Schwere der Erkrankung therapieresistenter Patienten im Sinn einer Gefahren-Nutzen-Abwägung sorgfältig zu prüfen, und ähnlich wie bei Schmerztherapie mit Opiaten bzw. anxiolytischer Therapie mit Benzodiazepinen im klinischen Setting zu handhaben.

Zusammenfassung & Aussicht

Ketamin steht als Behandlung gegenwärtig abseits der Zulassung als antidepressive Wirksubstanz bei therapieresistenter uni- bzw. bipolarer Depression in stationär psychiatrischen Settings zur Verfügung. Bei einer Ketaminbehandlung ist bei Indikation, Gabe und Überwachung des Therapieerfolges auf besondere Kriterien sowie auf äußerste Sorgfalt zu achten. Ketamin könnte in absehbarer Zeit als Antidepressivum bei therapieresistenter Depression die Zulassung erhalten und das bestehende Behandlungsrepertoire ergänzen. Durch therapeutisch bisher nicht genutzte Wirkmechanismen im glutamatergen System hat sowohl die akademische Grundlagenwissenschaft als auch die pharmazeutische Industrie begonnen, dieses komplexe Neurotransmittersystem auf neue Wirkstoffe zu untersuchen. Hierbei könnten nach weiterer erfolgreicher Entwicklung neue antidepressiv wirksame Substanzen im glutamatergen System zur Verfügung stehen.

Literatur sowie Einwilligungsformular beim Autor: christoph.kraus@ meduniwien.ac.at 

Dr. Christoph Kraus, PhD, Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Rupert Lanzenberger , O. Univ.-Prof. Dr.h.c.mult. Dr. Siegfried Kasper (v.l.n.r.) Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien E-Mail: christoph.kraus@meduniwien.ac.at