Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Seniorprofessor für Klinische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Essen, präsentierte die aus seiner Sicht interessantesten Studien der vergangenen Monate; eine Auswahl. (CliniCum neuropsy 5/17)

Zu den zentralen Themen, die Neurologen gegenwärtig beschäftigen, zählt die Prävention von Demenzerkrankungen. Hier zeigen sich, so Diener, die Risiken einer verkehrsgünstigen Wohnlage. Denn laut einer im „Lancet“ publizierten Studie erhöht die Nähe zu stark befahrenen Straßen das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, signifikant. Dies trifft jedoch für Morbus Parkinson und Multiple Sklerose nicht zu. Die Erhebung war aufgrund der ausgezeichneten Register der kanadischen Stadt Ontario möglich.1 Diener: „Eine Kohortenstudie liefert natürlich keine Kausalität, aber diese Arbeit sollte schon nahelegen, dass es nicht nur um die Lunge geht, wenn wir von Luftqualität und Abgasen reden.“ Durchaus heftig geführt wird gegenwärtig die Diskussion um eine mögliche Erhöhung des Demenzrisikos durch Protonenpumpen-Inhibitoren.

Den Anlass dazu lieferte eine prominent publizierte Arbeit, die bei Personen, die PPIs einnahmen, vermehrt Demenzen fand und zu dem Schluss gelangte, dass der Verzicht auf den PPI das Demenzrisiko senken könne.2 Diener bezeichnet die Studie jedoch als methodisch angreifbar. Man habe einfach Inzidenzen verglichen, ohne Risikofaktoren zu berücksichtigen oder auch nur zu kennen. Die Ergebnisse wurden von der Laienpresse aufgegriffen, was zu erheblicher Irritation geführt habe. Diener: „In zwei großen, sauber durchgeführten Studien konnte diese behauptete Assoziation mittlerweile widerlegt werden. Man sieht hier vor allem, wie gefährlich es ist, aus relativ kleinen, zufällig gewählten Studienpopulationen Schlüsse zu ziehen, die Einfluss auf die Behandlung von Patienten haben.“ Eine dieser Studien ist eine aktuelle Auswertung der Nurses Health Study, in deren Rahmen regelmäßig neuropsychologische Tests durchgeführt werden.3

AK reduziert Amyloid-Plaques

Auch zur Therapie des Morbus Alzheimer wurden in den vergangenen Monaten zahlreiche Arbeiten publiziert. Diener: „Wir sehen bei Alzheimer Ablagerungen von Amyloid und Tau im Gehirn. Und bislang konzentrierten sich alle Interventionsversuche auf diese beiden Proteine. Man weiß aber auch, dass entzündliche Prozesse eine wichtige Rolle spielen und dass die Netzwerke innerhalb des Gehirns unterbrochen werden. Ich denke daher, dass in Zukunft Lebensstilmodifikation eine ganz wichtige Rolle spielen wird.“ In Richtung eines Durchbruchs könnte allerdings eine 2016 publizierte Arbeit weisen, die erstmals eine Reduktion der Amyloid-Konzentration im Gehirn durch einen Antikörper (AK) demonstrieren konnte.4 Diener: „Die Stabilisierung der Amyloid-Ablagerungen schlug sich auch in neuropsychologischen Tests nieder. Man muss allerdings darauf hinweisen, dass es sich um eine Phase-II-Studie handelt und in der Vergangenheit auf Erfolge in der Phase II nicht selten Enttäuschungen in der Phase III folgten.“

Ein Beispiel für eine solche Enttäuschung war eine Studie zum Einsatz von Methylenblau bei Patienten mit Morbus Alzheimer. Methylenblau hatte zuvor in Tierexperimenten die Aggregation von Tau reduziert. Beim Menschen konnte jedoch kein derartiger Effekt demonstriert werden.5 Einen alternativen Ansatz in der Alzheimer-Prävention wählte eine niederländische Gruppe, die versuchte, durch Modifikation vaskulärer Risikofaktoren das Demenzrisiko zu senken. Der Schwerpunkt der Intervention lag auf Bewegung. Allerdings konnte in dieser Studie kein signifikanter Effekt gezeigt werden.6 Dies müsse, so Diener, allerdings nicht bedeuten, dass Bewegung in der Demenzprävention nichts bringt: „Man  muss dazu sagen, dass in Holland generell alle Patienten mit vaskulären Erkrankungen so gut behandelt sind, dass es sehr schwierig ist, durch gezielte Interventionen noch eine Verbesserung über den Standard of Care hinaus zu erreichen.

Allerdings zeigen Subgruppenanalysen, dass auch in dieser Arbeit bei den Patienten mit vaskulären Demenzformen noch ein signifikanter Effekt der Intervention erreicht werden konnte.“ In einer randomisierten, kontrollierten Studie konnte für den Einsatz von Immunglobulinen keine Wirksamkeit bei Morbus Alzheimer gezeigt werden.7 Dieses Ergebnis sei, so Diener, zwar nicht überraschend, jedoch wichtig, da diese Behandlung ohne jede Evidenz von einigen Privatkliniken und Praxen angeboten wurde.

Immer mehr Zika-Fälle

Wichtige Neuigkeiten gibt es auch zu den Infektionen des Nervensystems. Das betrifft unter anderem den Herpes Zoster. Bislang verfügbare Impfstoffe zeigten generell wenig zufriedenstellende Wirksamkeit und blieben besonders bei älteren Patienten oft ohne Effekt. Nun steht ein neuer Impfstoff zur Verfügung, der bei Impfung nach dem 70. Lebensjahr das Risiko, einen Herpes Zoster zu entwickeln, um 89 Prozent reduziert und auch die Häufigkeit postherpetischer Neuropathien dramatisch senkt.8 Diener: „Angesichts dieser Zahlen denke ich, dass man älteren Menschen diese Impfung empfehlen sollte.“ Ein Problem, mit dem wir vermutlich in absehbarer Zeit konfrontiert werden, ist Zika, das gegenwärtig nicht nur in Südamerika, sondern vermutlich auch bereits in Asien endemisch ist. Zika verursacht eine Reihe neurologischer Komplikationen wie zum Beispiel ein akutes, periinfektiöses Guillain-Barré-Syndrom, dessen Inzidenz während Zika Epidemien in Polynesien um das 20-Fache gestiegen ist.

Auch Meningoenzephalitis kommt in seltenen Fällen vor. Die gefürchtetste Komplikation ist jedoch die Mikrozephalie des Kindes nach Infektion der Mutter während der Schwangerschaft. Diener: „In Deutschland hatten wir 2016 knapp 70 dokumentierte Fälle als Reisekrankheit. Es ist also wichtig, dass wir bei entsprechender Reiseanamnese an Zika denken.“ Vereinfacht wurde im vergangenen Jahr die Klassifikation der Epilepsie.9 Diener: „Die alte war so kompliziert, dass sie außer Epileptologen niemand mehr verstanden hat. Daher hat man nun offiziell zu einer klareren Nomenklatur gefunden, die im Wesentlichen wieder der noch älteren Klassifikation entspricht. Es gibt also wieder die bewährte Unterscheidung in fokale und generalisierte Anfälle.“

Antikonvulsiva absetzen?

Eine große Metaanalyse beschäftige sich mit der Frage, ob und unter welchen Umständen bei jahrelanger Anfallsfreiheit eine antiepileptische Therapie abgesetzt werden kann.10 „Die Kollegen haben Prädiktoren für erneute Anfälle identifiziert und ein prädiktives Modell entwickelt, in das zum Beispiel die Dauer der Erkrankung und die Zahl der eingesetzten Antikonvulsiva einfließen. Mit einem Punktescore wird dann die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass die Anfälle wiederkommen. Bei einem niedrigen Score kann man die Medikamente mit gutem Gewissen absetzen. Das geht schnell und einfach und ist ein sinnvolles Instrument, das allerdings gegenwärtig noch einmal prospektiv evaluiert wird.“ Auch neue Antiepileptika wurden in den vergangenen Jahren und Monaten untersucht. Hier bestehe, so Diener, generell das Problem, dass diese Substanzen nicht mehr gegen Placebo, sondern nur noch als Add-on untersucht werden können und man daher keine Daten und auch keine Zulassung für die Monotherapie habe.

Ein etwas anderes Design wurde für eine Phase-III-Studie mit Lacosamid gewählt, das mit retardiertem Carbamazepin verglichen wurde. In dieser Studie wurde in beiden Armen bei Nichtwirksamkeit aufdosiert. Die Studie zeigte schließlich gleiche Wirksamkeit in beiden Gruppen auf.11 Eine wichtige Studie wurde zur Therapie der tuberösen Sklerose publiziert. Everolimus greift in den molekularpathologischen Mechanismus der Krankheit ein und hat sich als klinisch wirksam erwiesen. Bei Patienten mit therapierefraktären Anfällen infolge einer tuberösen Sklerose konnte mit Everolimus eine dramatische Reduktion der Anfälle erreicht werden.12 Diener: „Everolismus ist kein Antikonvulsivum, sondern greift kausal in den Krankheitsprozess ein. Damit haben wir für diese Patienten einen völlig neuen Therapieansatz. Es ist mit dieser Studie auch erstmals der Nachweis gelungen, dass eine Substanz den epileptogenen Mechanismus einer Epilepsie günstig beeinflussen kann.“

Primäre progressive MS

Zu den am Intensivsten beforschten Gebieten der Neurologie zählt die Multiple Sklerose. Hinsichtlich der Prävention von MS wurden kürzlich Daten präsentiert, die keinen Effekt eines hohen Kochsalzkonsums nahelegen. In einem Kollektiv von Patienten mit klinisch isoliertem Symptom (CIS) wurde keine Assoziation von Natriumaufnahme und Progressionsrisiko gefunden.13 Untersucht wurde auch (basierend auf Befunden aus dem Tiermodell) die Wirksamkeit des Antibiotikums Minocyclin in der Prävention der Progression vom CIS zur MS. Hier zeigte sich signifikante Wirksamkeit nach sechs, nicht jedoch nach 24 Monaten. Diener weist auch auf die Nebenwirkungen der Therapie hin. Einen echten Durchbruch könnte hingegen die erste Studie bringen, die die Wirksamkeit einer MS-Therapie bei der primär progressiven Multiplen Sklerose zeigen konnte.

Untersucht wurde der Antikörper Ocrelizumab, der zu einer selektiven Depletion der CD20-exprimierenden B-Zellen führt. Über eine Beobachtungszeit von mehr als drei Jahren bewirkte Ocrelizumab im Vergleich zu Placebo eine signifikante Reduktion der Behinderungsprogression.14 Diener: „Es dürfte sich hier nicht nur um die erste wirksame Behandlung der primär progredienten MS handeln, sondern überhaupt um die erste Therapie, die den Krankheitsprozess modifiziert und nicht lediglich Schübe verhindert.“ Diener verweist auch auf neue Studien zu Sphingosin-1-Phosphat-1-Hemmern, die sich im Vergleich zu Fingolimod als gleich wirksam erwiesen haben. „Der Vorteil der neuen Substanzen liegt darin, dass sie keine Verlängerung der QT-Zeit bewirken. Das heißt, man muss vor Therapiebeginn kein EKG mehr machen.“

90. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Leipzig, 20.–23.9.17 

Referenzen:
1 Chen H et al., Lancet 2017; 389(10070):718–726;
2 Gomm W et al., JAMA Neurol 2016; 73(4):410–6;
3 Lochhead P et al., Gastroenterology 2017; 153(4):971-979.e4;
4 Sevigny J et al., Nature 2016; 537(7618):50–6;
5 Gauthier S et al., Lancet 2016; 388(10062):2873– 2884;
6 Moll van Charante EP et al., Lancet 2016; 388(10046):797– 805;
7 Relkin NR et al., Neurology 2017; 88(18):1768–1775;
8 Cunningham AL et al., N Engl J Med 2016; 375(11):1019–32;
9 Scheffer IE et al., Epilepsia 2017; 58(4):512–521;
10 Lamberink HJ et al., Lancet Neurol 2017; 16(7):523–531;
11 Baulac M et al., Lancet Neurol 2017; 16(1):43–54;
12 French JA et al., Lancet 2016; 388(10056):2153–2163;
13 Fitzgerald KC et al., Ann Neurol 2017; 82(1):20–29;
14 Montalban X et al., N Engl J Med 2017; 376(3):209–220

Von Reno Barth