Patienten mit Multipler Sklerose (MS) erkranken meist zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr. Da heute sehr lange Krankheitsverläufe die Regel sind, altern die meisten MS-Patienten mit ihrer Erkrankung. (CliniCum neuropsy 1/18)

In Kohorten von MS-Patienten nimmt die Behinderung mit dem Alter zu. Dies liegt, so Prof. Dr. Ruth Ann Marrie von der University of Manitoba in Kanada, einerseits am Verlauf der MS, andererseits treten jedoch auch vermehrt Komorbiditäten auf. Wie rezente Daten zeigen, betrifft dies auch in hohem Maß die kognitive Behinderung.1 Bereits zum Zeitpunkt der Diagnose sind Komorbiditäten nicht selten. Marrie verweist auf Daten aus einer kanadischen Kohorte, die Depression, Angst und Lungenerkrankungen als häufigste Komorbiditäten zum Zeitpunkt einer MS-Diagnose ausweisen. Mit zunehmendem Alter gewinnen jedoch die klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren Hypertonie, Hyperlipidämie und Diabetes Typ 2 an Bedeutung. Die Prävalenz von Depression und Angst bleibt dabei hoch. Die Komorbiditäten beeinflussen die Prognose. So zeigen Studiendaten, dass vaskuläre Komorbidität die Progression von Behinderung beschleunigt. MS-Patienten mit zusätzlicher vaskulärer Erkrankung benötigen im Durchschnitt sechs Jahre früher eine Gehhilfe als MS-Patienten ohne Komorbiditäten.2

Darüber hinaus sind auch Hyperlipidämie, Diabetes und Hypertonie (diagnostiziert zum Zeitpunkt der MS-Diagnose) mit einem signifikant erhöhten Risiko von Behinderung infolge der MS assoziiert. In einer Studie wurden 256 MS-Patienten anhand der Framingham Risc Scores mit gesunden Kontrollen verglichen. Ergebnis: Ein hohes kardiovaskuläres Risiko ist mit Behinderung und einem ungünstigen Verlauf der MS assoziiert.3 Dies entspricht Befunden aus der Bildgebung. Hypertonie und Herzerkrankung stehen in Zusammenhang mit reduziertem Hirnvolumen.4 Andererseits wurden Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen hohem HDL-Cholesterin und einem geringeren Volumen Gadolinium-aufnehmender Läsionen gefunden.5 Dies dürfte in Zusammenhang mit der Funktion der Blut-Hirn-Schranke stehen.

Komorbiditäten beeinflussen Prognose

Hypertonie, Diabetes, Herzerkrankung und Depression sind auch mit vermehrten Hospitalisierungen assoziiert und beeinflussen die Mortalität, wobei insbesondere Diabetes, Herzerkrankung und Depression einen ungünstigen Effekt zeigen.6 Die Beziehungen zwischen physischen Komorbiditäten und Behinderung sind nicht nur wechselseitig, sie beeinflussen auch die psychischen Komorbiditäten Angst und Depression, wirken sich auf das Symptom Fatigue und damit letztlich auf die Lebensqualität aus.7 Fatigue kann für die Betroffenen im Verlauf der MS zu einem erheblichen Problem werden. Marrie: „Es ist nicht möglich, eine einmal aufgetretene Behinderung zu therapieren. Wenn man jedoch Depression und Angst dieser Patienten behandelt, dann hat das einen ähnlich deutlichen Effekt auf die Lebensqualität, wie wenn man die Behinderung behandeln könnte.“ Allerdings können dabei wieder die physischen Komorbiditäten in die Quere kommen. Denn Studiendaten zu Telefoninterventionen gegen Fatigue zeigen, dass ein bestehender Diabetes die Besserung der Fatigue verlangsamt.8 Marrie: „Die Prävention und das effektive Management von Komorbiditäten ist bei MS-Patienten von erheblicher Bedeutung. Damit liegt die Bedeutung eines multidisziplinären, patientenzentrierten Ansatzes in der Therapie der MS auf der Hand.“

Weniger Entzündungsaktivität im höheren Alter

Unabhängig von eventuellen Komorbiditäten zeigt die MS einen seit Langem bekannten natürlichen Verlauf von einer monosymptomatischen Phase über die schubförmig verlaufende MS hin zur sekundär progredienten MS. Die neuen krankheitsmodifizierenden Therapien machen es zwar möglich, diesen Verlauf zu beeinflussen, grundsätzlich ändern lässt sich das Fortschreiten der Erkrankung derzeit jedoch vermutlich nicht, so Prof. Dr. John R. Corboy vom Rocky Mountains MS Center der University of Colorado. Die über die Jahre beobachtete zunehmende Behinderung geht mit charakteristischen Veränderungen im Gehirn einher. Die Läsionslast nimmt zu, das Gehirnvolumen nimmt ab, kognitive Beeinträchtigung stellt sich ein. Dabei geht, so Corboy, beim älter werdenden Patienten die Zahl der akuten, Gadolinium-aufnehmenden Läsionen zurück. Mit dem Alter nimmt die Zahl der Schübe ab. Treten Schübe auf, so haben diese bei weiter fortgeschrittener Erkrankung offenbar weniger ausgeprägte Wirkung auf die Behinderungsprogression9 als bei jüngeren Patienten10.

Die Einführung mittlerweile zahlreicher krankheitsmodifizierender Medikamente (DMTs) hat in der Therapie der MS neue Chancen eröffnet. Sie reduzieren die Zahl von Schüben und aktiven Läsionen sowie die Behinderungsprogression infolge von Schüben, den Verlust an Gehirnvolumen und den kognitiven Abbau. Allerdings sind alle diese Therapie nur bei der schubförmig verlaufenden MS (und teilweise auch beim CIS) zugelassen. In der progredienten MS steht ausschließlich Ocrelizumab zur Verfügung. Corboy: „Die Frage ist, was diese Medikamente über lange Zeit, bei langer Krankheitsdauer und bei älteren Patienten machen.“ Die Beantwortung dieser Frage ist gegenwärtig kaum möglich, da Daten äußert spärlich sind. Corboy: „In den Phase-III-Studien zu den meisten MS-Therapien liegt das durchschnittliche Patientenalter zwischen 30 und 40 und das maximale Patientenalter zwischen 50 und 65.“ Lediglich in den Studien mit Ocrelizumab in der Indikation PPMS waren die Patienten im Schnitt 47 Jahre alt. Damit sind für etwas ältere Patienten teilweise Daten aus Subgruppenanalysen und für alte Patienten meist gar keine Daten verfügbar.

Das Alter scheint relevant zu sein

In Subgruppenauswertungen der FREEDOMS-Studie findet sich in der Patientengruppe über 40 Jahre für Fingolimod kein signifikanter Therapieeffekt mehr.11 Für Teriflunomid zeigen Subgruppenanalysen sowohl bei Patienten über als auch unter 38 Jahre Überlegenheit im Vergleich zu Placebo. Der Effekt ist bei den älteren Patienten numerisch, aber nicht signifikant schwächer als bei den jüngeren.12 Ein ähnliches Bild zeigt sich mit Natalizumab: Die Therapie wirkt auch bei Patienten jenseits der 40, dafür war der Effekt ab einem EDSS von mindestens 3,5 nicht mehr signifikant.13 Corboy weist in diesem Zusammenhang auch auf Studien zur sekundär progredienten MS hin. So erwies sich beispielsweise Interferon beta 1b in dieser Indikation im Vergleich zu Placebo insgesamt als nicht überlegen. Allerdings zeigen auch hier Subgruppenanalysen ein differenziertes Bild. Während nämlich in der nordamerikanischen Substudie keinerlei Differenz zwischen dem Verum- und dem Placebo-Arm feststellbar war, zeigte sich in der europäischen Substudie doch eine gewisse Überlegenheit.14 Corboy: „Was waren die Unterschiede? In der europäischen Studie waren die Patienten jünger, hatten kürzere Krankheitsdauer und waren auch jünger erkrankt. Es waren also Patienten mit mehr Entzündungsaktivität, und diese Patienten profitierten von der Therapie.“ Selbst in der Phase-III-Studie ORATORIO, in der sich Ocrelizumab gegenüber Placebo in der PPMS als überlegen erwies, war die Wirksamkeit bei jüngeren Patienten mit aktiverer Erkrankung deutlicher.15

Geringerer Therapieeffekt?

Angesichts dieser Daten, die in Richtung eines geringeren Therapieeffekts bei älteren und stärker behinderten Patienten weisen, stelle sich nun eine klinisch sehr relevante Frage: Können krankheitsmodifizierende Therapien bei älteren Patienten abgesetzt werden, ohne dass die Patienten dadurch Schaden nehmen? Diese Frage kann gegenwärtig nicht auf Basis von Daten aus randomisierten, kontrollierten Studien beantwortet werden. Beobachtungsstudien zeigen, dass es bei jüngeren Patienten verstärkt zu Schüben kommt, wenn die Therapie beendet wird. Zu älteren Patienten fehlen auch diese Daten. Eine randomisierte, kontrollierte Studie zum Absetzen der MS-Therapie (DISCOMS) mit ausgewählten Patienten über 55 Jahren (keine Zeichen von Schubaktivität über mindestens fünf Jahre) befindet sich in Planung. Teilnehmen sollen 15 Zentren in den USA und 300 Patienten.

Referenzen:
1 Ruano L et al., Mult Scler 2017; 23(9):1258–1267;
2 Marrie RA et al., Neurology 2010; 74(13):1041–7;
3 Moccia M et al., Eur J Neurol 2015; 22(8):1176–83;
4 Kappus N et al., J Neurol Neurosurg Psychiatry 2016; 87(2):181–7;
5 Weinstock-Guttman B et al., J Neuroinflammation 2011 4; 8 :127;
6 Salter A et al., Neurol Clin Pract 2016; 6(5):397–408;
7 Fiest KM et al., Int J MS Care 2016; 18(2):96–104;
8 Finlayson M, Preissner K, Cho, Int J MS Care 2013; 15(1):21–6;
9 Confavreux C et al., N Engl J Med 2000; 343(20):1430–8;
10 Lublin FD, Baier M, Cutter G, Neurology 2003; 61(11):1528–32;
11 Devonshire V et al., Lancet Neurol 2012; 11(5):420–8;
12 Miller AE et al., Mult Scler 2012; 18(11):1625–32;
13 Hutchinson M et al., J Neurol 2009; 256(3):405–15
14 Kappos L et al., Neurology 2004; 63(10):1779–87;
15 Montalban X et al., N Engl J Med 2017; 376(3):209–220

7th Joint ECTRIMS– ACTRIMS Meeting, Paris, 25.–28.10.17

Von Reno Barth