Es mehren sich die Anzeichen, dass nicht nur an der Entstehung von vielen somatischen, sondern auch von verschiedenen psychischen Erkrankungen stressinduzierte Entzündungsreaktionen beteiligt sind. (CliniCum neuropsy 1/18)

Die Liste somatischer Erkrankungen, die mit chronischem Stress in Verbindung gebracht werden, liest sich wie das Who is Who der Pathologie: Asthma, Krebs, kardiovaskuläre Erkrankungen, metabolisches Syndrom, rheumatoide Arthritis, Osteoporose, chronisch entzündliche Darmerkrankungen und noch vieles mehr. Kaum weniger umfangreich ist das Pendant auf psychischer Seite: chronischer psychosozialer Stress gilt unter anderem als Risikofaktor für Burnout, posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Angststörungen und das chronische Erschöpfungssyndrom. Was auffällt: „All diese Erkrankungen haben in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen“, verweist Prof. Dr. Stefan Reber, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm, auf möglicherweise ähnliche pathogenetische Mechanismen. Einige Gemeinsamkeiten der stressassoziierten Erkrankungen glauben die Forscher bereits identifiziert zu haben: In fast allen Fällen finden sich beispielsweise entzündliche Veränderungen und ein aktiviertes Immunsystem. Das trifft auch für psychische Erkrankungen zu, wie eine 2006 publizierte Studie zeigt, in der verglichen wurde, wie das Immunsystem von depressiven Patienten und Kontrollprobanden auf psychosozialen Stress reagiert.

Induziert wurde der Stress durch den zweiteiligen TSST (Trier Social Stress Test: besteht aus Jobbewerbung in freier Rede und Kopfrechnen vor Publikum, das geschult ist, ein möglichst negatives Feedback zu geben). Depressive Patienten hatten nicht nur bereits vor dem Test erhöhte Plasma-IL-6-Spiegel, sondern reagierten auf die Stresssituation auch mit einem wesentlich höheren IL-6-Anstieg. „Ihr Immunsystem wurde durch den Stress deutlich stärker aktiviert als das der Kontrollprobanden“, fasst Reber zusammen. Interessanterweise zeigen auch Personen, die noch gesund sind, aber bekannte Risikofaktoren für eine Depression aufweisen (frühkindlicher Lebensstress, erhöhter BMI, niedriger sozioökonomischer Status, Persönlichkeitsprofil mit geringem Selbstbewusstsein) im TSST bereits eine erhöhte stressinduzierte Immunaktivierung. Ähnliche Studienergebnisse gibt es bei der posttraumatischen Stressbelastung.

Gestresste Intruder-Mäuse

Da es in humanen Studien oft schwierig ist, Kausalität nachzuweisen, untersuchten Reber und seine Mitarbeiter die genaueren Zusammenhänge zwischen Stress und Immunreaktivität in einem Tiermodell, dem sogenannten Resident-Intruder-Paradigma: Wenn eine kleinere männliche Maus als Intruder (=Eindringling) in das Territorium eines größeren  Männchens gesetzt wird, kommt es innerhalb weniger Sekunden zu einem Kampf um die dominante Position, der in 99 Prozent der Fälle von dem ansässigen Männchen gewonnen wird. Die unterlegene Position ist für die Intruder-Tiere mit erheblichem Stress verbunden. Ähnlich wie bei Menschen kommt es dadurch zu einem Anstieg des Plasma-IL-6. Je stärker die Tiere auf den Stress reagieren, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie im weiteren Verlauf ein soziales Defizit entwickeln.

„Bereits 20 Minuten nach der ersten sozialen Niederlage kann man anhand der IL-6-Konzentration voraussagen, welche Maus am Ende eine Affektstörung aufweisen wird“, so Reber. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und bereits vor dem Stress weiße Blutkörperchen abnehmen und im Labor untersuchen. „Die Tiere, deren Leukozyten auf einen Stimulus im Reagenzglas das meiste IL-6 abgeben, sind diejenigen, die bei wiederholtem psychosozialem Stress dann soziale Defizite entwickeln.“ Interessanterweise lässt sich der vulnerable  Phänotyp durch eine Knochenmarkstransplantation sogar auf die resilienten Tiere übertragen. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Aktivierung des Immunsystems ein ganz zentraler Mechanismus ist, über den chronischer Stress zur Entstehung somatischer und psychischer stressassoziierter Erkrankungen beiträgt.

Alte Freunde

Warum besitzen depressive Patienten oder PTSD-Patienten offensichtlich ein überreaktives Immunsystem, das besonders empfindlich auf Stress reagiert? Eigentlich sollten regulatorische T-Zellen ja ein Überschießen von Immunreaktionen verhindern und das adaptive Immunsystem nach einer angestoßenen Immunreaktion wieder auf den Basalzustand zurückführen. Hier scheint auch das Problem zu liegen: Depressive und PTSD-Patienten haben eine verringerte Anzahl an regulatorischen T-Zellen. Eine mögliche Erklärung dafür liefert die Old-Friends-Hypothese: Als alte Freunde werden die Mikroorganismen bezeichnet, mit denen wir entwicklungsgeschichtlich zusammen aufgewachsen sind. Dazu zählen Keime aus unserer Umwelt, aber auch intestinale Mikrobiota. Diese Old Friends induzieren über mehrere Schritte, die mittlerweile relativ gut erforscht sind, die Bildung regulatorischer T-Zellen. Die Hypothese besagt nun, dass wir heute – vor allem im städtischen Bereich – einen verringerten Kontakt mit den Old Friends haben und daher weniger regulatorische T-Zellen gebildet werden. Das Ergebnis ist eine mangelnde Zügelung des Immunsystems und eine Zunahme entzündlicher Erkrankungen. Das würde erklären, warum in ländlichen Gegenden weniger Allergien, Asthma und somatische entzündliche Erkrankungen, aber auch seltener affektive Erkrankungen gefunden werden. Um diese Annahmen zu überprüfen, verglichen die Ulmer Forscher Städter ohne Haustiere und Landbewohner mit Nutztierhaltung im sozialen Stresstest. Das Ergebnis: Bei den Städtern kam es durch den TSST zu einem deutlich stärkeren Anstieg von PBMCs (mononukleäre Zellen des peripheren Blutes) und IL-6 im Plasma.

Hypocortizismus

Charakteristisch für stressinduzierte Erkrankungen ist auch ein verringertes Glukokortikoid-Signalling. Glukokortikoide hemmen ja das Immunsystem, ein Hypcortizismus begünstigt daher überschießende Immunreaktionen. Die Verringerung des Glukokortikoid- Signallings kann auf zwei Arten zustande kommen: zum einen durch eine zu geringe Ausschüttung an Stresshormonen, zum anderen durch eine Resistenz der Zielzellen gegenüber Glukokortikoiden. Beide Mechanismen konnte Rebers Team im Tiermodell nachweisen: Im CSC-Paradigma (einer Art verschärftem Resident-Intruder-Paradigma mit mehrfacher psychosozialer Retraumatisierung der Mäuse) wurden chronisch gestresste CSC-Mäuse mit einzeln gehaltenen Kontrollmännchen verglichen. Neben einer Verringerung regulatorischer T-Zellen und einer Erhöhung proinflammatorischer Zytokine im Plasma fanden die Forscher auch eine erhöhte metabolische Aktivität von Milzzellen im Reagenzglas und eine Resistenz der Immunzellen von chronisch gestressten Mäusen gegenüber entzündungshemmenden Glukokortikoiden. Bei den gestressten Tieren fehlte auch der physiologische Corticosteron-Anstieg zu Beginn der Dunkelphase.

Ängstlichkeit und Colitis

Eine der Folgen der chronischen Stressexposition im Tiermodell war eine erhöhte Ängstlichkeit in Verhaltenstests, die als affektive Erkrankung gewertet wurde. Der Stress hatte aber auch somatische Auswirkungen: Nach 14 Tagen CSC-Haltung entwickelten die Mäuse ohne den Einsatz zusätzlicher Chemikalien eine spontane Darmentzündung. „Am Anfang führt der akute Stress noch zu einem starken Anstieg der Glukokortikoide und einer Hemmung des Immunsystems“, erläutert Reber die pathophysiologischen Abläufe. „Dadurch bricht die Darmbarriere zusammen, und Bakterien gelangen aus dem Stuhl ins Gewebe. Wird der Stress chronisch, entwickelt sich relativ schnell ein Hypocortizismus. Das Immunsystem kommt wieder zu Kräften und geht gegen die eingewanderten Keime vor.“ Die entstehende Colitis ist mehr oder weniger ein Kollateralschaden dieser heftigen Immunreaktion. Anders als die stressinduzierte Angsterkrankung kann sich die Colitis nur entwickeln, wenn auch Bakterien vorhanden sind.

„Schaltet man die komplette Darmflora durch einen Cocktail aus vier verschiedenen Antibiotika aus, verliert das chronische Stressmodell das Potenzial, eine Colitis zu induzieren“, erklärt Reber. Sind es Bakterien aus der kommensalen Darmflora oder Pathobionten, die im Zusammenspiel mit Stress für die entzündliche Reaktion sorgen? In einer Mikrobiomanalyse sieht man, dass es durch den chronischen Stress in der Darmflora der Mäuse in erster Linie zu einer Vermehrung verschiedener Proteobakterien kommt (vor allem enterohepathische Helicobacter- Species wie H. typhlonius). Diese Keime werden bei Gesunden relativ gut durch das übrige Darmmikrobiom kontrolliert. Erst wenn sie überhandnehmen, kommt es zur Colitis. Die Zunahme der Proteobakterien korreliert mit dem histologischen Schaden. Wie kann diese in ähnlicher Form auch bei Menschen unter Stress auftretende Colitis verhindert werden? Stressvermeidung ist in der heutigen Lebenswelt meist keine realistische Option. Man kann jedoch versuchen, zu verhindern, dass Stress das Darmmikrobiom verändert. „Wir haben dazu den Ansatz über die Old Friends gewählt“, berichtet Reber.

Und tatsächlich: Mäuse, die vor der Stressexposition drei Wochen lang mit Mycobacterium vaccae, einem bekannten Vertreter der alten Freunde, behandelt wurden, bekamen unter Stress keine Darmentzündung. Dass für diesen Schutz die vermehrte Bildung regulatorischer T-Zellen verantwortlich ist, legt ein weiterer Versuch nahe: Wurden die regulatorischen T-Zellen durch Anti-CD25-Antikörper aus den Tieren entfernt, entwickelten sie trotz Vorbehandlung mit Mykobakterien unter chronischem Stress eine Colitis. „In unserer Entwicklungsgeschichte war Stress häufig mit Verletzung und Infektionen verbunden“, erklärt Reber, warum wir auf Stress mit einer Aktivierung des Immunsystems reagieren. „Unsere Old Friends haben jedoch verhindert, dass es zu einer Überreaktion kam. Erst der Mangel an alten Freunden in unserer modernen Welt führte dazu, dass dieses ausgewogene System aus dem Tritt geraten ist.“

„Stressassoziierte Erkrankungen: was wir von Tiermodellen über die zugrunde liegenden Mechanismen lernen können“, 13. Grazer Psychiatrisch-Psychosomatische Tagung, Graz, 19.1.18

Von Mag. Dr. Rüdiger Höflechner