Einleitung

In den letzten Jahrzehnten wurden zahlreiche pharmakologische, psychotherapeutische und soziotherapeutische Behandlungskonzepte für psychische Störungen etabliert, die hohe Ansprechraten aufweisen. Trotz dieser insgesamt positiven Behandlungseffektivität steigt die Zahl länger andauernder (rezidivierender oder chronischer) Therapieverläufe und somit insgesamt der Bedarf an qualifizierten rehabilitativen Versorgungsangeboten im Versorgungssystem (1,2,3).

Phasenmodell der psychiatrischen Rehabilitation

 Entsprechend dem WHO-Phasenmodell der Rehabilitation wurden in Österreich in den letzten Jahren mehrere Rehabilitationskliniken für die psychiatrische Rehabilitation Phase II implementiert (siehe dazu: Österreichischer Rehabilitationsplan 2016, 5). Die Phase II erfolgt im Anschluss an eine akute Krankenbehandlung (Phase I), wenn bereits ausreichende Stabilität der Patienten für eine rehabilitative Therapie in ausreichender Dauer und Intensität vorliegt (üblicherweise mindestens 142 Therapieeinheiten über einen Zeitraum von 6 Wochen, d.h. rund 25 Stunden Therapie pro Woche).

Zielsetzung der Rehabilitation ist die Schaffung bestmöglicher physischer, psychischer und sozialer Bedingungen, damit Patienten mit chronischer oder auf ein akutes Ereignis nachfolgender Erkrankung aus eigener Kraft ihren gewohnten Platz in der Gesellschaft bewahren oder wieder einnehmen und durch verbesserte Lebensgewohnheiten das Fortschreiten der Erkrankung begrenzen oder umkehren können. Im Speziellen zählen zu den Rehabilitationszielen neben der Reduktion von Symptomen und der seelisch-körperlichen Stabilisierung vor allem die Kompetenzsteigerung (Empowerment) im Umgang mit der Erkrankung, die Reduktion von Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit, Aktivität und Teilhabe (Partizipation), eine Erweiterung des Verhaltensrepertoires, die Verbesserung der Lebensqualität und die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit (6).

Neben der stationären Phase-II-Rehabilitation in speziellen Rehabilitationskliniken wurden – beginnend mit 2010 – auch ambulante (tagesklinische) psychiatrische Rehabilitationseinrichtungen in Österreich etabliert. Argumente für eine ambulante Rehabilitation sind (7): die bessere Integration der Reha in den Alltag der PatientInnen, mehr Arbeitsorientierung durch die tägliche Fahrt von zu Hause in die Reha, Übungsmöglichkeiten vor Ort bzw. alltagsnahes Training, die Nutzung eines gesundheitsförderlichen häuslichen Umfelds sowie die Möglichkeit zur Erfüllung nicht (oder nur schwer) delegierbarer häuslicher Pflichten (z.B. Kinderbetreuung oder Pflege von Familienmitgliedern). Auch das Nahtstellenmanagement bezüglich der weiterführenden psychosozialen Betreuung wird dadurch erleichtert.

Entscheidungskriterien für eine ambulante Rehabilitation sind (6): ausreichende Stabilität des Patienten, um ein intensives Rehaprogramm absolvieren zu können, Möglichkeiten zur selbständigen Versorgung zu Hause, ausreichende Mobilität des Patienten (die Rehabilitationseinrichtung muss täglich erreichbar sein), eine zumutbare Fahrzeit zur Rehabilitationseinrichtung (ca. 30 Minuten), sowie die Einschätzung, dass der aufrechte Kontakt mit dem Lebensumfeld des Patienten für die Erreichung der Rehabilitationsziele des Patienten von besonderer Bedeutung ist (z.B. durch Angehörigenarbeit oder Förderung der Reintegration am Arbeitsplatz).

Zusätzlich zur Rehabilitationsphase II (stationär und ambulant) wird seit 2014 die psychiatrische Rehabilitation Phase III angeboten (6). Die Phase III ist als berufsbegleitende Rehabilitation konzipiert, die der weiterführenden Stabilisierung der in Phase II erreichten Effekte sowie der langfristigen Veränderung des Lebensstils dient. Das Leistungsangebot umfasst insgesamt 100 Therapieeinheiten über maximal 12 Monate (in der Regel als Einzel- und Gruppentherapien einmal bis zweimal wöchentlich in den Nachmittags- bis Abendstunden). Grundsätzliche Voraussetzung dafür ist die erfolgte Absolvierung der Phase II (stationär oder ambulant). Es bleibt dem Kostenträger allerdings vorbehalten, Bewilligungen für die Phase III auch ohne erfolgte Absolvierung der Phase III auszustellen (6).

Besonderheiten der psychiatrischen Rehabilitation (4):

In der psychiatrischen Rehabilitationsdiagnostik wird neben psychiatrischen Symptome und Störungen nach ICD-10 in erster Linie  das psychosoziale Funktionsniveau anhand der ICF (International Classification of Functioning, 8) beurteilt. Mithilfe von 13 Fähigkeitenprofilen wird der aktuelle psychosoziale Beeinträchtigungsgrad der PatientInnen zur Formulierung von Rehabilitationszielen herangezogen (9). Demzufolge orientiert sich die Patientenrolle in der psychiatrischen Rehabilitation weniger an Krankheitssymptomen, sondern mehr an den funktionellen Rehabilitationszielen der Aktivität und Teilhabe. Von den Patienten wird erwartet, dass sie nicht passive Leistungsempfänger sind, sondern zu aktiven, mitgestaltenden, kritischen und selbständigen Experten im Umgang mit ihrer eigenen Erkrankung werden. Wichtige Bausteine der psychiatrischen Rehabilitation sind folglich die Patientenschulung bzw. Psychoedukation in der Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit, die (Wieder-)Erlangung eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten, wie z.B. Stressbewältigung oder soziale Kompetenzen, sowie die Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld, z.B. in Form von Angehörigenberatung, Arbeitsplatzanalysen oder Selbsthilfeinitiativen.

Noch mehr als in der akutpsychiatrischen Versorgung wird in der psychiatrischen Rehabilitation ein ganzheitlicher bio-psycho-sozialer Ansatz verwirklicht. Integrative Therapiekonzepte werden durch ein interdisziplinäres Behandlerteam angeboten, das zu einem wesentlichen Teil psychotherapeutisch ausgerichtet ist, ergänzt durch klinische und Gesundheitspsychologie, ärztliche Maßnahmen, Ergotherapie, Physio- bzw. Sport- und Bewegungstherapien, Kreativtherapien (z.B. Musiktherapie, Kunsttherapie, Tanztherapie), Ernährungsberatung, Sozialarbeiter bzw. Soziotherapeuten und Diplomierte Pflegekräfte. Der interdisziplinäre Teamgedanke impliziert deutlich flachere Hierarchien zwischen den einzelnen Berufsgruppen als in vergleichbaren Akuteinrichtungen.

Charakteristischerweise sind Patienten in der psychiatrischen Rehabilitation nicht bettlägrig. Der Großteil der Therapie findet daher nicht im Krankenzimmer, sondern in entsprechenden Funktionsräumen der einzelnen Berufsgruppen statt. Um mehr Alltagsrelevanz zu ermöglichen, wird bewusst auf eine „Krankenhausatmosphäre“ verzichtet, die Zimmer sind wohnlich bzw. funktional gestaltet. Die rein medizinischen Behandlungsbereiche beschränken sich in vielen Einrichtungen auf eine notfallmedizinische bzw. notfallpsychiatrische Ausstattung sowie ärztliche Einzelvisiten.

Gerade bei komplexen Störungsbildern, wie z.B. chronischen oder rezidivierenden depressiven Störungen, somatoformen Störungen oder Traumafolgestörungen, sollte die multidisziplinäre Intensivbehandlung im Rahmen psychiatrischer Rehabilitationsmaßnahmen nicht erst als ultima ratio nach Ausschöpfung aller ambulanten (Mono-)Therapien angesehen werden. Sie stellt vielmehr eine hochspezialisierte Interventionsform dar, die auf die besonderen Bedürfnisse der Patienten mit längerdauernden, komplexen Krankheitsbildern zugeschnitten ist und die langfristig zu einer befriedigenden Behandlungs- und Kosten-Effektivität beitragen kann (vgl. hierzu: MESTA-Studie, 4).

 

Literatur

  1. Haberfellner EM, Schöny W, Platz T, Meise U. Evaluationsergebnisse Medizinischer Rehabilitation für Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen – ein neues Modell im komplexen psychiatrischen Leistungsangebot. Neuropsychiatrie 2006;20:215-218
  2.  Platz T, von Bohlen H, Mitter T, Senft B. Qualitätsbericht 2012. Reha-Klinik für Seelische Gesundheit in Klagenfurt
  3. Rabenstein R., Görgen V., Lenz G. Ambulante medizinische Rehabilitation psychischer Störungen – Erste Eindrücke und Ergebnisse. Poster, Kongress der ÖGPP, Gmunden 2011
  4. Steffanowski A., Löschmann C., Schmidt J., Wittmann WW., Nübling R. Meta-Analyse der Effekte stationärer psychosomatischer Rehabilitation: MESTA-Studie. Rehabilitationswissenschaftlicher Forschungsverbund Freiburg/ Bad Säckingen 2005
  5. Reiter D, Fülöp G, Gyimesi M, Nemeth C. Rehabilitationsplan 2012. Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), im Auftrag des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger. www.hauptverband.at
  6. Müller R, Kollmann I. Medizinisches Leistungsprofil – Ambulante Rehabilitation (WHO-Rehabilitationsphase 2 und 3). Fachbereich Psychische Störungen. Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität in Vertragseinrichtungen für ambulante Rehabilitation der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) bzw. eines Sozialversicherungsträgers (SVT). Stand 09/2013. Pensionsversicherungsanstalt (PVA) 2013
  7. Haberfellner EM, Dantendorfer K, Korn M, Platz T, Schöny W, Rachbauer C, Zeitlinger A. Konzept ambulante medizinische Rehabilitation bei psychischen Erkrankungen. Arbeitsgruppe ambulante Rehabilitation. Version vom 08.05.09
  8. WHO. International Classification of Functioning, Disablility and Health. Genf 2001
  9. Linden M, Baron S, Muschalla B. Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen. Hogrefe 2015

 

Autor:

Prim. Prof. Univ. Doz. Dr. Michael Bach

Therapiezentrum Justuspark

Linzer Strasse 7, 4045 Bad Hall

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Web: www.bva.at