Liebe Leserinnen und Leser!

Bipolare Störungen sind im klinischen Alltag eine besondere Herausforderung: von der notfallmäßigen stationären Aufnahme bis zur Therapie im Langzeitverlauf mit seinen charakteristischen Komorbiditäten.

Die letzten Jahre sind gekennzeichnet gewesen von einem Rückgang der therapeutischen Innovationen. Im Bereich der bipolaren Störungen ist als einzige grundsätzlich neue Strategie die Verwendung von Ketamin in der Behandlung der akuten Depression zu nennen (Kraus et al. 2017). Im Vordergrund der klinischen und der Forschungs-Bemühungen stand die Konsolidierung und umfassende Bewertung der zahlreichen Impulse der letzten Jahrzehnte. Die vor 20 Jahren neuen Stimmungsstabilisierer (Bowden 1998) haben ihren Platz in der Basis-Behandlung bipolarer Patienten gefunden ohne das weiterhin als state-of-the-art der bipolar-I-Phasenprophylaxe geltende Lithium zu verdrängen. Während es bei der Pharmakotherapie der Schizophrenie keine wesentliche Evidenz für die Kombination unterschiedlicher Antipsychotika gibt, ist die Kombination unterschiedlicher Stimmungsstabilisierer bei komplizierten bipolaren Verläufen sinnvoll und üblich. Die add-on-Behandlung von schweren manisch/psychotischen und depressiven Episoden (einschließlich Rückfallprophylaxe für etwa ein Jahr) mit Antipsychotika bzw. Antidepressiva ist gut untersucht und empfehlenswert.

Welche Themen stehen nun aktuell im Vordergrund?

Nicht nur in der Psychiatrie, auch in der gesamten Medizin ist in den letzten Jahren eine gewisse Verschiebung (um nicht zu sagen: ein Perspektivenwechsel) zu beobachten: Im Fokus steht weniger die kurzfristige Bewältigung krisenhafter Ereignisse mit nachfolgender restitutio ad integrum (das gibt es natürlich im Einzelfall weiterhin), sondern die Erkenntnis, dass Menschen –nicht zuletzt durch die steigende Lebenserwartung- früher oder später unvermeidlich unter chronischen Einschränkungen ihrer Gesundheit leiden werden. Die Rolle des Arztes (sowohl in seiner eigenen Wahrnehmung als auch in der des Patienten) mutiert also vom kurzfristigen „Reparateur“ und „Heiler“ zum langfristigen, nachhaltig denkenden Begleiter einer die Lebensqualität potentiell einschränkenden, manchmal auch progredienten, chronisch verlaufenden Erkrankung (arterielle Hypertonie, COPD, Diabetes Typ II, Arteriosklerose, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, affektive Störungen, chronische Angststörungen, neurokognitive Störungen).

Bezüglich der bipolaren Störung bedeutet dies: die Behandlungsoptionen für die akute Manie, die akute Depression, den akuten affektiven Mischzustand sind gut definiert. Verbesserungsbedürftig sind die langfristigen Strategien, die zu einer guten Reintegration in die Gesellschaft, zu einer hohen Lebensqualität, zu einer funktionellen Wiederherstellung und dadurch zu einer Stabilisierung führen, die per se wieder die beste Phasenprophylaxe darstellt („Es gibt nichts Stabilisierenderes als Stabilität“, Charles L. Bowden).

Interessant ist eine rezente Arbeit von Rosenblat et al. (2018), an der 449 bipolar depressive und 447 unipolar depressive Patientinnen und Patienten teilnahmen. Sie wurden im Verlauf der Behandlung gefragt, aus welchem Grund sie der Meinung waren, dass ihre Medikation gut wirke. Bipolare Patienten gaben statistisch häufiger an, dass ihnen die gelungene Wiederherstellung ihrer kognitiven Funktionen und ihrer Entscheidungsfähigkeit besonders wichtig waren. Beide Gruppen gaben an, dass die Überwindung von Angst, Agitation und Irritabilität der wichtigste Faktor ihres Behandlungserfolges war. Die Arbeit zeigt, wie wichtig das Ernstnehmen kognitiver Beschwerden (Sachs et al. 2007, Gitlin 2018) und der Agitation (Erfurth 2017) bei bipolaren Patienten für den Behandlungsverlauf ist. Die Erfassung kognitiver Dysfunktionen bei bipolaren Patienten und die Untersuchung der Effekte von kognitiver Remediation als add-on-Maßnahme sind ein interessantes Forschungsfeld (Sachs et al. 2017, Ott et al. 2018).

Eine kürzlich publizierte Studie zeigte, dass die Kognition bei bipolaren Störungen negativ mit dem Entzündungsmarker Interleukin-6 korreliert (Barbosa et al. 2018). Dieses Ergebnis verdeutlicht nicht zuletzt, dass körperliche Faktoren und Komorbiditäten (Patel et al. 2018) eine große Rolle im Verlauf bipolarer Störungen spielen können. Diese Komorbiditäten zu vermeiden (z.B. durch die Gabe von gewichtsneutralen Pharmaka), bzw. ganzheitlich zu therapieren (z.B. bipolare Störung bei manifestem metabolischem Syndrom) ist eine zentrale Herausforderung. Auch wenn konklusive Daten zur physischen Aktivität als grundsätzlicher add-on-Therapie bei bipolarer Störung (etwa im Vergleich zur unipolaren Depression, für die es Evidenz gibt) fehlen (Stubbs et al. 2018), so sei die körperliche Aktivität als Bestandteil eines umfassenden Therapiekonzeptes übergewichtiger Patienten nach bipolarer Depression schon jetzt empfohlen (Gillhoff et al. 2010, de Sá Filho et al. 2015, Thomson et al. 2015).

Zusammenfassend ist bei bipolaren Patienten -auch im Sinne einer personalisierten Medizin (Fountoulakis et al. 2018)- eine umfassende Bewertung aller diagnostischen Merkmale und Komorbiditäten im Verlauf notwendig, um ein holistisches Therapiekonzept mit und für den Patienten zu entwickeln. In der Durchführung der Therapie steht das Erzielen einer hohen Lebensqualität sowie einer funktionellen Wiederherstellung im Vordergrund: dieses ist nur unter Berücksichtigung kognitiver und körperlicher Aspekte zu erreichen.

 

Mit freundlichen kollegialen Grüßen

Ihre Prim. Priv. Doz. Dr. Andreas Erfurth1 & Univ. Prof. Dr. Dr. Gabriele Sachs2

 

1  Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Krankenhaus Hietzing, 1130 Wien

2  Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, 1090 Wien

 

Barbosa IG, de Almeida RF, Rocha NP, Mol GC, da Mata Chiaccjio Leite F, Bauer IE, Teixeira AL. Predictors of cognitive performance in bipolar disorder: The role of educational degree and inflammatory markers. J Psychiatr Res. 2018 Sep 17;106:31-37.

Bowden CL. New concepts in mood stabilization: evidence for the effectiveness of valproate and lamotrigine. Neuropsychopharmacology. 1998;19(3):194.

de Sá Filho AS, de Souza Moura AM, Lamego MK, Ferreira Rocha NB, Paes F, Oliveira AC, Lattari E, Rimes R, Manochio J, Budde H, Wegner M, Mura G, Arias-Carrión O, Cheniaux E, Yuan TF, Nardi AE, Machado S. Potential Therapeutic Effects of Physical Exercise for Bipolar Disorder. CNS Neurol Disord Drug Targets. 2015;14(10):1255-9.

Erfurth A. Agitation: a central challenge in psychiatry. World J Biol Psychiatry. 2017 Feb;18(1):3-4.

Fountoulakis KN, Möller HJ, Kasper S. Personalised and precision psychiatry: what do the CINP bipolar guidelines suggest? Int J Psychiatry Clin Pract. 2018 May 15:1-2.

Gillhoff K, Gaab J, Emini L, Maroni C, Tholuck J, Greil W. Effects of a multimodal lifestyle intervention on body mass index in patients with bipolar disorder: a randomized controlled trial. Prim Care Companion J Clin Psychiatry. 2010;12(5).