Einen „Labortest“ zur Diagnose einer Depression werde es in Zukunft zwar nicht geben, bestimmte Marker könnten jedoch in ein „Staging“ der Depression einfließen, meint O. Univ.-Prof. Dr. h.c. mult. Dr. Siegfried Kasper, Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Wien. Aktuelle, an der Wiener Klinik gewonnene Forschungsergebnisse liefern neue Daten zum Zusammenhang zwischen Serotonin-Transporter-Mechanismen und der Funktion neuronaler Netzwerke.

CliniCum neuropsy: Ist es nicht ein lange gehegter Traum in der Psychiatrie, seelische Erkrankungen ganz einfach anhand eines Blutbefundes zu diagnostizieren? Sie sind nun Ko- Autor einer aktuellen Studie zum Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit des Serotonin-Wiederaufnahme-Mechanismus am Serotonintransporter an Thrombozyten und der Funktionsweise des Ruhe-Aktivitätsnetzwerkes im Gehirn (Scharinger et al., siehe Kasten). Könnte diese Studie den Schluss zulassen, dass ein solcher Test in greifbarer Nähe ist?

Kasper: Tatsächlich gibt es seit den 70er Jahren in der Psychiatrie den Wunsch, einen solchen Test zu finden. Ganz entscheidend für den Einsatz von Labortests ist allerdings ihre Sensitivität, also die Genauigkeit, mit der sich eine ganz bestimmte Erkrankung daraus erkennen lässt, sowie ihre Spezifität. Letztere meint, wie genau ein diagnostischer Test zwischen der gesuchten Krankheit von anderen Diagnosen unterscheidet. Wenn wir diese beiden Werte kennen, lässt sich die diagnostische Sicherheit berechnen. Selbst wenn wir heute wissen, dass die Funktion des Serotonin-Transporters an Thrombozyten messbar ist – das ist lange bekannt – und auch dass seine Funktion prinzipiell bei Depressiven verändert ist, so haben wir noch lange keine Hinweise auf Sensitivität oder Spezifität des Tests. Entscheidend ist bei der Studie, die an gesunden Kontrollen durchgeführt wurde, dass ein Zusammenhang zwischen einem Blutmesswert und einer Hirnfunktion gefunden wurde, die bei depressiven Patienten verändert ist. Dennoch ist es wichtig zu verstehen, dass es sich dabei um einen statistischen Zusammenhang handelt im Sinne eines „Proof of Principle“ und noch um keinen fertigen Test. Das Hauptproblem liegt jedoch gegenwärtig in der Erfassung von psychiatrischen Diagnosen, wie auch der Depression, die nicht auf biologischen Kriterien basierend diagnostiziert werden und daher biologisch heterogen sind. Sollte die psychiatrische Diagnostik in der Zukunft biologisch stratifiziert werden, ist es durchaus denkbar, dass es einen engeren Zusammenhang zwischen Blut und Hirnfunktion gibt, der die notwendigen Spezifitätsund Sensitivitätsgrenzen zeigt, die für die klinische Anwendbarkeit gefordert sind.

CliniCum neuropsy: Welche Rolle können solche Laborbefunde überhaupt in der Psychiatrie spielen?

Kasper: Vergleichen Sie es mit einem Modell aus der Onkologie: Bei der Diagnose Brustkrebs spielt es z.B. für Verlauf und Therapie eine wesentliche Rolle, ob es sich um einen Östrogen-/Progesteron-positiven Tumor handelt. In ähnlicher Weise könnte ein „Bluttest“ im Zusammenhang mit Depressionen wie im Fall unserer Studie möglicherweise darauf hindeuten, dass bei Patienten eine Störung der Suppression des Ruhe-Aktivitätsnetzwerkes vorliegt, was klinisch mit vermehrtem Grübeln einhergeht. Daher könnte man mit diesem potenziellen Test eine Subgruppe in der biologisch heterogenen Gruppe depressiver Patienten definieren, die möglicherweise ein spezifisches Ansprechen auf Medikamente oder Psychotherapie zeigen, was klinisch nützlich sein könnte. Diese Studien müssten jedoch noch durchgeführt werden. Unsere Studie soll einen derartigen Forschungsansatz motivieren.

CliniCum neuropsy: Was sagt die aktuelle Studie nun im Detail aus?

Kasper: Es war seit Längerem bekannt, dass der Serotonin-Transporter nicht nur im Gehirn, sondern auch an Thrombozyten vorhanden ist. Ebenso bekannt war, dass die Blutplättchenfunktion bei depressiven Patienten verändert ist. Neu ist nun die Erkenntnis, dass es bei Gesunden einen Zusammenhang zwischen einer verminderten Serotoninaufnahme-Geschwindigkeit an Thrombozyten und der Funktionsweise gewisser Schaltkreise im Gehirn gibt, die mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT, Anm.) untersucht wurden. Wir können daher vermuten, dass ein solcher Zusammenhang zwischen dem Serotonin-Transporter an Blutplättchen und bestimmten Gehirnfunktionen auch bei Depressionen gegeben ist. Vermutlich ist er bei Depressiven unterschiedlich stark ausgeprägt, das muss aber erst an Patienten untersucht werden.

CliniCum neuropsy: Wofür steht das untersuchte „Ruhe-Aktivitätsnetzwerk (Default Mode Network: DMN)“ im Detail?

Kasper: Wie der Name schon sagt, handelt es sich dabei um ein Netzwerk von zahlreichen Hirnregionen, die in Ruhe aktiv und während der Durchführung von kognitiven Aufgaben supprimiert sind. Die Suppression ist notwendig, um entsprechende Ressourcen für die präfrontalen Exekutivregionen bereitzustellen. Auf psychologischer Ebene ist das aktive Netzwerk mit selbstreferenziellen Prozessen wie Tagträumen und Rumination in Verbindung gebracht worden. Depressive Patienten haben häufig Probleme in der Suppression dieses Netzwerkes, was sich durch vermehrtes Grübeln und Konzentrationsprobleme äußert.

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CliniCum neuropsy: Welche sind nun die nächsten Schritte zur Erforschung des Netzwerkes und des Serotonin-Transporters bei depressiven Patienten?

Kasper: Es gilt nun, entsprechende Studien zu planen und durchzuführen, bei denen zusätzlich klinische Charakteristika erfasst werden: So muss dokumentiert werden, ob es sich um eine Erstmanifestation oder um ein Rezidiv handelt. Ebenso müssen vorherige Behandlungen, das Ansprechen darauf und genetische Variationen des Serotonin- Transporters mituntersucht werden. Schließlich wissen wir, dass Variationen des Serotonin-Transporter-Gens mit einem kurzen Allel bei Depressiven häufiger vorkommen als jene mit einem langen Allel. In Zukunft werden wir dann vielleicht gar nicht mehr von „Depression“ sprechen, sondern von einem Stadium einer Erkrankung, die noch näher zu benennen ist.

CliniCum neuropsy: Wer sind dabei ihre wichtigsten Kooperationspartner?

Kasper: Wir sind in ein internationales Forschungsnetzwerk eingebunden, wobei die jeweiligen Partner einzelne Forschungsfragen zu beantworten versuchen. Darunter sind unter anderem die Freie Universität Brüssel oder die Universitäten in Paris, Athen, Tel Aviv und Bologna. Eine Herausforderung besteht allerdings darin, dass wir die Ergebnisse der Bildgebung nur eingeschränkt vergleichen können, da jedes Zentrum andere Geräte einsetzt. Wesentlich einfacher ist es dagegen, die Laborbefunde sowie die genetischen Befunde zu vergleichen, da die Tests standardisiert sind bzw. an einem Zentral- Labor durchgeführt werden.

CliniCum neuropsy: Könnte die Untersuchung des Serotonin-Transporters an Thrombozyten also eines Tages in die Routinediagnostik einfließen?

Kasper: Als Einzelbefund wird das Ergebnis vermutlich nicht in die Routinediagnostik einfließen, solange psychiatrische Diagnosen ausschließlich auf subjektiver und Fremdbeobachtung beruhen. Wohl aber ist es denkbar, dass dieser Befund gemeinsam mit vielen anderen Untersuchungsergebnissen hilft, Cluster zu bilden – wie erwähnt im Sinne eines Stagings und nicht anders, als dies bei organischen Erkrankungen der Fall ist. Wir müssen einfach damit aufhören, das Gehirn als allzu kompliziert zu betrachten, denn im Grunde genommen ist seine Funktionsweise gut überschaubar. Keinesfalls sollten einzelne Forschungsergebnisse jedoch den Anlass geben, in der Öffentlichkeit bzw. unter Patienten Erwartungen auf „einfache“ Diagnosen oder gar Therapien zu wecken.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Mag. Christina Lechner