In der psychosozialen Unterstützung sehen Betroffene genauso wie Fachleute den wichtigsten Aspekt in der Selbsthilfearbeit. Die Selbsthilfe-Organisation setzt zudem Initiativen, um mehr Aufmerksamkeit und damit Verständnis für die Erkrankung und ihre Folgen zu bewirken.

Läutet das Handy von Sigrid Kundela, dann möchten die meisten Anrufer zunächst einmal ihre ganz persönliche Geschichte erzählen. Oder es werden konkrete Fragen zur Organisation der Rehabilitation gestellt, genauso suchen Anrufer nach praktischen Tipps im Umgang mit Beeinträchtigungen in Folge eines Schädel-Hirn-Traumas (SHT). „Ich sehe es als eine meiner wichtigsten Aufgaben an, den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, über ihre Erfahrungen zu sprechen“, sagt Kundela. Die ehemalige Journalistin und Sport-Trainerin erlitt 1992 infolge eines Autounfalls ein schweres Schädel- Hirn-Trauma. In der Folge gründete sie gemeinsam mit dem Neurologen Dr. Nikolaus Steinhoff den „Verein der SHG für SHT Wien“, für den sie heute als Schriftführerin tätig ist. Österreichweit gibt es insgesamt acht regionale Selbsthilfegruppen (SHG) für Schädel-Hirn-Trauma/ Schädel-Hirn-Verletzung, gemeinsam sind sie unter dem Dach der Österreichischen Gesellschaft für Schädel-Hirn-Trauma (ÖGSHT) zusammengeführt.
„In meiner damaligen Situation führten die unmittelbaren Folgen zu schweren Depressionen. Der erste Kontakt zu anderen Betroffenen, die zum Teil an noch viel schwereren Folgen litten als ich, war für mich ein Schlüsselerlebnis. Es hat mir einfach geholfen, mit meiner eigenen Situation besser zu Recht zu kommen.“ Heute gibt Kundela alle zwei Monate die österreichweit verbreitete Zeitschrift „SHT-News“ heraus, organisiert Ausflüge für die Mitglieder der Wiener Selbsthilfegruppe genauso wie Charity- Events.
Auch für Dr. Nikolaus Steinhoff, Leiter der Neurologischen Ambulanz am Landesklinikum Hochegg (NÖ) und Präsident der ÖGSHT, ist das Engagement für die Selbsthilfe mittlerweile „Teil des Alltags geworden“. Unter anderem steht Steinhoff bei den Treffen der Wiener Selbsthilfegruppe ebenso wie weitere Experten für medizinische Anfragen zur Verfügung und hat eine Servicestelle für Schädel-Hirn- Trauma eingerichtet.

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Soziale Unterstützung

Das größte Plus in der Selbsthilfegruppentätigkeit sieht Steinhoff in der Beratung von Betroffenen für Betroffene. „Als Fachpersonen sprechen wir meist eine andere Sprache, wir können zwar über Therapien und medizinische Verfahren aufklären, wirklich verstanden fühlen sich Patienten oder deren Angehörige meist aber nur von jenen, die Ähnliches erlebt und durchgemacht haben“, weiß Steinhoff. „Das betrifft die Bewältigung des Alltags genauso wie alle sozialen Aspekte rund um die Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas.“
Die soziale Anbindung ist ein ganz wesentlicher Punkt für jene Personen, die zu den regelmäßigen Treffen kommen, bestätigt auch Kundela. „Bei vielen Betroffenen geht infolge des Unfalls ein Großteil des Freundeskreises verloren, ebenso das berufliche soziale Umfeld. So ist man gefordert, sich ein neues soziales Netz aufzubauen, dafür sind wir allerdings selbst verantwortlich, Ärzte und Therapeuten können uns dabei kaum helfen.“ So wie bei Kundela besteht nach dem Unfall und dem Schädel- Hirn-Trauma für viele Betroffene der Freundes- und Bekanntenkreis aus Menschen, die „irgendwie mit dem Schädel-Hirn-Trauma zu tun haben“. Zu den jeweiligen Gruppentreffen kommen übrigens in etwa gleich viele Betroffene und Angehörige, ergänzt Kundela. So weit als möglich bieten die Mitglieder der Wiener Selbsthilfegruppe eine Beratung bereits in den Spitälern an, einmal monatlich gibt es einen Informationsnachmittag am AUVA-Rehabilitationszentrum in Meidling.

Häufig komorbide Depressionen

„Das Schädel-Hirn-Trauma ist immerhin die zweithäufigste neurologische Erkrankung nach dem Schlaganfall“, erklärt Steinhoff. Zwischen 20.000 und 30.000 Diagnosen werden jährlich gestellt, es dürfte aber gerade nach einer „Mild Brain Injury“ noch eine hohe Dunkelziffer geben. Die besondere Herausforderung für Ärzte und Therapeuten: Ursachen und Verläufe sind zwar einerseits durch das Ausmaß der Hirnverletzung sehr individuell und viele Symptome ganz unspezifisch. Andererseits ist die hohe Rate an komorbiden Depressionen vielen gemeinsam, ebenso die Langzeitfolgen. „Die begleitende Depression hat zum einen biologische Ursachen, zum anderen handelt es sich um eine reaktive, lebensbezogene Folge davon, dass das Leben nach dem Ereignis nicht mehr so ist, wie es vorher war“, erklärt Steinhoff. Das dramatische und plötzliche Ausmaß der Hirnverletzung ist meist die Folge eines Unfalls, bei dem das Gehirn gegen die knöcherne Schädelkapsel gedrückt, deformiert und an vielen Stellen zugleich verletzt wird.
Zu den charakteristischen Folgen gehören auch eine Beeinträchtigung exekutiver Funktionen im Frontalhirn, Konzentrationsstörungen oder vermindertem Antrieb. „Dies stellt Betroffene gerade nach abgeschlossener Rehabilitation bei einer Wiedereingliederung ins Berufsleben vor immense Schwierigkeiten. Umso wichtiger ist es, dass es Stellen gibt, wo Verständnis und Erfahrung im Umgang mit derartigen Langzeitfolgen vorhanden sind“, meint Steinhoff. Umgekehrt dürfe ein Schädel- Hirn-Trauma aber nicht als Entschuldigung für alle sozialen und psychischen Probleme der Betroffenen angeführt werden. „Daher sollte aus ärztlicher und therapeutischer Sicht stets auch die prämorbide Situation evaluiert werden“, meint Steinhoff.

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Handlungsbedarf

Als eine zentrale Aufgabe und Ziel der Selbsthilfearbeit sehen Steinhoff und Kundela daher auch die Öffentlichkeitsarbeit an: „Es gilt, auch in medizinischen Fachkreisen die Erkrankung und ihre Folgen noch besser bekannt zu machen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Kollegen Patienten und Angehörige an unser Service- Telefon verweisen“, sagt Steinhoff. Handlungsbedarf orten die beiden zudem in der Langzeitpflege. „Noch immer werden viel zu viele junge Menschen nach einem Schädel- Hirn-Trauma in Alten-Pflegeheimen betreut. Die Einrichtung von Wohngemeinschaften wäre eine gute Möglichkeit, die nötige Versorgung zu bieten“, betont Kundela.
Auch eine intensivere Vernetzung der einzelnen Vereine in den Bundesländern steht ganz oben auf der Prioritätenliste der ÖGSHT: Immerhin sind deren Ziele ganz ähnlich, an der Spitze steht der Wunsch nach einer bestmöglichen Rehabilitation für den einzelnen Patienten, erreicht durch ein Teamwork aus Ärzten, Therapeuten, Angehörigen und eventuell auch anderen Betroffenen.

SHT im Film

Auf die Erfahrung der SHT-Betroffenen zählt übrigens sogar die in Österreich lebende Schauspielerin Angela Gregovic: In einem aktuell produzierten Film mimt Gregovic ein Opfer eines Unfalls, das ein Schädel-Hirn- Trauma erleidet. Um die Folgen möglichst realistisch darzustellen, nahm die Schauspielerin gewissermaßen Unterricht bei Kundela: „Sie hat sich eingehend über die unmittelbaren Unfallfolgen informiert und unter anderem ganz genau meine charakteristische Art zu gehen angeschaut“, schildert Kundela.

Autorin: Mag. Christina Lechner