Essstörungen sind relativ seltene, aber häufiger werdende, zumeist schwere psychiatrische Erkrankungen, die einen hohen Leidensdruck bei den Betroffenen und ihren Familien erzeugen. Die Betroffenen sind in der Regel Mädchen und junge Frauen, aber auch Knaben kommen vermehrt zu klinischer Beachtung.

Essstörungen sind definitionsgemäß keine Ernährungsstörungen, sondern schwere psychiatrische Erkrankungen, die häufig mit somatischen Komplikationen einhergehen. Ihre Klassifikation befindet sich mit Erscheinen des amerikanischen Diagnosesystems DSM in der 5. Auflage (APA, 2013) im Umbruch, da es innerhalb von zwei Jahren auch zu einer Veränderung der in Österreich gültigen WHO-Klassifikation ICD in der 11. Auflage kommen wird. Wurden bisher Fütterstörungen der Kindheit und Essstörungen in getrennten Kapiteln geführt, führt das DSM-5 diese beiden Bereiche zusammen und benennt ein Kapitel „Fütter- und Essstörungen“. Adipositas wird weiterhin nicht in dieses Kapitel einbezogen, da sie nicht als psychiatrische Erkrankung gelten kann.
In der gültigen Klassifikation der WHO (ICD-10) werden im Subkapitel 50.x die Störungen Anorexia nervosa (AN; Code: F50.0, Tabelle 1), Bulimia nervosa (BN; F50.2, Tabelle 2), ihre atypischen (weil symptomatisch unvollständigen) Varianten (AN-atypisch; F50.1 und BN-atypisch; F50.3) sowie Essattacken bei anderen psychischen Störungen (z.B. unter Belastungen) (F50.4), Erbrechen bei anderen psychischen Störungen (wie z.B. bei dissoziativen Störungen) (F50.5), sonstige spezifische Essstörungen (z.B. psychogener Appetitverlust) (F50.8) und nicht näher bezeichnete Essstörungen (F50.9) definiert. Störungen der Nahrungsaufnahme und Fütterstörungen der Kindheit werden derzeit nicht unter den Essstörungen kodiert, sondern unter F98.2 (Fütterstörung) und F98.3 (Pica).

Krankheitsbilder und wichtigste Symptome

Die drei klinisch bedeutsamsten und am besten charakterisierten Essstörungen sind Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung. Ihre diagnostischen Kriterien sind tabellarisch dargestellt (Tabelle 1–3).
Anorexia nervosa („Magersucht“) ist charakterisiert durch Diäthalten bzw. Vermeiden hochkalorischer Speisen, was in letzter Konsequenz zu gefährlichen körperlichen Folgen bis zum Tode führen kann. Die Gleichsetzung des aus dem Griechischen stammenden Begriffs mit „nervös bedingter Appetitlosigkeit“ ist falsch, da die Betroffenen schon Hunger und Appetit verspüren, ihn aber unterdrücken.
Bulimia nervosa („Ochsenhunger“, aus dem Griechischen „bous“ = Ochse und limos = Hunger) ist eine Essstörung, die sich durch Anfälle von unkontrolliertem Heißhunger auszeichnet, die zu Essattacken (Fressattacken) mit meist nachfolgendem Erbrechen oder Abführmittelabusus (Purging-Verhalten = wieder eliminieren, „rausputzen“) führt, was einer Gewichtszunahme entgegenwirkt.
Binge-Eating-Störung (aus dem Englischen binge = Heißhungeranfall) ist die häufigste Essstörung, die durch Heißhungeranfälle, die nicht mittels gegenregulatorischen Maßnahmen entschärft werden, definiert ist.

Epidemiologie der Essstörungen

Bisher fehlen in Österreich für das gesamte Bundesgebiet repräsentative Daten über die Häufigkeit von Essstörungen im Kindes- und Jugendalter und im Erwachsenenalter. Wir greifen daher auf Erhebungen in europäischen Ländern zurück, da anzunehmen ist, dass die Prävalenzund Inzidenzzahlen gegenüber denen in anderen westlichen Staaten nicht wesentlich differieren. Zur Häufigkeit der Essstörungen liegen Zahlen über mehrere Jahrzehnte vor. Die Ergebnisse sind je nach Herkunftsland (Europa, USA, Asien), Geschlecht, Alter und untersuchter Population (Allgemeinbevölkerung, Primärversorgung, Sekundärversorgung) sehr heterogen. Für Anorexia nervosa kann eine Lebenszeitprävalenz bei weiblichen Erwachsenen in der Allgemeinbevölkerung von 0,9 Prozent, für Bulimia nervosa von 0,9–1,5 Prozent, für Binge-Eating-Störung von 1,9–3,5 Prozent angenommen werden.
Essstörungen treten zumeist zuerst im Jugendalter auf. Magersucht kommt am häufigsten bei Jugendlichen ab 14 Jahren vor, Bulimie etwas später (16 Jahre), während die Binge-Eating-Störung im späteren Jugendalter und frühen Erwachsenenalter ihre Spitze hat.
Nehmen Essstörungen in den letzten Jahrzehnten zu? Anorexia nervosa hat seit Jahrzehnten stabile Inzidenzraten in der primären Versorgung, die Inzidenz der Bulimia nervosa stieg ab 1980, scheint aber derzeit leicht rückläufig; zur Binge-Eating-Störung, deren Definition erst 1994 erfolgte und zu den anderen spezifischen oder unspezifischen Essstörungen liegen entweder wenige oder noch keine konsistenten Daten vor. Ein Anstieg in der Primärversorgung ist aber zu verzeichnen, die altersstandardisierte jährliche Inzidenzrate zwischen zehn und 49 Jahren stieg zwischen 2000 und 2009 von 32 auf 37/100.000 Einwohner. Mädchen und Frauen sind häufiger von Magersucht (2009-Inzidenzrate 14 weibliche vs. 1 männlichen/ 100.000), Bulimia nervosa (Inzidenzrate 20 weibliche vs. 1,5 männliche/100.000) und von „Unspezifischen Essstörungen“ (Inzidenzrate 28 weibliche vs. vier männliche/100.000) betroffen als Knaben oder Männer. Auch bei männlichen Kindern entwickelt sich in den letzten Jahrzehnten (nachweislich zwischen 1993 und 2004 in NÖ) vermehrt eine Disposition zu und erste Symptome von Essstörungen, die klinisch relevant zu werden beginnen.
Da keine gesamtösterreichischen epidemiologischen Daten bei Jugendlichen in Österreich vorliegen, wird im Moment eine solche Erhebung im Rahmen des MHAT-Projektes (www.mhat.at) durchgeführt, das die wichtigsten psychischen Störungen im Jugendalter und deren Risikofaktoren untersuchen und diese Lücke schließen soll. In der Screeningphase, die mit denselben Methoden wie die deutsche KIGGS-Studie vorgegangen ist, wurden 3.615 Jugendliche untersucht. Ähnlich wie in Deutschland 2006 fanden wir in unserer repräsentativen österreichischen Erhebung etwa 23 Prozent Verdachtsfälle für Essstörungen. Anders als in der deutschen Studie folgen nun Interviews zur Diagnosestellung der spezifischen Essstörungen.

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Früherkennung

Die für Erstversorgung und Weichenstellung des Managements der Essstörungen so wichtigen Allgemeinmediziner/ Schulärzte verkennen die Magersucht (AN) bei Jugendlichen in der frühen Adoleszenz häufig als „organische Erkrankung“. Psychosomatische Probleme und depressive Symptome werden erkannt, die spezifischen Symptome der Magersucht aber kaum (acht Prozent bei typischen Fällen). Die Kenntnis der Klinik der Magersucht ist immer noch unzureichend. Bei nicht so offensichtlichen Störungen wie Bulimie oder unspezifischen Essstörungen dürfte die Erkennungsrate noch geringer ausfallen.

Diagnosestellung und Differenzialdiagnosen

Die Diagnosestellung erfolgt zuerst klinisch aufgrund der systematischen Erhebung der vorliegenden Symptome, wie sie in der internationalen Klassifikation ICD-10 dargelegt sind. Strukturierte Interviews werden psychodiagnostisch eingesetzt bzw. sind im Forschungskontext unerlässlich. Ihr Einsatz bedarf guter Schulung und ersetzt niemals die klinische Erfahrung. So ist ein diagnostischer Fallstrick, Symptome zu übersehen bzw. nicht ausreichend diagnostisch zu würdigen, weil die Betroffenen sie trotz direkter Befragung nicht angeben. Dabei spielt bei einigen Betroffenen eine mitunter radikale Verleugnung ihrer Symptomatik eine Rolle, während bei anderen die dem Untersucher augenscheinlichen Symptome der Essstörung der eigenen Wahrnehmung nicht zugänglich sind. So kann zum Beispiel ein 13-jähriges Mädchen mit schwerer Magersucht vom Binge/Purging-Typus (BMI weit unter der 3. Perzentile, Gewichtsverlust auf die Hälfte des Körpergewichtes innerhalb von drei Monaten, massive Heißhungerepisoden mit nachfolgendem Erbrechen, Elektrolytentgleisungen mit EKG-Veränderungen, Osteoporose, hirnorganisches Psychosyndrom, depressives Syndrom und sozialer Rückzug) beim diagnostischen Interview auch bei Konfrontation mit diesem Syndrom lediglich eine leichte Konzentrationsschwäche als störend benennen. Nur die ausreichende Erfahrung in der Diagnostik ermöglicht es dem Arzt, die richtige Diagnose zu stellen und mit der Betroffenen zu einem (eventuell nur beschränkten) Einverständnis und einer Therapieplanung zu gelangen.
Differenzialdiagnostisch kommen für die Essstörungen alle Krankheiten infrage, die zu Gewichtsverlust (bis zur Kachexie), zu Erbrechen und fehlender Gewichts- und Größenentwicklung führen, allerdings ist die Motivation hinter dem gefundenen Verhalten (Angst zuzunehmen, Angst vor Gewichtszuwachs, extreme Bestimmtheit des Selbstwertes durch Figur und Gewicht) das entscheidende Unterscheidungsmerkmal. Zudem sind psychische Störungen (insbesondere depressive Störungen bei allen Essstörungen, Zwangs- und Angststörungen bei Magersucht und Bulimie sowie Störungen der Persönlichkeitsentwicklung und Suchterkrankungen beim bulimischen Spektrum) diagnostisch sowohl als Komorbiditäten als auch im differenzialdiagnostischen Prozess genauestens zu erfassen.

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Psychiatrisch klinisches Bild – Komorbiditäten

Essstörungen sind nahezu immer – sowohl komorbid als auch im Lebenszeitverlauf – mit anderen Störungsbildern bzw. Symptomen anderer Störungen verbunden. Insbesondere ein sehr hohes Suizidrisiko, das bei der Magersucht vorliegt (200-fach über der Normalbevölkerung und doppelt so hoch verglichen mit Patienten mit schwerer depressiver Episode) weist Magersucht als die schwerste und gefährlichste Erkrankung innerhalb der Psychiatrie aus.
Depressive Episoden (30–80 Prozent Lebenszeitprävalenz), Dysthymia, Zwangsstörungen (8–35 Prozent), Zwangssymptome, Angststörungen (35–70 Prozent), Schlafstörungen (frühmorgendliches Erwachen), Konzentrationsprobleme, selbstverletzendes Verhalten (bei An und BN), soziale Isolation und Libidoverlust treten im Verlauf häufig auf. Zum Teil sind diese Symptome durch den Hungerzustand, in dem sich die Betroffenen befinden, bedingt bzw. durch ihn verstärkt (siehe besonders: A. Keys’ Hunger-Experiment, 1950). Bulimia nervosa geht häufiger als AN mit Erkrankungen aus dem Suchtspektrum einher (bis 50 Prozent), auch diverse Persönlichkeitsstörungen kommen bei bis zu 80 Prozent der Betroffenen vor. Die Binge-Eating- Störung weist als häufigste Komorbiditäten Depressionen (etwa 50 Prozent) und Angststörungen (12–49 Prozent) auf.

Medizinische Folgen und Komplikationen

Essstörungen können medizinische Komplikationen verursachen, die über zwei Wege zustande kommen: Einerseits kann Unterernährung gepaart mit motorischer Hyperaktivität den Organismus übermäßig belasten, andererseits können Erbrechen und Laxantienabusus zu kardialen und neurologischen Komplikationen führen. Bei simultanem Auftreten beider Wege (wie z.B. bei der Diagnose F50.01) sind am häufigsten schwerwiegende Komplikationen zu beobachten. Die Diagnose dieses Subtypes sollte daher die höchste medizinische Aufmerksamkeit nach sich ziehen.
Wir finden endokrinologisch den Ausfall der Regelblutung (primäre oder sekundäre Amenorrhö) aufgrund von Östrogenmangel und eingeschränkte Fertilität aufgrund reduzierter Spiegel von FSH und LH (auch bei bulimischen Normalgewichtigen möglich), gastrointestinal Obstipation, Bauchschmerzen, verlangsamte Magenentleerung, generelle Symptome eines auf Energiesparen umgestellten Organismus mit Kältegefühl, Frieren, kalte und zyanotische Akren, Energieverlust bei geringen Energie- und Fettreserven besonders in der Kindheit, dermatologisch Auszehrung, Turgorverlust und Trockenheit der Haut, brüchige Haare und Nägel, Haarverlust am Haupt, Lanugohaare am Stamm, kardiovaskular/renal periphere Ödeme (besonders während einer erwünschten Gewichtszunahme), Knöchel- und Periorbitalödeme, arterielle Hypotonie, Bradykardie, kardiale Arrhythmien, Perikardergüssen, hämatologisch Petechien aufgrund von Thrombozytopenien, Gelbfärbung der Haut vor allem an den Handinnenflächen aufgrund von Hyperkarotinämie.
Als gefürchtete Langzeitkomplikation tritt Osteopenie bzw. manifeste Osteoporose auf, die aufgrund der Trias Hypokalzämie plus Östrogenmangel plus Kortisolerhöhung relativ rasch eintreten kann. Sie kann im Extremfall zu pathologischen Frakturen führen. Ein Stopp des Längenwachstums ist, wenn die Erkrankung nicht vor Abschluss der Epiphysenfugen geheilt ist, letztlich irreversibel. Typisch und pathognomonisch für BN sind Narben am Handrücken, das sogenannte Russell’s sign, welches durch Kallusbildung nach regelmäßigem Gebrauch der Finger zum Auslösen des Erbrechens entsteht. Weiters führen das Erbrechen von Speisebrei zu einer blanden Hypertrophie der Speicheldrüsen sowie Elektrolytentgleisungen (Hypokaliämie mit Herzrhythmusstörungen und Hyper- oder Hyponaträmie mit zerebralen Krampanfällen), Schmelzdefekten der Zähne, Zahnfleischproblemen und Karies, Mundwinkelrhagaden und Ulcera der Mundschleimhaut, angestrengtes Erbrechen kann zu Petechien und Hämatemesis führen. Massive Nahrungsingestion kann die Magenwand perforieren und über Peritonitis zum Tod führen, Diuretikaabusus wiederum zu akutem renalem Versagen.
Im Rahmen von Konzepten, die die Wiederauffütterung von schwer kachektischen AN-Patienten zu einem wichtigen und vorrangigen Ziel haben, ist besonders auf die Prophylaxe des gefürchteten, aber dem Laien oft unbekannten iatrogenen Refeeding-Syndromes zu achten. Dieses ist durch Symptome der Herzinsuffizienz, neurologische Symptome, periphere Ödeme und Schmerzen des Bewegungsapparates gekennzeichnet. Kohlehydrat-lastige Kost sowie Nahrung mit forcierter Kalorienanzahl sind daher (besonders in den ersten drei Wochen) zu vermeiden.

Pathologische Laborwerte und Untersuchungen

Die regelmäßige Kontrolle der Laborparameter ist als medizinische Begleitmaßnahme der Behandlung wichtig. Bei schweren Verläufen kann es zu Kaliummangel (<2mmol/l) (!) kommen, Hyponatriämie (durch Laxantien und Dursten) kann zu zerebralen Krampfanfällen führen, Hypophosphatämie zu Tetanie, eine Erhöhung des Bicarbonats (40mmol/l möglich) im Sinne einer metabolischen Alkalose kann ebenfalls zu zerebralen Krampfanfällen führen. Leukopenie (1000/ml), Hämoglobin unter 6mmol/l, Thrombopenie, Eisen-, Mg- und Zinkmangel, Reduktion der Leberfunktion (Cholestaseparameter: AP plus Gamma- GT-Anstieg; Lebersyntheseparameter: CHE reduziert; Lebernekroseparameter: mögliche Erhöhung), Hypercholesterinämie (über 7mmol/l möglich und paradox. Hypoglucosämie kann zusammen mit körperlicher Überanstrengung mitunter als Todesursache gelten. Die Reduktion der Schilddrüsenhormone (Low-T3-Syndrom) versetzt den Organismus in die Lage, Energiereserven zu sparen und den Grundumsatz herabzusetzen.
An Untersuchungen sind obligat: Anamnese, körperliche Untersuchung, neurologische Untersuchung, psychopathologischer Status psychicus, oben genannte Laborparameter, wöchentliche Bestimmung des Körpergewichts, EKG, Messung der Knochendichte, CCT bzw. craniales MRT zum Ausschluss von zerebralen Raumforderungen. An Untersuchungen sind fakultativ: EEG, C/P Röntgen, Echokardiographie, Abdomen-Ultraschall, Gastroskopie.

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Entstehungsbedingungen

Essstörungen haben keine isolierten Ursachen. Immer müssen verschiedene Risikofaktoren in einem Leben zusammentreffen, damit die Erkrankung ausbricht. Den Bedingungen der Entstehung kann am besten im Rahmen eines bio-psychosozialen Krankheitsmodelles Rechnung getragen werden.
Als Risikofaktoren für die Entstehung der Anorexia nervosa gelten: Das weibliche Geschlecht (90–95 Prozent Frauen); Biologisch: Genetisch: Zwillingsstudien und Familienstudien zeigen, dass Essstörungen in Familien gehäuft vorkommen. Molekulargenetische Untersuchungen (Assoziationsstudien, Koppelungsstudien) zeigten – vor Allem bei AN – erste Muster. Whole-Genome-Assoziationsstudien (bisher vier) ergaben noch kein einheitliches Bild, aber interessante statistische Trends. Höhere Fallzahlen (8.000–10.000 „Fälle“) sind hier aufgrund mangelnder Power der bisherigen Studien zwingend nötig. Auffälligkeiten der Neurotransmittersysteme, die in der Regulation von für Appetit, Stimmung, Affekten und des Hunger-Sättigungs- Gefühls involviert sind (Serotonin, Dopamin) wurden gefunden. Schwangerschaftskomplikationen sind häufiger.
Psychologisch: Kindliche Angststörungen, niedriger Selbstwert und perfektionistische Haltung im Leben sind nahezu ubiquitäre Voraussetzungen für die Entstehung von Essstörungen. Hohe Sensitivität für Umwelteinflüsse machen später Betroffene sehr vulnerabel für negative Einflüsse wie z.B. Traumatisierungen. Die Hoffnung ist gemäß dem Plastizitätsmodell begründet, dass die Betroffenen aber auch für positive Umwelteinflüsse (wie z.B. Therapie) empfänglicher sind.
Psychosoziale Auslöser und Folgen: Die Familien können nicht prinzipiell für die Entstehung der Essstörungen verantwortlich gemacht werden. Erstens treten Muster auf, die in allen Familien mit chronisch kranken Kindern auftreten können, was auf die mit der Krankheit einhergehende Belastung zurückzuführen ist. Zweites scheinen die Familien oftmals Probleme mit der Anpassung an die Adoleszenz ihrer Tochter und der damit zunehmenden Unabhängigkeit zu haben. Konflikte um die erwachende Sexualität und eventuell Reaktualisierung früherer sexueller Traumata sind relevante Einflussgrößen von großer individueller auslösender Bedeutung.
Für die Bulimia nervosa stellen folgende Faktoren ein Risiko dar: Weibliches Geschlecht (90% Frauen); AN-Anamnese (1/3 bis 1/2 der BN-kranken); Diäthalten hebt die Auftretenswahrscheinlichkeit von BN um das Achtfache; kindliche Adipositas, Störung des Serotoninhaushalts; Selbstwertproblematik; soziale Phobien; Familienbeziehungen: starkes elterliches Kontrollverhalten, Fehlen von Wärme sind immer wieder nachweisbar; körperlicher und sexueller Missbrauch; affektive Störungen, Alkohol und Essstörungen bei anderen Familienmitgliedern.
Für die Binge-Eating-Störung stellen folgende Faktoren ein Risiko dar: sexueller Missbrauch, physische Vernachlässigung; Adipositas während der Kindheit; Selbstwertproblematik; negative Lebensereignisse; vermeidendes Coping; geringe soziale Unterstützung; Mobbing bzgl. Figur, Gewicht, Essverhalten.

Integrative Modelle

Integration biologischer/genetischer Befunde und psychosozialer ist derzeit ein Desiderat an die Forschenden, um aus der Einengung aus rein biologistischer oder rein psychologischer Sicht herauszukommen. Gen-Umwelt- Interaktionsdaten liegen dazu erstmals vor, die zeigen, dass elterliches Erziehungsverhalten nur unter bestimmten genetischen Bedingungen beim Kind das Risiko, AN zu entwickeln, erhöht. Niemals ist die Umwelt alleine verantwortlich, eine sogenannte „anorexiogene Mutter“ gibt es nicht. Die neuerdings immer genauer erforschten biologischen Grundlagen der Essstörungen (Genetik, Neurotransmission, Bildgebung) ermöglichen es, integrative Modelle zu entwickeln, die der Wirklichkeit eher gerecht werden als bisherige Modelle.

Therapieempfehlungen

Die Behandlung der Essstörungen ist multimodal und multidisziplinär ausgerichtet. Neben unbedingt nötiger allgemeinmedizinischer bzw. pädiatrischer Diagnostik und regelmäßiger fachärztlicher Kontrolle ist in allen Fällen Psychotherapie indiziert. Entscheidend sind die Erstellung eines Gesamtbehandlungsplanes und die Definition eines für die Therapie verantwortlichen „Case-Managers“, wofür der Kinder- und Jugendpsychiater/Psychiater der ideale Facharzt ist. Da die Therapie oft über viele Jahre und im Rahmen verschiedener Settings (ambulant, tagesklinisch, stationär) stattfindet ist Case-Management gerade bei Magersucht und Bulimie sehr wichtig. CAVE: An den Settingsübergängen kann es im ungünstigsten Fall zum Abbruch der Behandlung kommen.
Die besten Erfolge können dort verzeichnet werden, wo die Patienten – zumeist über mehrere Jahre – kontinuierlich durch ein Team behandelt werden. So wird beispielsweise an der Ambulanz für Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen am AKH Wien besonders auf diese Nachhaltigkeit geachtet. Beziehungsaufbau (tragfähige Arzt-Patienten- Beziehung) vom Beginn des ersten Ambulanzkontaktes, Begleitung während stationärer Behandlungsphasen und Weiterbehandlung in neuerlicher langfristiger ambulanter Therapie durch dieselbe Person bzw. dasselbe Team hat die beste Chance auf Erfolg, insbesondere bei schwerkranken Patienten.
Dieser Gesamtbehandlungsplan ist vor allem bei Magersucht von ganz wesentlicher Bedeutung. Körpergewichtsnormalisierung und Restitution eines gesunden Körpergewichtes durch Etablierung eines geregelten Essverhaltensplanes in unabhängig vom Setting – gemäß aller Leitlinien der Therapie – essenziell, um das durch Mangelernährung funktionell beeinträchtigte Gehirn wieder ausreichend mit essenziellen Nahrungsmitteln zu versorgen. Der Einsatz unterschiedlicher Therapieformen (Ernährungsberatung, Körpertherapie, Ergotherapie, kreative und Ausdruckstherapien, Musiktherapie, Soziotherapie u.a.) ist dabei neben den klassischen Formen von individueller Psychotherapie und Gruppenpsychotherapien unterschiedlicher Provenienz insbesondere in tagesklinischen und stationären Settings üblich.
In der Behandlung der Essstörungen muss man zwischen medizinischen Maßnahmen und psychotherapeutischen, sowie rehabilitativen Zugängen unterscheiden.
Jeder von einer Essstörung Betroffene benötigt ärztliche Begleitung. CAVE: Psychotherapie ohne kompetente ärztliche Begleitung ist ein Kunstfehler! Klinische Erfahrungen mit Essstörungen sind dafür Voraussetzung. Evidenzbasierte medikamentöse Therapie ist bei Magersucht nur für die komorbiden psychischen Störungen sinnvoll einsetzbar, bei Bulimie kann der Einsatz von SSRIs wie z.B. Fluoxetin eine Linderung der Symptomatik bewirken, bei Binge-Eating- Störung haben Antidepressiva und Topiramat ein mögliches Einsatzgebiet. Der Einsatz von atypischen Antipsychotika für AN ist noch im Erprobungsstadium, im Jugendalter nur unter „Therapeutischem Drug Monitoring“. Rezente Ausführungen dazu finden sich im Heft Clincum Neuropsy 3/2014; 24-27: Mitterer-Asadi et al. 2014).
Zur psychotherapeutischen Behandlung der Essstörungen besteht je nach Lebensalter (Jugendliche vs. Erwachsene) und Diagnose (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Binge-Eating-Störung) unterschiedlich gute Evidenz (gemäß den Leitlinien). Für Magersucht bei Jugendlichen besteht die beste Evidenz für familienbezogene Ansätze im Sinne des „Maudsley model of care“, für Magersucht bei Erwachsenen gibt es keine international akzeptierte Empfehlung. Für Bulimia nervosa gibt es für alle Altersgruppen die Empfehlung, kognitive Verhaltenstherapie einzusetzen, daneben interpersonelle Therapie, in weiterer Folge aber auch dialektische Verhaltenstherapie, Emotionsregulationstherapie und Schematherapie. Für die Binge- Eating-Störung liegen wirksame Therapiemanuale kognitiv- verhaltenstherapeutischer Provenienz vor.
Da unter prognostischen Gesichtspunkten auch unter erfolgter leitlinienorientierter State-of-the-art-Therapie nicht allen Patienten mit Essstörungen ausreichend geholfen werden kann, sind innovative Ansätze der Behandlung gefragt. Dazu zählt der erfolgreiche Einsatz von Online- Verfahren zur Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa und die Erprobung von neuropsychologisch basierten Verfahren bei schwerer Magersucht wie die „Kognitive Remediation Therapy – CRT“. Der fachgerechten Unterstützung der Eltern/Partner kommt sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen große Bedeutung zu. Innovative Ansätze zur Therapie der Bulimia nervosa und zur Binge-Eating-Störung mittels Online-Verfahren oder CD-ROM-basierten Verfahren erreichen andere Zielgruppen und bieten praktikable Zugänge zur Therapie. So konnte rezent ein Selbsthilfe-Manual für Bulimia nervosa, das auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Methoden beruht, in einer Buchversion und einer Internet-basierten Version vergleichend an 150 jungen Frauen randomisiert getestet werden und sowohl für den Kurzzeitverlauf als auch nach eineinhalb Jahren gute und stabile Wirkung bei 70 Prozent der Klienten gezeigt werden.
Zwei rezente Arbeiten zur Therapie der Anorexia nervosa, die noch nicht in den Leitlinen Berücksichtigung finden konnten, und die in „The Lancet“ erschienen sind, befassen sich mit dem aktuellen Thema der Kosteneffizienz von tagesklinischen Strukturen im Vergleich zu stationären Einrichtungen (Herpertz-Dahlmann et al., 2014) und mit der differenziellen Wirksamkeit von psychoanalytisch geprägten und verhaltenstherapeutischen Zugängen im stationären Setting in Deutschland (Zipfel et al., 2014).
Im Rahmen der Studie von Herpertz-Dahlmann et al. (2014) wurden jugendliche Patientinnen nach kurzer stationärer Phase randomisiert entweder in tagesklinischem Arm (n=85) oder in stationärem Arm (n=87) weiterbehandelt. Nach zwölf Monaten erreichten die tagesklinisch weiterbehandelten Patientinnen einen halben BMI-Punkt mehr als die stationären Patientinnen. Die tagesklinische Nachbehandlung zeigte sich der stationären Therapie nicht unterlegen, allerdings als kostengünstiger. Diese Studie hat hohe praktische Relevanz.
Im Rahmen der Studie von Zipfel et al. (2014) wurden 160 Patienten (Alter im Mittel 28 Jahre) randomisiert entweder mit „Enhanced-Verhaltenstherapie“ (n=80) oder mit fokaler psychodynamischer Therapie (n=80) behandelt. Vergleichend erfolgte ein weiterer Arm, der als „treatment as usual“ (TAU) benannt wurde (n=82). Ein signifikanter Zuwachs an BMI-Punkten fand sich in allen drei Armen in vergleichbarer Weise, wobei er in der Verhaltenstherapiegruppe etwas schneller erfolgte. Auch der Rückgang der allgemeinen Psychopathologie war in der Verhaltenstherapiegruppe etwas rascher. Der gute Erfolg in der „Treatment-as-usual-Gruppe“ gegenüber den spezialisierten Therapieangeboten ist auffällig, wird aber durch die hohe Güte der TAU-Condition zum Teil erklärt. Der geringe Unterschied zwischen den Verum-Armen ist eine wichtige neue Erkenntnis von hoher Praxisrelevanz.
Um der elterlichen schweren Belastung durch die Erkrankung und der oft dysfunktionalen Umgangsweise mit dieser bei ihren Kindern gerecht zu werden, haben wir ab Oktober 2014 an der Ambulanz für Essstörungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie des AKH Wien ein intensives Psychoedukationsprogramm implementiert, das internationale Erfahrungen einbindet und im Rahmen einer randomisiert kontrollierten Studie überprüft wird (Projekt zur Erfassung zur Angehörigenarbeit bei Jugendlichen mit Essstörungen (2014–2017): randomisiert kontrollierte Studie am AKH Wien in Kooperation mit der Parklandklinik (www.karwautz.at/documents/flyersucceat.pdf).
Umfassende Leitlinien zur Therapie wurden von der Amerikanischen Psychiatriegesellschaft (APA, 2006), dem National Institute of Clinical Excellence (NICE, 2004) und rezent durch die deutschen Fachgesellschaften – (S3-Leitlinien, Herpertz, 2011) herausgegeben. Die World Federation of Societies of Biological Psychiatry veröffentlichte eine Leitlinie zur Psychopharmakotherapie der Essstörungen (Aigner et al., 2012; Buchartikel: Karwautz et al., 2011) (alle siehe www.karwautz.at). Sie sind online verfügbar.

Zusammenfassung

Das Entstehungsgeschehen der Essstörungen ist komplex, Komorbiditäten und somatische Komplikationen sind häufig, die Therapie ist multimodal und häufig langjährig. Frühzeitige und spezialisierte Intervention ist ein Desiderat, um chronifizierende Verläufe zu vermeiden und Lebensqualität und Weiterentwicklung der betroffenen Systeme zu fördern. Dabei kommt für die möglichst frühe Intervention den Allgemeinmedizinern und Pädiatern sowie den Schulärzten als ersten Ansprechpartnern größte Bedeutung zu. Die Behandlung sollte immer die Kombination von Psychotherapie, medizinischer Versorgung durch Pädiater oder Allgemeinmediziner, fachärztlicher psychiatrischer bzw. kinder- und jugendpsychiatrischer sowie diätologischer Maßnahmen beinhalten. Ergänzende Therapien wie Körpertherapie, Ergotherapie, Kunst- und Musiktherapie sind je nach Verfügbarkeit dringend anzuraten.

Autoren: Univ.-Prof. Dr. Andreas Karwautz, Dr. Gudrun Wagner
Ambulanz für Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Wien

Literatur bei den Autoren

Aufbauend auf einem Beitrag, der in der Österreichischen Ärztezeitung am 10. Oktober 2013 (Seiten 22–31) erschienen ist, wurde dieser Text adaptiert und erweitert.

Lecture Board: Univ.-Prof. Dr. Ursula Bailer, o. Univ.-Prof. Dr. h.c. Dr. Siegfried Kasper

Weiterführende Internet-Ressourcen
www.ess-stoerung.eu

www.mhat.at

www.karwautz.at/documents/flyersucceat.pdf

www.netzwerk-essstoerungen.at

www.oeges.or.at

www.essstoerungshotline.at

www.succeat.at