Mit dem zunehmenden Flüchtlingsstrom in Richtung Europa rücken auch die psychopathologischen Auswirkungen traumatischer Lebensereignisse verstärkt in den Mittelpunkt.

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht das Thema Flüchtlinge für Schlagzeilen sorgt. Alleine infolge des Bürgerkrieges in Syrien sind bereits mehrere Millionen Menschen aus ihrer Heimat geflohen, die Hälfte davon Kinder, berichtet die Caritas. Wie viele davon psychisch traumatisiert sind, lässt sich nur erahnen. „Die Folgen von Menschen-verursachten traumatischen Ereignissen, sogenannten ,Man-made disaster‘, sind viel schwerer zu behandeln als traumatische Erlebnisse infolge von Naturkatastrophen“, erklärt Dr. Barbara Zeman, Oberärztin an der 3. Psychiatrischen Abteilung am Otto-Wagner-Spital sowie Mitarbeiterin an der Medizinischen Ambulanz/Zentrum für Psychotraumatologie von ESRA (Hebräisch für „Hilfe“), bei einem wissenschaftlichen Seminar in Wien.

Nach dem „Man-made disaster“, so Zeman, fehle traumatisierten Personen meist das Gemeinschaftsgefühl; ihr Basisvertrauen in andere ist zutiefst erschüttert und Zukunftsperspektiven fehlen. Bei etwa einem Drittel der Menschen, die ein traumatisches Erlebnis selbst erlebt oder miterlebt haben, ist die Diagnose einer posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) zu stellen, bei einem Viertel davon entwickelt sich eine chronische PTSD. „Gemäß ICD-10 gibt es die Diagnose einer chronischen PTSD allerdings nicht, wir haben hier nur die Möglichkeit, eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F 62.0, Anm.) zu diagnostizieren, das ist sicher nicht günstig gewählt“, meint Zeman.

An therapeutischen Möglichkeiten stehen neben psychotherapeutischen Verfahren psychopharmakologische zur Verfügung, speziell SSRI bzw. SNRI und atypische Neuroleptika haben hier ihren Stellenwert. „Auch wenn Benzodiazepine nicht optimal sind, so kommt man nach traumatischen Ereignissen oft kurzfristig nicht ganz ohne sie aus“, ergänzt Zeman. Unter den psychotherapeutischen Verfahren bewährt sich neben EMDR auch die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) nach Reddemann, wenn eine rasche Stabilisierung erzielt werden soll. Traumaopfer lernen damit unter anderem, einen „sicheren inneren Ort“ zu schaffen.

Aktuelle Flüchtlingsbetreuung

Dass traumatische Erlebnisse bis ins hohe Lebensalter nachwirken, zeigen die Erfahrungen von ESRA. „Auch heute noch befinden sich KZ-Überlebende in Therapie, wobei zusätzliche somatische und psychische Symptome die Traumafolgen im höheren Alter meist wieder verschlimmern.“ Auch mit den psychischen Folgen der „Spiegelgrund-Überlebenden“ setzten sich die Traumaspezialisten von ESRA auseinander: „Viele davon sind bereits verstorben: Besonders problematisch war es jedoch für sie, dass sie lange um ihre Anerkennung kämpfen mussten und in der NS–Zeit als „asozial“ eingestuft wurden“, betont Zeman.

Bei ESRA nutzt man die Erfahrung in der Behandlung traumatisierter Menschen heute jedenfalls zunehmend in der Betreuung von Flüchtlingen. Es wurde ein Konsiliardienst für Flüchtlingsheime eingerichtet, und ein mobiles Team von ESRA betreut seit Jahren im Betreuungszentrum für Folterund Kriegsüberlebende Hemayat (Persisch/Arabisch für „Schutz“) Flüchtlinge und Asylwerber mit dem Ziel, die Behandlung und Betreuung von Migranten zu verbessern. „ESRA als eine jüdische Organisation stellt für die jüdische Bevölkerung Wiens einen sicheren Ort dar, und deshalb ist es unser Bestreben, dass Konflikte von außen nicht hereingetragen werden“, erklärt Zeman.

„Es kommen immer mehr“

Langjährige Erfahrung in der seelischen Betreuung von Flüchtlingen hat auch Dr. Friedrun Huemer, Psychologin und Psychotherapeutin sowie Obfrau von Hemayat. Rund 660 Menschen wurden von ihr und ihren Kolleginnen bei Hemayat 2014 behandelt, wobei es „erschreckend lange Wartelisten“ gebe. Aktuell bemerkt das Team von Hemayat auch eine steigende Nachfrage von Flüchtlingen aus den syrischen Kriegsgebieten. Der Bedarf an psychosozialer Unterstützung bzw. psychiatrischer Therapie werde jedoch oft erst nach der Klärung der dringendsten Lebensfragen deutlich: „Zunächst geht es den Menschen einmal darum, überhaupt eine Wohnmöglichkeit zu finden oder die Kinder versorgt zu wissen. Erst danach machen sich die psychischen Symptome ihrer traumatischen Erfahrungen bemerkbar“, schildert Huemer.

Die PTSD mit all ihren Spielarten sei bei Weitem die häufigste Diagnose; „nicht zu vergessen, dass sie sich sogar in psychotisch anmutenden Symptomen äußern kann“. Fast alle Klienten werden zunächst psychiatrisch behandelt, eine Reihe niedergelassener Fachärzte sowie der Psychosoziale Dienst kooperieren dazu mit Hemayat. „Oft lässt sich erst durch die medikamentöse Stabilisierung der Kreislauf aus Schlafstörungen, Nervosität und Gereiztheit so weit unterbrechen, dass überhaupt eine Psychotherapie möglich wird.“ Überhaupt stünden Schlafprobleme häufig im Vordergrund – oft nicht nur infolge des Traumas, sondern auch durch die schlechte Unterbringungssituation bedingt.

In der Psychotherapie hat zunächst die Stabilisierung Priorität, an ein Aufarbeiten des Traumas sei mitunter lange nicht zu denken, wie Huemer berichtet. Die Therapien finden dabei im Hemayat-Zentrum oder in den Praxen der Therapeuten statt. „In den Heimen selbst gibt es meist keine entsprechenden Räumlichkeiten, zudem wollen viele Flüchtlinge nicht, dass es andere bemerken, wenn sie eine Psychotherapie machen“, erklärt Huemer.

Minderjährige Flüchtlinge

Im Jahr 2014 erreichten auch rund 2.000 minderjährige Flüchtlinge ohne Begleitung einer für sie verantwortlichen erwachsenen Person Österreich. Schon 2011 zeigte Ass.-Prof. Dr. Julia Huemer (eine zufällige Namensgleichheit mit Dr. Friedrun Huemer) von der Universitätsklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie in Wien in einer gemeinsam mit Kollegen veröffentlichten Studie, dass mehr als die Hälfte der untersuchten unbegleiteten minderjährigen afrikanischen Flüchtlinge in Österreich zumindest eine psychiatrische Diagnose aufweist: Anpassungsstörungen, PTSD und Dysthymien waren die häufigsten gestellten Diagnosen.

Bei jenen, die traumatische Kriegserlebnisse durchgemacht hatten, bestand erwartungsgemäß eine Korrelation mit dem Auftreten einer PTSD, überraschend war jedoch die relative Breite des Diagnosespektrums. „Berücksichtigt man, dass Asylverfahren mehrere Jahre in Anspruch nehmen können, so bedeutet dies ein ständiges Leben in Unsicherheit und eine erschwerte soziale Integration.“ Im Hinblick auf eine mögliche Progression in Richtung schwerwiegender sozialer Probleme oder psychopathologischer Entwicklungen mit externalisierenden Symptomen wäre eine frühzeitige Intervention und Stabilisierung jedoch enorm bedeutsam. Interventionen müssten allerdings in einem „kulturell sensiblen“ Umfeld erfolgen, wie Huemer auch in einem Beitrag im „Lancet“ (2009) beschreibt.

Unter den Widrigkeiten, mit denen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge konfrontiert sind, nennt Huemer das Fehlen sozialer Unterstützung oder familiärer, stützender Strukturen in einer besonders sensiblen Entwicklungsperiode. In einer weiteren Untersuchung konnten für die Jugendlichen individuelle Resilienzfaktoren – ein hohes Ausmaß an Repression, Leugnung von Stress und emotionaler Regulation –beschrieben werden, die in Bezug auf die soziale Integration eine große Rolle spielen.

Information: www.esra.at; www.hemayat.org

„Psychopathologie bei Flüchtlingen“, Wissenschaftliches Seminar, Wien, 26.3.15

Autor: Mag. Christina Lechner