Geschätzte 7.000 bis 8.000 seltene Erkrankungen sind bis heute bekannt, allein 1.000 davon fallen in den Bereich der Neurologie. Allen ist gemein, dass sie weniger als fünf von 10.000 Menschen betreffen, in einigen Fällen sogar nur einen von einer Million. Die Gesamtzahl der Betroffenen ist dennoch beträchtlich: rund fünf bis acht Prozent der Bevölkerung leiden an einer dieser „seltenen“ Erkrankungen. In dieser und in der nächsten Ausgabe stellt das CliniCum neuropsy eine Reihe von Rare Diseases in der Neurologie vor. 

Im Frühjahr 2016 wurde das Wiener Zentrum für seltene und unbekannte Krankheiten (CeRuD, http://cerud.meduniwien.ac.at) gegründet, um betroffenen Personen durch Interdisziplinarität und internationale Vernetzung eine bestmögliche Betreuung und neue Strategien zur Diagnose, Therapie und klinischen Versorgung zu bieten. Als Auftakt fand in Wien das erste Symposium des Ce- RuD statt, bei dem der Direktor des Center for Rare Neurological Diseases (CRND) der Northwestern University in Chicago, Prof. Dr. Dimitri Krainc, über seltene, genetisch bedingte neurodegenerative Erkrankungen sprach, die entscheidende Hinweise und Modelle für die Behandlung von M. Alzheimer und M. Parkinson liefern können.

Schlüsselmechanismen

Seltene und häufige neurodegenerative Erkrankungen haben einige molekulare Schlüsselmechanismen gemein, nämlich die Anhäufung von unterschiedlichen Proteinaggregationen. Diese Aggregationen haben verschiedene Bezeichnungen wie Neurofibrillary Tangles (NFT), Degenerationsfibrillen bei M. Alzheimer oder Lewy-Körperchen bei M. Parkinson, der Lewy-Körperchen-Demenz und der Multisystematrophie (MSA) oder „Inclusions“, den amyloidähnlichen Ablagerungen bei M. Huntington.

Ursache für diese Aggregationen ist einerseits eine erhöhte Proteinproduktion bzw. ein gestörter Abbau.  Im Normalfall unterliegen Proteine einer ständigen Proteolyse und einer Resynthese, um z.B. fehlgefaltete oder geschädigte Proteine zu entsorgen und zu erneuern, was durch das Proteasom oder den lysosomalen Weg geschieht. Fehlerhafte Proteine entstehen im Gehirn durch eine Reaktion von Aminosäuren mit Glukose und einer Reihe von Umlagerungs-, Oxidations- und Dehydrationsprozessen, was zu einem irreversiblen Cross-linking und in Folge zu einer Änderung der Proteinkonfiguration, zur Aggregation und letztendlich zum Funktionsverlust des Proteins führt.

Bei den mit Lewy-Körperchen assoziierten neurodegenerativen Erkrankungen ist vor allem das Protein α-Synuclein aggregiert, das bei M. Parkinson in den Neuronen und bei MSA in der Glia akkumuliert wird. „Eine der wichtigsten Lektionen, die wir von seltenen genetischen Erkrankungen und der Analyse von betroffenen Familien lernen können, ist, dass die Menge an α-Synuclein eine entscheidende Rolle spielt“, betont Krainc. Bereits geringfügige Änderungen in der Expression des für α-Synuclein codierenden SNCA-Gens sind ausreichend, um ein breites Spektrum an klinischen Phänotypen hervorzubringen.

Eine Verdreifachung des SCNA-Locus und der entsprechend erhöhten α-Synuclein-Produktion führt zu einem frühen Krankheitsbeginn, der im Durchschnitt bei etwas über 30 Jahren liegt und einem rapiden Verlauf folgt. Bei einer Duplikation des SCNA-Locus sind M. Parkinson und Demenz um das 50. Lebensjahr wahrscheinlich. Die α-Synuclein-Konzentration bedingt den Unterschied in Krankheitsbeginn und Verlauf.

Studienmodell Morbus Gaucher

Die Forschergruppe von Krainc setzte sich mit der Möglichkeit auseinander, bei einer erhöhten α-Synuclein- Konzentration die lysosomale Abbaufunktion der Neuronen zu verstärken. Als Studienmodell diente Morbus Gaucher, ein seltener, autosomal rezessiver, lysosomaler Speicherdefekt, der genetisch und klinisch mit M. Parkinson in Verbindung steht. M. Gaucher wird durch einen Mangel des Enzyms Glucocerebrosidase (GC) verursacht, wodurch dessen Substrat, das Glucosylceramid, in verschiedenen Körpergeweben akkumuliert wird, ebenso wie α-Synuclein.

Für M.-Gaucher-Patienten Typ I (ohne neuropathische Beteiligung) gibt es eine wirksame Enzym-Ersatz- bzw. Substrathemmungs- Therapie; für Typ II und III (neuropathischer M. Gaucher) sind die Therapiemöglichkeiten eingeschränkt (siehe auch Seite 38). M.-Gaucher-Patienten haben ein 20- bis 30-fach erhöhtes Risiko, zusätzlich eine Parkinson-Erkrankung zu entwickeln, und selbst für heterozygote Träger einer GC-Mutation besteht eine erhöhte Erkrankungswahrscheinlichkeit.

Umgekehrt haben Parkinson-Patienten mit einer Inzidenz zwischen zwei und neun Prozent Mutationen im GC-Gen. Diese gemeinsame Glucotransferase-Defizienz brachte die Arbeitsgruppe von Krainc auf die Idee, die molekularen Konzentrationen und Mechanismen von α-Synuclein und Glucocerebrosidase in ihrer Interaktion zu untersuchen (Mazulli et al., PNAS 2016, doi:10.1073/pnas. 1520335113; Mazulli et al., Cell 2011, 146:37–52). Aus Hautzellen von Patienten mit entweder M. Gaucher oder Parkinson samt GC-Mutation wurden induzierte pluripotente Stammzellen (iPS) reprogrammiert, zu dopaminergen Neuronen der Substantia nigra entwickelt und kultiviert.

Anhand dieser Kulturen wurden die Neuronennetzwerke und Zellsignalmechanismen in vitro und im Elektronenmikroskop studiert: Die Produktion und Aktivität der Glucocerebrosidase war stark verringert, und es gab eine deutliche Akkumulation von α-Synuclein. Umgekehrt stiegen bei einer Reduktion von α-Synuclein bestimmte Formen von GC stark an, was die Forscher zu dem Schluss brachte, dass dieses Protein am Transport von GC vom endoplasmatischen Retikulum (ER) ins Lysosom beteiligt ist.

Beim Gesunden wird GC vom endoplasmatischen Retikulum zu den Lysosomen transportiert und metabolisiert dort Glukosylceramid. Bei einer Mutation des Enzyms bleibt es im ER und kann seine degradierende Funktion im Lysosom nicht mehr ausüben. Dadurch kommt es dort zu einer Akkumulation von Glykosylceramid, das wiederum das α-Synuclein stabilisiert und dessen Oligomerbildung fördert, welche neurotoxisch wirkt und den Transport von GC zusätzlich hemmt.

Zielgerichtete Therapie

Um dieser positiven Feedback- Schleife einer sich selbst verstärkenden Erkrankung zu entkommen, verwendete die Forschergruppe verschiedene niedermolekulare Substanzen, die die Blut-Gehirn-Schranke passieren können, um einerseits GC im ER zu stabilisieren und seinen Weitertransport ins Lysosom zu verbessern und anderseits, um die Aktivität des Enzyms im Lysosom zu verstärken. Mit diesem Ansatz konnte eine erhöhte Aktivität von GC in Blut und CSF, bei einer gleichzeitigen Reduktion der α-Synuclein-Akkumulation und der Lipidansammlung im Lysosom, festgestellt werden.

Diese potenzielle zielgerichtete Therapie für Patienten mit GC-Mutationen und/ oder geringer GC-Aktivität wurde in den akademischen Labors der Forschungsgruppe konzipiert und mittlerweile zur Weiterentwicklung und Testung an die Industrie transferiert. „Die seltene Erkrankung M. Gaucher gab uns die entscheidenden Hinweise, um ein spezifisches Target für die Parkinson-Erkrankung zu identifizieren, das durch die Reduktion von Proteinaggregaten zur zukünftigen Behandlung von altersbedingten neurodegenerativen Erkrankungen führen kann“, schließt Krainc seinen Vortrag. „Gleichzeitig hoffen wir, dass die kleine Gruppe der M.-Gaucher-Patienten ebenfalls von dieser niedrigmolekularen Medikation profitieren wird – so diese Marktreife erreicht.“

Breites Forschungsfeld

In der Zwischenzeit wendet sich die Forschungsgruppe von Krainc den rund 60 anderen lysosomalen Speicherkrankheiten zu, die auf die eine oder andere Weise zerebrale Pathologien auslösen, um ihre Verbindungen zu häufigen neurodegenerativen Erkrankungen zu untersuchen.

Rare-Diseases-Symposium, Wien, 19.–20.2.16

Von Mag. Ingeborg Hirsch