Während ältere epidemiologische Arbeiten das Tourette-Syndrom als seltene Erkrankung einstuften, deuten neuere Daten darauf hin, dass es mit einer Lebenszeitprävalenz von bis zu einem Prozent vergleichbar häufig auftritt wie im Bereich der Psychiatrie beispielsweise die Schizophrenie. Einzelne, vor allem motorische, Tics kommen regelmäßig bei bis zu zehn Prozent der Bevölkerung vor. 

Das Gilles-de-la Tourette-Syndrom, kurz auch Tourette-Syndrom (TS) genannt, ist laut ICD-10 als Tic-Störung, bei der mehrere motorische und zumindest ein vokaler Tic vorkommen, definiert. Die Störung muss demnach vor dem 18. Lebensjahr begonnen haben, und die Tics müssen viele Male am Tage und „fast jeden Tag länger als ein Jahr“ ohne Remission in diesem Indexjahr, die länger als zwei Monate dauern darf, vorliegen. Entgegen einer auch in Medizinalkreisen weit verbreiteten Ansicht ist die Koprolalie, das Ausstoßen von Obszönitäten, nicht Bedingung für die Diagnose eines TS. Koprolalie kommt, je nach Studie, ohnedies nur bei zehn bis 40 Prozent der Betroffenen vor. In der Spezialsprechstunde des Verfassers entspricht der Anteil von Patienten mit Koprolalie eher dem niedrigeren Prozentsatz.

Phänomenologie

Tics sind unwillkürliche, plötzliche, schnelle, wiederholte, nicht rhythmische, stereotype Bewegungen oder Vokalisationen. In den meisten Fällen können Tics zumindest vorübergehend unterdrückt werden, wobei dies dem Kriterium der unwillkürlichen Auslösung nicht entgegensteht. Man kann sich dies veranschaulichen, indem man die Atmung, welche auch vorübergehend, aber nicht dauerhaft unterdrückt werden kann und die ebenfalls eine unwillkürliche Funktion darstellt, als Beispiel heranzieht. Teilweise gehen den Tics sensorische Phänomene, beispielsweise auf der Haut empfunden, voraus.

Foto: WikimediaBibliothèque Interuniversitaire de Médecine

Das Gilles-de-la Tourette-Syndrom ist nach dem französischen Neurologen Georges Gilles de la Tourette benannt, der 1884/85 eine Fallserie über neun von der Erkrankung betroffene Patienten veröffentlicht hatte. Bereits 60 Jahre zuvor hatte der ebenfalls französische Chirurg Jean Marc Gaspard Itard das Störungsbild beschrieben.

Tics, die mit einem solchen Vorgefühl verbunden sind, werden als sensorische Tics bezeichnet. Betroffene beschreiben das Gefühl, wenn es zu einem Tic kommt, als mit dem Anspannungsgefühl vor dem Niesen vergleichbar. Die Ausprägung der Tics ist zeitlichen Schwankungen unterworfen, mehrwöchige Phasen ausgeprägter Tics können von Phasen relativer Ruhe abgelöst werden. Stress und psychosoziale Belastung führen häufig zu Verstärkung der Tics, in sozialen Situationen werden Tics wenn möglich oft unterdrückt, nur um dann in Situationen, die dies eher erlauben (z.B. alleine auf der Toilette oder im Lift), umso mehr aufzutreten.

Man unterscheidet motorische und vokale Tics, die wiederum jeweils in einfache und komplexe Tics unterteilt werden. Beispiele für einfache motorische Tics sind Augenzwinkern, Kopfschütteln oder das kurze Anspannen von Körperteilen. Komplexe motorische Tics können beispielsweise Grimassen, das Berühren von Gegenständen oder auch ticartige Selbstverletzungen sein. Hierbei wird die Nähe zu Zwangsphänomenen deutlich. Ein Unterscheidungskriterium zu Zwangsphänomenen stellt die Anspannung dar, die beim Unterdrücken von Tics auftritt, während beim Unterdrücken von Zwangshandlungen zumindest von Erwachsenen eher Ängste als Anspannung beschrieben werden. Einfache vokale Tics sind Räuspern, Grunzen, Schnalzen mit der Zunge oder sonstige Nasal- oder Lippenlaute. Komplexe vokale Tics schließlich können einzelne Silben, Worte oder auch ganze Sätze oder Wendungen sein.

Ätiologie

Gilles de la Tourette und andere Neurologen des 19. Jahrhunderts gingen von einer organischen Genese der Erkrankung aus. Mit dem Siegeszug der Psychoanalyse traten dann bis in die 1960er Jahre ätiologische Konzepte, die das TS als psychodynamisch begründete Störung werteten, in den Vordergrund. Mit der Einführung der Neuroleptika und der damit verbundenen Behandelbarkeit wurden diese dann abermals von hirnorganischen ätiologischen Modellen abgelöst.

Im Rahmen des PANDAS-Konzepts (Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorders Associated with Streptococcal Infections) wurden Tic- Störungen in den 1990er Jahren als Ausdruck einer Immunreaktion gewertet, dies dürfte neueren Erkenntnissen nach jedoch nur auf ca. zehn Prozent der Fälle zutreffen. Der aktuelle Stand der Forschung geht von einer genetisch begründeten Erkrankung, die durch entsprechende Umwelteinflüsse moduliert wird, aus.

Linkage-Analysen haben verschiedene Genorte identifiziert, es ist von einer komplexen Vererbung auszugehen. Zwillingsstudien zeigten bei eineiigen Zwillingen eine Konkordanz von 50 bis 77 Prozent. Ein grundsätzliches methodisches Problem genetischer Studien zu TS ist jedoch die stark wechselnde Symptomatik sowie die phänomenologische Nähe zu anderen Bewegungsstörungen oder auch zu Zwangserkrankungen.

Pathophysiologie

Pathophysiologisch konnten Bildgebungsstudien eine Störung des kortiko-striato-thalamo-kortikalen Schaltkreises nachweisen. Zusätzlich werden Tic-Generierung und -Unterdrückung von limbischen und präfrontalen Strukturen beeinflusst, zerebelläre Einflüsse wurden  ebenfalls gezeigt. Läsionen der Phaserverbindungen und des Balkens konnten in strukturellen Studien ebenfalls nachgewiesen werden.

Komorbiditäten

Tourette-Patienten weisen ausgeprägte psychiatrische Komorbiditäten auf. 40 bis 90Prozent der Betroffenen leiden ebenfalls unter einer Zwangserkrankung, 65 bis 81 Prozent unter einem ADHS und 13 bis 57 Prozent je nach Studie, unter depressiven Symptomen. Bereits auf genetischer Ebene ist eine Überlappung zu Zwangserkrankungen, zum Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, zur Trichotillomanie und auch zum Autismus anzunehmen. Auf pathophysiologischer Ebene (Stichwort striatale Pathophysiologie) bestehen ebenfalls Parallelen zwischen Tic- Störungen und Zwangserkrankungen.

Therapie

Art und Ausprägung der Therapie sollten grundsätzlich vom Leidensdruck des Betroffenen und damit verbundener sozialer Funktionseinschränkung abhängen. Der Information des Patienten und seiner Umgebung kommt in allen Leitlinien ein großes Gewicht zu, in vielen, vor allem leichteren Fällen kann sich die therapeutische Intervention sogar darauf beschränken. Die längerfristige Prognose der Symptomatik wird durch eine Behandlung nicht beeinflusst, wohl aber unter Umständen die soziale Situation des Patienten, da die Störung häufig in negativer Weise auf den Betroffenen aufmerksam macht und entsprechend mit Konsequenzen in Schule und Arbeitsplatz sowie in der Familie und Partnerschaft einhergeht.

Die häufigen Komorbiditäten sollten beachtet und mitbehandelt werden, bei entsprechendem Schweregrad der Komorbiditäten sollte die Behandlung der Komorbiditäten sogar zunächst erfolgen, da die Beeinträchtigen der Lebensqualität hierdurch häufig höher ist als durch die Tourette-Störung selber. Die Behandlung sollte primär ambulant erfolgen, idealerweise im Rahmen einer Spezialsprechstunde. Falls dies nicht möglich ist, sollte zumindest eine konsiliarische Vorstellung bei einem spezialisierten Facharzt erfolgen. Bei hohen Schweregraden, starker psychosozialer Belastung oder ungenügender Krankheitsbewältigung reicht die reine Psychoedukation nicht aus, hier sollte gemäß Leitlinien aus dem deutschsprachigen Raum eine Pharmakotherapie mit einem D2-Blocker durchgeführt werden.

Amerikanische Leitlinien favorisieren als erste Wahl den Alpha2- Adrenozeptoren-Agonisten Clonidin. Eine Therapie mit einem typischen Neuroleptikum wird üblicherweise nicht mehr durchgeführt, in sonst therapierefraktären Fällen sollte man aber auch dies nicht unversucht lassen. Risperidon und Tiaprid stellen Mittel der ersten Wahl dar, wobei sich in der Praxis bei vielen spezialisierten Behandlern Aripiprazol, welches in verschiedenen Leitlinien auch als erste Alternative genannt wird, durchgesetzt hat. Dies dürfte zum einen am günstigen Nebenwirkungsprofil und zum anderen an der unter Aripiprazol in der Regel ausbleibenden Gewöhnung an das Medikament mit Notwendigkeit anschließender Dosiserhöhung liegen.

Eine aktuelle Metaanalyse über Studien mit Kindern und Jugendlichen stellt eine vergleichbare Wirksamkeit mit Haloperidol und Tiapridal bei gleichzeitig geringeren extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen fest. Primär serotonerge Neuroleptika wie Quetiapin und Clozapin sind bei Tic-Störungen nicht wirksam. Falls eine neuroleptische Therapie erfolglos bleibt, können auch Therapieversuche mit Tetrabenazin oder dem Dopaminagonisten Pergolid durchgeführt werden. Auch noradrenerge Therapieansätze mit Clonidin, Guanfacin oder Atomoxetin sind als wirksam beschrieben worden. Clonazepam oder Baclofen stellen ebenfalls Alternativen dar, wobei bei der Gabe von Benzodiazepinen das Abhängigkeitsrisiko zu beachten ist.

Bei oligosymptomatischen Syndromen kann die Injektion von Botulinumtoxin A in die vorwiegend betroffenen Muskelgruppen ebenfalls eine Erleichterung bringen. Die Datenlage bezüglich einer Medikation mit Cannabinoiden ist heterogen, in Einzelfällen kann aber auch dies angezeigt sein. Insbesondere Patienten, die bereits eine Selbstmedikation mit Cannabinoiden durchführen, können, falls wie z.B. in der Schweiz legal Cannabisprodukte zu medizinischen Zwecken zur Verfügung stehen, davon profitieren. Bei Therapierefraktärität mit dem Habit-Reversal-Training steht eine psychotherapeutische Methode zur Verfügung, die, so konnte eine Metaanalyse zeigen, vergleichbare Effekte wie pharmakotherapeutische Interventionen aufweist.

Ob dies auch für größere Schweregrade und vor allem auch ältere Patienten mit persistierendem Tourette- Syndrom weit ins Erwachsenenalter hinein gilt, müssen weitere Studien zeigen. Eine weitere Therapieoption bei Therapierefraktärität besteht in der Anwendung tiefer Hirnstimulation. Insgesamt 156 Fälle mit verschiedenen Stimulationsorten sind in der Literatur dokumentiert. Zielorgane sind hier der Thalamus, der Globus palidus internus, die Capsula interna (Crus anterius) und der Nucleus accumbens.

Therapierefraktärität ist definiert als dokumentiertes Nichtansprechen oder das Auftreten unerträglicher, unerwünschter Arzneimittelwirkung über mindestens sechs Monate unter Therapie mit Antipsychotika und „innovativer Behandlung“ (inklusive Tetrabenazin) oder, bei isolierten Tics, eine nicht erfolgreich durchführbare Botulinumtoxinmedikation. Bezüglich eines weiteren Stimulationsverfahrens, der repetitiven transkraniellen Magnetstimulation (rTMS), existieren nur wenige Fallberichte. Eine randomisierte kontrollierte Studie an Erwachsenen konnte keine Effekt zeigen.

Zusammenfassung

Das Tourette-Syndrom ist eine in der Praxis unterdiagnostizierte Störung, die je nach Ausprägung mit nur geringer oder auch deutlicher Beeinträchtigung der Lebensqualität, bis hin zu Vereinsamung und vollständiger sozialer Isolation, einhergehen kann. Eine leitliniengerechte Therapie betont die Berücksichtigung von Komorbiditäten, die genaue Aufklärung des Patienten und seines Umfeldes und bei entsprechend schwerer Ausprägung oder starker psychosozialer Belastung bzw. ungenügender Krankheitsbewältigung eine medikamentöse Therapie. D2-Blocker stellen hier die erste Wahl darf. Mit dem Habit-Reversal- Training steht mittlerweile eine psychotherapeutische Methode zur Verfügung, die zumindest bei Kindern und Jugendlichen und bei geringerer Ausprägung gut belegt ist. Die tiefe Hirnstimulation stellt eine noch selten angewandte Alternative für therapierefraktäre Fälle dar. 

Literatur beim Verfasser 

Foto: PrivatProf. Dr. Wolfram Kawohl
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich