Nur wenige psychiatrische Diagnosen sind einem so deutlichen Wandel unterworfen wie das Spektrum der Süchte. Seit nunmehr 40 Jahren werden an der Vorarlberger Stiftung Maria Ebene Menschen mit Suchterkrankungen behandelt; den jeweils aktuellen pathologischen, soziokulturellen und therapeutischen Herausforderungen wird dabei Rechnung getragen. (CliniCum neuropsy 1/17)
Seit rund 40 Jahren ist die Stiftung Maria Ebene eine tragende Säule der Suchtkrankenhilfe in Vorarlberg: Grund genug für CliniCum neuropsy, gemeinsam mit Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller, seit 1983 Chefarzt der Stiftung, einen Blick auf die Entwicklung von Suchterkrankungen und deren Behandlungsmöglichkeiten zu werfen; immerhin gehört die Sucht zu den fünf häufigsten Erkrankungen weltweit. „Nach Berechnung der Weltgesundheitsorganisation wird Sucht bis in 20 Jahren die dritthäufigste Krankheit überhaupt sein“, ergänzt Haller. „Das bedeutet, dass wir künftig im gesamten Gesundheitssystem mit noch mehr Betroffenen und noch vielfältiger werdenden Suchtproblemen konfrontiert sein werden.“
Erfreulich dagegen, dass sich – nicht zuletzt durch die Bemühungen vieler auf Suchterkrankungen spezialisierter Fachärzte für Psychiatrie – die Einstellung zur Sucht in Medizin und Gesellschaft deutlich gewandelt hat. Was vor 40 Jahren noch als tabuisierte, stark verdrängte Störung oder gar als „Charakterschwäche“ abgetan wurde, erfüllt alle Kriterien einer Erkrankung und wird heute auch weithin als solche akzeptiert. „Wie bei allen anderen Erkrankungen unterscheiden wir drei wesentliche Verlaufsformen: Besserung oder Heilung, Chronifizierung oder letaler Ausgang“, sagt Haller. „Doch selbst wenn die Therapie heute auf den Säulen Medizin, Psycho- oder Sozialtherapie beruht, so muss sie nicht zuletzt aufgrund ihrer Komplexität stets in ärztlicher Hand bleiben.“
Therapeutische Fortschritte
Entscheidend zu den Verbesserungen beigetragen haben unter anderem die intensivmedizinischen und medikamentösen Möglichkeiten der Behandlung von Entzugssyndromen. „Ein Delir ist heute intensivmedizinisch gut behandelbar, vor nicht allzu langer Zeit bedeutete es dagegen einen lebensbedrohlichen Zustand“, erinnert Haller. Ein wesentlicher Fortschritt besteht auch in der guten medikamentösen Behandlung von Basisstörungen: Immerhin besteht bei 70 Prozent der Suchtkranken eine Depression, 40 Prozent leiden an einer Angststörung, und bei 15 Prozent sind psychotische Störungen zu diagnostizieren. „Auch bei der Behandlung der Suchtfolgen gab es enorme Verbesserungen, denken Sie etwa an Hepatitis C oder HIV-Infektionen im Kontext von Suchterkrankungen.“
Die Stiftung Maria Ebene ist laut Haller vermutlich die weltweit einzige Institution zur Behandlung suchtkranker Menschen, wo alle Therapiephasen – vom stationären Entzug bis zu betreuten Wohnformen und Präventionsprojekten – in einer Hand vereint sind. Zu den neueren Angeboten im Bereich Psychotherapie zählt etwa ein Programm zur Achtsamkeits-basierten Rückfallvorbeugung bei süchtigem Verhalten und Substanzabhängigkeit. „Als eine von nur wenigen Einrichtungen bieten wir zudem bei starker Nikotinabhängigkeit stationäre Entwöhnungstherapien an, rund 30 Patienten nehmen dies jährlich in Anspruch; 90 Prozent aller Patienten sind noch nach einem Jahr Nichtraucher“, ergänzt Haller.
Geschlechter-spezifische Angebote
Auch dem Gender-Aspekt der Sucht wird in Maria Ebene Rechnung getragen. Über alle Suchterkrankungen hinweg sind Männer zwar heute noch immer stärker betroffen, Frauen holen jedoch mittlerweile stark auf. Betrug das Verhältnis der Geschlechter unter den Patienten von Maria Ebene anfänglich 6:1, so liegt es heute bei 3:1, wobei Frauen etwa immer öfter an der Alkoholkrankheit leiden. „Frauen erkranken allerdings meist in einem späteren Lebensalter als Männer, oft in Zusammenhang mit dem Empty-Nest-Syndrom“, ergänzt Haller. Frauen unterscheiden sich zudem deutlich von Männern bei der Bereitschaft zur Therapie: sie sind eher bereit, sich auf langfristige psychotherapeutische Behandlungen einzulassen, während Männer rasche Lösungen suchen. Auch bei der Haltequote, dem langfristigen Verbleib im therapeutischen Setting, liegen die Zahlen für Frauen bei 55 Prozent, für Männer dagegen nur bei 30 Prozent. „Insgesamt bemühen wir uns soweit als möglich, bei den therapeutischen Angeboten auf die Gender-spezifischen Aspekte einzugehen“, sagt Haller.
Erfolgversprechende Therapie
Was die Erfolge der Suchtbehandlung angeht, so dürften laut Haller allerdings nicht die gleichen Erfolgsparameter wie bei somatischen Erkrankungen herangezogen werden. „Es gilt, neben dem Rückfall auch die erreichte Lebensqualität oder die Wiedereingliederung im beruflichen und sozialen Umfeld zu werten.“ Der Statistik der Stiftung Maria Ebene zufolge sind jedenfalls mehr als die Hälfte aller ehemaligen Patienten fünf Jahre später noch gebessert. Ein großer Schwerpunkt der Stiftung liegt zudem auf der Präventionsarbeit: „Supro – Werkstatt für Suchtprophylaxe“ heißt das Projekt für 12- bis 18-Jährige, das unter der Ägide von Haller bereits 1990 als erste Suchtpräventionsstelle Österreichs ins Leben gerufen wurde.
Auch hier zeigen sich deutliche Veränderungen über die letzten 40 Jahre: Mädchen haben etwa bei der Nikotinabhängigkeit die Burschen bereits überholt, oder das Internet bietet einen Boden für ganz neue Suchtformen: „Mit den neuen Medien haben sich zudem die Kommunikationsstrukturen Jugendlicher stark verändert, und es wird immer schwieriger, Emotionen zuzulassen, wo immer mehr Coolness gefordert ist“, erklärt Haller. Dabei wurzelt die Suchtprophylaxe zum einen auf der Stärkung der Persönlichkeit und zum anderen auf einem adäquaten Umgang mit Emotionen – Anforderungen, die mit den sich verändernden familiären und gesellschaftlichen Strukturen zunehmend schwieriger zu erfüllen sind. Familien oder Schulen sind gleichermaßen gefordert, Kindern und Jugendlichen Zeit und Zuwendung genauso zukommen zu lassen wie Bildung. „Keinesfalls darf Suchtprävention ein politisches Lippenbekenntnis bleiben“, fordert Haller abschließend.
Stiftung Maria Ebene
Zum Vorarlberger Kompetenzzentrum für Suchterkrankungen gehören heute neben dem Krankenhaus mit 50 Betten in Frastanz sechs Institutionen für Prävention, Beratung, Betreuung und Therapie im ganzen Land: die Therapiestationen Carina (Langzeitbehandlung) und Lukasfeld (Entgiftung und Kurzzeittherapie) mit 15 bzw. 20 Betten, SURPO – Werkstatt für Suchtprophylaxe sowie die Clean- Beratungsstellen in Bludenz, Bregenz und Feldkirch.
„Fragen Sie Ihre Patienten nach Kränkungen“
CliniCum neuropsy: In Ihrem jüngsten Buch „Die Macht der Kränkung“ bezeichnen Sie die Kränkung als eine „Wurzel der meisten menschlichen Übel“. Welcher Stellenwert hat die Kränkung überhaupt in der Medizin?
Haller: Mit Sicherheit wird die Kränkung bis heute maßlos unterschätzt. Wer hat schon als Student oder in der Facharztausbildung wirklich davon gehört? Dabei ist die Kränkung so etwas wie eine psychologische Supermacht: Sie ebnet den Weg in die Krankheit – von der Flucht in die Sucht bis zur ganzen Fülle psychosomatischer Erkrankungen. Stark unterschätzt wird die Rolle der Kränkung auch immer noch im Kontext psychiatrischer Störungen. Erst kürzlich war ein suizidgefährdeter Patient bei mir, und im Gespräch stellte sich heraus, dass der Auslöser der Suizidalität die Tatsache war, dass er in seinem Unternehmen bei der Zuteilung der Bonuszahlungen nicht berücksichtigt wurde. Der Wert der Bonuszahlung spielte dabei keine Rolle, sehr wohl aber die Tatsache, dass er übergangen worden war.
Auch bei vielen Ihrer psychiatrischen Gutachten konnten Sie Kränkungen feststellen?
Richtig. Bei fast allen Schul-Amokläufen lassen sich oft Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegende Kränkungen ausmachen, genauso wie bei Gewalttaten im Familienkreis. Im Prinzip geht es bei der Kränkung um den Entzug der Zuneigung oder die Angst vor Liebesentzug – und das tut besonders weh, wenn uns Menschen nahe stehen. Auch bei vielen Erbschaftsstreitigkeiten stehen mehr als die materiellen Werte die erlebten Kränkungen im Mittelpunkt. Wie sollte es sonst zu erklären sein, dass mitunter die Gerichtskosten den Wert der Erbschaft übersteigen.
Wie kann die Psychiatrie nun dieser Bedeutung der Kränkung gerecht werden?
Die Herausforderung besteht darin, dass es von außen schwer objektivierbar ist, wann welcher Kränkungsinhalt bei der gekränkten Person zur Krankheitsgenese beiträgt oder gar in einem Gewaltverbrechen mündet. Es heißt also, aufmerksam zu sein und sich der Kränkbarkeit der Patienten wie auch der eigenen Kränkbarkeit bewusst zu sein. In dieser Hinsicht möchte ich meinen psychiatrischen Kollegen einen Rat geben: Sprechen Sie mit Ihren Patienten über deren Kränkungen. Oft ist dies erst der Schlüssel dazu, um überhaupt ins Gespräch zu kommen. Ein zweiter Rat lautet: Bedenken Sie, dass der Mensch ein lobensbedürftiges Wesen ist. So sehr wir Lob brauchen, so schwer ist es, Lob auszusprechen. Denken Sie dennoch nicht nur bei Ihren Patienten, sondern auch bei Kollegen und Mitarbeitern daran. Allerdings bekommen wir noch viel seltener Lob, je höher wir in der Spitze der beruflichen Hierarchie stehen – auch damit müssen wir lernen, zurechtzukommen.
Hat Ihnen das Thema Kränkung auch bei der Erstellung Ihrer Gutachten geholfen? Immerhin konnten Sie mit einigen Schwerverbrechern ins Gespräch kommen, die zuvor ein Gutachten verweigerten.
Große Verbrecher sind zugleich meist gute Menschenkenner mit hoher Intuition und Manipulationsfähigkeit. Als Psychiater achte ich stets darauf, mich ihnen mit aller Vorsicht, aber doch auf Augenhöhe zu nähern. Tatsächlich gilt für sie ebenfalls, dass es sehr hilfreich sein kann, sie nach ihren Kränkungen zu fragen oder an passender Stelle einmal Lob auszusprechen. Dadurch entsteht eine Beziehungsebene, die eine Zusammenarbeit möglich macht.
Vielen Dank für das Gespräch!
Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller ist Chefarzt der Stiftung Maria Ebene, ebenso Drogenbeauftragter der Vorarlberger Landesregierung. Haller ist zudem Gerichtssachverständiger und verfasste unter einer Reihe von Publikationen die Bücher „Die Macht der Kränkung“ oder „Die Narzissmusfalle“ (beide: Ecowin).
Von Mag. Christina Lechner