Im folgenden Beitrag werden einige für das Verständnis des österreichischen Maßnahmenvollzugs wesentliche Faktoren vorgestellt. Dazu wurden Daten der Justizanstalten Wien-Mittersteig und Göllersdorf aus dem Jahr 2016 ausgewertet. (CliniCum neuropsy 2/17)

Durch die Einführung des Maßnahmenrechts in der Strafrechtsreform 1975 wurde das Besserungsprinzip zugunsten des Sicherungsprinzips durchbrochen; gleichzeitig fand damit auch der Behandlungsgedanke („Therapie und/statt Strafe“) in den seinerzeit noch vom Sühne- und Schuldgedanken dominierten Strafvollzug Eingang. Bis etwa 1990 betrug die Prävalenz psychisch kranker und gestörter Täter (§ 21 Abs. 1 und 2. öStGB) zirka 200 bis 230. Seit etwa 1993 kam es zu einem steilen Anstieg der Prävalenzen (Abbildung 1).

Quelle: Kriminalstatistik – Statistik Austria 2017

Die Ursachen dafür sind wohl vielfältig, mögen unterschiedliches Gewicht haben und können auch einen Synergieeffekt entfalten. Die wichtigsten Diskurslinien sind: verändertes Anzeigeverhalten der Bevölkerung, der Exekutive und der Spitäler, Bereitschaft der Gerichte, schneller in die Maßnahme einzuweisen, reduzierte Bettenzahl in der Allgemeinpsychiatrie verbunden mit dem nicht zuletzt durch die leistungsorientierte Krankenanstaltenfinanzierung angewachsenen Bettendruck und die die damit verbundene Verkürzung der Aufenthaltsdauer vor allem für Schwerkranke, das Unterbringungsgesetz und seine Auslegung. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass im gleichen Zeitraum die Häufigkeit schwerer Delikte nicht zugenommen, sondern im Gegenteil die jährliche Anzahl von Morden, Vergewaltigungen und sexuellem Kindesmissbrauch in den letzten 30 Jahren abgenommen hat.

Nach einem leichten Rückgang der Prävalenz der im Maßnahmenvollzug untergebrachten Patienten kam es 2016 zu einem neuerlichen Anstieg, sodass zwischenzeitlich 777 psychisch Kranke stationär in Justizeinrichtungen oder in geschlossenen Abteilungen von psychiatrischen Krankenhäusern behandelt werden. Dieser Trend zeigt sich allerdings nicht nur in Österreich, sondern findet sich ähnlich in der ganzen westlichen Welt. Im Folgenden sollen einige für das Verständnis des österreichischen Maßnahmenvollzugs wesentliche Faktoren vorgestellt werden: (1) die rechtlichen Voraussetzungen für eine Einweisung, die Verteilung (2) der Diagnosen und (3) Delikte sowie (4) der Prozentanteil von psychisch kranken Migranten der ersten und zweiten Generation. Dazu wurden Daten von allen zurechnungsfähigen Patienten der Justizanstalt Wien-Mittersteig (n=122) und zurechnungsunfähige Patienten der Justizanstalt Göllersdorf (n=135) aus dem Jahr 2016 ausgewertet.

1. Rechtliche Voraussetzungen

Die Feststellung der Zurechnungs(un)fähigkeit und der gegebenenfalls erforderlichen Einweisung in eine vorbeugende Maßnahme folgt einem vom österreichischen Strafgesetzbuch (öStGB) vorgegebenen Algorithmus (Abbildung 2). Fehlende Zurechnungsfähigkeit ist gegeben bei

  • Unmündigen (bis zum 14. LJ) § 4 Abs 1 JGB,
  • fehlender (verzögerter) Reife § 4 Abs 2 Z1 JGB,
  • Vorliegen eines der Eingangskriterien des § 11 öStGB zum Tatzeitpunkt.

§ 11 öStGB. Zurechnungsunfähigkeit (Abbildung 2). Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt einer Tat erfolgt in zwei Schritten, die in der Judikatur als biologische (Diagnose) und als psychologische Stufe (Auswirkungen der psychischen Befunde auf die normativ verstandene Fähigkeit des Täters zur Einsicht und Steuerung) bezeichnet werden. „Wer zur Zeit der Tat wegen einer Geisteskrankheit, wegen einer geistigen Behinderung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer anderen, einer diesen Zuständen gleichwertigen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, handelt nicht schuldhaft.“

A2

Unter Geisteskrankheit versteht der Gesetzgeber Psychosen (Schizophrenien, bipolare affektive Erkrankungen), krankhafte Veränderungen der geistig-seelischen Funktionen, die im Zuge körperlicher Erkrankungen auftreten (Gehirnerweichung, progressive Paralyse, Epilepsie, Demenz) und schwere Persönlichkeitsveränderungen. Die geistige Behinderung wird im Strafgesetzbuch gesondert erwähnt, da ihr das Prozesshafte der oben angeführten Geisteskrankheiten fehlt (IQ <70 plus erhebliche, durch die kognitiven Defizite bedingten Einschränkungen der adaptiven und sozialen Fähigkeiten). Unter tiefgreifender Bewusstseinsstörungen versteht man eine vorübergehende Trübung oder partielle Ausschaltung (Einengung) des Bewusstseins von solcher Intensität, dass das seelische Gefüge des Betroffenen zeitweise außer Funktion tritt. Dazu zählen Fieberdelirien, Schlaftrunkenheit, Übermüdung, hypnotische und posthypnotische Zustände, schwere Affektstörungen oder Zustände voller Berauschung, hervorgerufen durch Alkohol oder Drogen.

Die ebenfalls angeführten gleichwertigen seelischen Störungen sind körperlich- seelische Verfassungen, denen eine die Diskretions- und/oder Dispositionsfähigkeit (s.u.) ausschließende Bedeutung zukommt wie schwere Neurosen, Defektzustände der oben aufgelisteten Geisteskrankheiten, Gehirnverletzungen, schwere Triebstörungen und Affekte, ferner tiefgreifende Persönlichkeitsverzerrungen sowie Folgeerscheinungen eines chronischen Alkoholmissbrauchs. Der durch diese Störungen bewirkte Ausnahmezustand muss so schwer ausgeprägt sein, dass das Persönlichkeitsbild des Betroffenen zerstört und damit den oben aufgelisteten Geisteskrankheiten vollkommen gleichwertig („psychosewertig“) ist. Entscheidend für die Beurteilung der Zurechnungs(un) fähigkeit aufgrund einer der angeführten psychischen Erkrankungen (biologisches Stockwerk) ist die Diskretionsund Dispositionsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat (psychologisches Stockwerk).

Unter Diskretionsfähigkeit versteht man die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, d.h. einzusehen, dass das in Rede stehende Verhalten verboten ist. Die Fähigkeit zum Erkennen des Unmoralischen im individualethischen Sinn genügt nicht, es muss das Verbotensein als vorhanden oder zumindest möglich erkannt werden. Die Dispositionsfähigkeit ist die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln. Sie ist dann gegeben, wenn die Vorstellungen des Täters von Recht und Unrecht, von sozialem und asozialem Verhalten genügend emotional und kognitiv verankert sind, um sich als Hemmungen geltend zu machen. Psychisch Kranke, die mit mehr als einem Jahr Strafe bedrohte Taten begangen haben, können von den Gerichten in den Maßnahmevollzug eingewiesen werden. Dazu wird allerdings vom Gesetzgeber eine schlechte Kriminalprognose verlangt: „Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Rechtsbrecher unter dem Einfluss seiner Abartigkeit zumindest eine gerichtlich strafbare Handlung mit schweren Folgen begehen werde. (…) Handlungen ohne schwere Folgen … ermöglichen die Unterbringung auch dann nicht, wenn die Zusammenrechnung der Folgen ein erhebliches Gewicht ergibt.

Die Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ist für wirklich gefährliche Delinquenten gedacht, bei denen andere strafrechtliche Maßnahmen nicht in Betracht kommen (Abs. 1) oder nicht genügen (Abs. 2). Starke Rückfallsneigung, ja Unverbesserlichkeit und Behandlungsbedürftigkeit genügen für sich allein nicht. (…) Neue Taten mit schweren Folgen müssen zu befürchten sein; es genügt nicht, dass sie nicht auszuschließen, möglich, nicht unwahrscheinlich o.ä. sind.“

§ 21 Abs. 1 öStGB: Zurechnungsunfähige psychisch kranke Straftäter (Abbildung 2). „Begeht jemand eine Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist, und kann er nur deswegen nicht bestraft werden, weil er sie unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands begangen hat, der auf einer geistig seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht, so hat ihn das Gericht in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde.“

Das Wesen der vorbeugenden Maßnahme liegt in der Sicherung und Besserung des psychisch kranken Täters. Zuständig für die Unterbringung und die Entlassung ist das Strafgericht. Die Unterbringung kann auch dann angeordnet werden, wenn die Abnormität als solche noch nicht Zurechnungsunfähigkeit bedingt, sich aber ein weiterer Umstand wie Alkoholisierung dazugesellt, der die Abnormität bis zur Zurechnungsunfähigkeit verstärkt. Zurechnungsunfähige Täter, die in die Maßnahme nach § 21 Abs. 1 öStGB eingewiesen werden, werden zu etwa 2/3 in justizeigenen Einrichtungen wie der Justizanstalt Göllersdorf und der Justizanstalt Asten behandelt, das restliche Drittel verteilt sich auf geschlossene Abteilungen psychiatrischer Krankenhäuser.

§ 21 Abs. 2 öStGB: Zurechnungsfähige psychisch kranke Straftäter (Abbildung 2). „Liegt eine ungünstige Prognose vor, so ist in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wer, ohne zurechnungsunfähig zu sein, unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad eine Tat begeht, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist. In einem solchen Fall ist die Unterbringung zugleich mit dem Ausspruch über die Strafe anzuordnen.“ In diesem Fall wäre die Diagnose einer schweren psychischen Erkrankung (das „biologische Stockwerk“) als erste Voraussetzung für den § 11 öStGB zwar vorhanden, die Diskriminations- und Dispositionsfähigkeit war allerdings zum Zeitpunkt der Tat ausreichend vorhanden, sodass der Betroffene in der Lage war, das Unrecht der Tat einzusehen und gemäß dieser Einsicht zu handeln (psychologisches Stockwerk).

Somit wird zwar von Zurechnungsfähigkeit ausgegangen, was eine Haftstrafe zur Folge hat; die gutachterlich festgestellte „Abartigkeit“ höheren Grades führt jedoch analog zum § 21 Abs. 1 öStGB zur Anhaltung auf unbestimmte Zeit. Beim Vollzug der vorbeugenden Maßnahme nach § 21 Abs. 2 öStGB ist die Zeit der Anhaltung auf die Strafe anzurechnen. Ist die Strafe länger als die für die erfolgreiche therapeutische Behandlung erforderliche Unterbringungszeit, so ist der Rechtsbrecher nach Beendigung der Therapie in den Strafvollzug zu überstellen. Ist die krankheitsbedingte Gefährlichkeit nach dem Strafende nicht ausreichend abgebaut, so verbleibt der Betreffende in der Maßnahmeneinrichtung. Psychisch gestörte Täter, die in den Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs. 2 öStGB eingewiesen werden, werden in die Justizanstalt Wien-Mittersteig überstellt, eine Einrichtung, die auf die Behandlung dieser Patienten speziell ausgerichtet ist. Weiters gibt es in den großen Haftanstalten Stein, Garsten und Graz-Karlau Abteilungen für zurechnungsfähige Maßnahmenuntergebrachte.

2. Diagnosen

Die Verteilung der Erstdiagnosen von zurechnungsunfähigen und zurechnungsfähigen Rechstbrechern unterscheidet sich grundlegend (Abbildung 3). Im Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs. 1 öStGB sind Patienten, die an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis leiden, mit mehr als 70 Prozent deutlich am häufigsten vertreten. Bei den zurechnungsunfähigen schizophrenen Straftätern besteht eine (unterschiedlich enge) Verbindung zwischen Delikt und Erkrankung. Als psychotisches Tatmotiv findet sich am häufigsten ein systematisierter Verfolgungswahn mit hoher Wahndynamik und einem gespannt-gereizten Affekt, Trugwahrnehmungen als Tatmotiv wie etwa imperative Stimmen sind vergleichsweise seltener. Immer wieder berichten Betroffene über wahnhafte Personenverkennungen zum Tatzeitpunkt, vor allem über das Capgras-Syndrom (eine Person, zumeist ein Angehöriger, ist durch einen gleich aussehenden Doppelgänger ausgetauscht worden).

Quelle: Stompe, 2017

Willensbeeinflussungserlebnisse sind hingegen charakteristisch für Täter mit einer katatonen Schizophrenie. Auch die Bedeutung der Negativsymptomatik ist nicht zu unterschätzen. Häufig findet sich bei schizophrenen Straftätern ein deutlicher Abbau von höheren Gefühlen wie Empathie, Scham, Schuld oder Reue, denen eine ganz wesentliche Funktion in der Verhaltensregulation zukommt. Bei den 9,9 Prozent der zurechnungsfähigen Straftäter, die unter einer Schizophrenie leiden, war die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt gegeben, das Delikt wurde aus anderen, nicht psychotischen Motiven begangen. Von Laien wird nicht selten gemutmaßt, dass Täter eine Psychose simulieren, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Es kommt allerdings kaum vor, dass sich Gerichte und Gutachter durch einen zumeist plumpen Täuschungsversuch irreführen lassen.

Wesentlich häufiger versuchen psychotische Täter, unter dem Einfluss von Wahn und Halluzinationen, das eigentliche psychotische Tatmotiv zu verbergen. Verglichen mit Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis sind alle anderen Diagnosekategorien bei den zurechnungsunfähigen Tätern deutlich seltener anzutreffen. Die zweithäufigste Gruppe sind Personen mit Intelligenzminderungen, die mit 10,4 Prozent nahezu gleich oft vertreten sind, wie bei den zurechnungsfähigen Tätern (9,1 Prozent). Die Delikte resultieren zumeist aus Störungen der Exekutivfunktionen und der Impulskontrolle. Persönlichkeitsgestörte Straftäter bilden mit 43,8 Prozent die größte Gruppe der zurechnungsfähigen Maßnahmepatienten.

Quelle: Stompe, 2017

Häufig findet man hier antisoziale oder narzisstische, gelegentlich aber auch paranoide oder selbstunsichere Züge. Die Gerichte gehen bei den nach § 21 Abs. 2 öStGB Eingewiesenen davon aus, dass die mit der Persönlichkeitsstörung verbundenen Einschränkungen der Diskretionsund Dispositionsfähigkeit zur Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit (§ 11 öStGB) nicht ausreichend waren. Bei den persönlichkeitsgestörten Maßnahmepatienten nach § 21 Abs. 1 öStGB fanden sich darüber hinaus zum Tatzeitpunkt häufig kurz dauernde substanzbedingte psychotische Exazerbationen, wobei allerdings im Längsschnitt die Persönlichkeitsstörung im Vordergrund steht. Sexuelle Präferenzstörungen (Paraphilien) finden sich als Erstdiagnose ausschließlich bei den zurechnungsfähigen Maßnahmepatienten. Pädophilie ist am häufigsten anzutreffen, Sadismus oder Exhibitionismus kommen nur vereinzelt vor.

3. Delikte

Ähnlich wie die Diagnosen unterscheiden sich die Einweisungsdelikte der zurechnungsfähigen und unzurechnungsunfähigen Maßnahmenpatienten deutlich (Abbildung 4). Bei den zurechnungsunfähigen Patienten liegt der Schwerpunkt mit 81,8 Prozent eindeutig auf der Gewaltdelinquenz. Bei den Gewaltdelikten ist schwere Körperverletzung am häufigsten vertreten, gefolgt von Mord, Mordversuch und gefährlicher Drohung, vergleichsweise selten (7,9 Prozent) führen Sexualdelikte zur Einweisung in den Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs. 1 öStGB. Diese sind mit 57,4 Prozent die Domäne der zurechnungsfähigen psychisch gestörten Straftäter, die in der Justizanstalt Wien-Mittersteig betreut werden. 72,9 Prozent der dort untergebrachten Sexualstraftäter begingen einen sexuellen Kindesmissbrauch (inkl. Handel, Besitz und Konsum von Kinderpornographie), 27,1 Prozent eine Vergewaltigung einer erwachsenen Person. Gewalttaten sind mit 35,2 Prozent der Einweisungsdelikte bei der Gruppe der zurechnungsfähigen Maßnahmenpatienten deutlich seltener als bei den zurechnungunsfähigen Tätern. Auch unter den gewalttätigen Patienten der Justizanstalt Wien-Mittersteig findet sich schwere Körperverletzung am häufigsten. Leichte Gewalttaten (gefährliche Drohung, Nötigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt) kommen hier öfter vor als schwere Delikte wie Mord und Mordversuch.

4. Migrationshintergrund

Um die Prävalenz der Maßnahmenpatienten mit Migrationshintergund richtig einordnen zu können, ist es wichtig, sich zuerst anhand der öffentlich zugänglichen Daten des Innenministeriums und der Statistik Austria ein Bild von der Kriminalität in Österreich zu machen. 2015 wurden 517.870 Fälle bei der Polizei angezeigt, davon wurden 227.855 geklärt. Im nächsten Schritt werden die Mehrfachzählungen ermittelter Tatverdächtiger (Tatverdächtige, die im Beobachtungszeitraum mehrere Delikte begangen hatten) abgezogen. Gibt es mehrere Tatverdächtige bei einer Tat, so werden diese getrennt gerechnet. Das ergibt 250.581 ermittelte Tatverdächtige. Davon abgezogen werden die strafunmündigen Tatverdächtigen (unter 14 Jahre), was 244.674 ermittelte strafmündige Tatverdächtige ergibt. Die Gerichte erledigten 2015 insgesamt 245.726 Verfahren.

Verhandelt wurden vorwiegend zur Anzeige gebrachte Delikte aus 2015, aber auch einige aus dem Vorjahr, während manche Delikte, die Ende 2015 begangen wurden, erst 2016 vor Gericht kamen. Von diesen 245.726 Verfahren wurden 151.737 eingestellt, 40.781 wurden ohne Hauptverhandlung mit einer Diversion (z.B. Tatausgleich, Zahlung eines Geldbetrags, Erbringung einer gemeinnützigen Leistung) beendet. Somit ergingen 43.887 Urteile in erster Instanz, 10.222 führten zu Freisprüchen. 33.667 zu Verurteilungen, 32.118 davon waren 2015 rechtskräftig. Von diesen wiederum führten 19 Prozent zu unbedingten Freiheitsstrafen, d.h., 2015 wurden von 244.674 ermittelten strafmündigen Tatverdächtigen 6.102 Personen (2,5 Prozent) zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. In der Kriminalstatistik werden Nicht-Österreicher und Österreicher getrennt aufgelistet, Eingebürgerte und Migranten zweiter Generation mit österreichischer Staatsbürgerschaft werden nicht eigens angeführt.

Von den ermittelten strafmündigen Tatverdächtigen waren 37 Prozent Nicht-Österreicher und 63 Prozent Österreicher, bei den Verurteilungen betrug der Anteil der Nicht-Österreichern 60 Prozent, der Österreicher 40 Prozent. Bei den Verurteilungen zu Gefängnisstrafen war der Anteil der Nicht-Österreicher 49,25 Prozent, der Österreicher 50,75 Prozent. Zu beachten ist, dass der Anteil der Gewaltdelinquenz an der Gesamtdelinquenz bei Nicht-Österreichern mit 13 Prozent niedriger ist als bei Österreichern (20 Prozent). Das heißt: Nicht-Österreicher werden als ermittelte Tatverdächtige auch bei leichteren Delikten deutlich häufiger zu Freiheitsstrafen verurteilt als Österreicher. Bevor wir die Herkunft der psychisch kranken Straftäter im Maßnahmenvollzug betrachten, muss noch einmal betont werden, dass keine Informationen über die Zahl der Migranten zweiter Generation im Strafvollzug vorliegen (Abbildung 5).

Quelle: Stompe, 2017

36,7 Prozent der 2016 in der Justizanstalt Göllersdorf behandelten Patienten haben einen Migrationshintergrund, die Mehrheit (32,2 Prozent) wurde im Ausland geboren. Ganz anders in der Justizanstalt Wien-Mittersteig; hier waren nur 15,7 Prozent der zurechnungsfähigen Maßnahmepatienten Nicht-Österreicher. Vergleicht man diese Zahlen mit der Häufigkeit von Nicht-Österreichern in der Wohnbevölkerung, so erkennt man, dass die zurechnungsfähigen Patienten mit Migrationshintergrund (1. plus 2. Generation) im Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs. 2 öStGB eher unterrepräsentiert sind (Wohnbevölkerung 21,3 Prozent, Justizanstalt Mittersteig 15,7 Prozent), Bei den zurechnungsunfähigen Patienten sind Nicht-Österreicher deutlich häufiger (36,7 Prozent) und über ihrem Prozentanteil an der Wohnbevölkerung vertreten. Verglichen mit den 49,25 Prozent Nicht-Österreichern im Normalvollzug ist dieser Prozentanteil noch immer eher niedrig, vor allem dann, wenn man bedenkt, dass inzwischen zahlreiche Untersuchungen über die Prävalenz psychischer Erkrankungen vorliegen, die zeigen, dass bei Migranten die Belastung mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis größer ist als in der Bevölkerung des Aufnahmelandes.

Schizophreniekranke wiederum haben ein leicht erhöhtes Risiko, Gewaltdelikte zu begehen als gesunde Menschen. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass eine nicht näher bekannte Anzahl psychisch kranker Menschen mit Migrationshintergrund sich undiagnostiziert im Normalvollzug befindet. Dies trifft noch in weitaus höherem Umfang auf delinquente Migranten mit Persönlichkeitsstörungen zu, die im Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs. 2 öStGB unterrepräsentiert sind. Wie aus vielen Untersuchungen bekannt, beträgt die Prävalenz der Persönlichkeitsstörungen in den Gefängnissen zwischen 20 und 70 Prozent. Da sich Menschen mit Persönlichkeitsstörungen bei der Festnahme für gewöhnlich nicht besonders auffällig verhalten und die Kommunikation mit Migranten durch die Sprachbarriere oft nur eingeschränkt möglich ist, werden vermutlich zu wenige Nicht-Österreicher begutachtet und in die Maßnahme nach § 21 Abs. 2 öStGB eingewiesen.

Zusammenfassung

Zusammenfassend unterscheiden sich zurechnungsfähige von zurechnungsunfähigen Maßnahmepatienten wie folgt: Zurechnungsunfähige Patienten:

  • häufig Erkrankungen aus schizophrenem Formenkreis
  • häufiger Gewaltdelikte
  • relativ viele Migranten Zurechnungsfähige Patienten:
  • häufig Persönlichkeitsstörungen und Paraphilien
  • häufiger Sexualdelikte
  • relativ wenige Migranten

Literatur bei den Autoren

Von Univ.-Prof. Dr. Thomas Stompe und Dr. Katinka Keckeis