Moderne Metaanalysen ergeben für die Wirksamkeit der Psychotherapie bei Depressionen moderate Effektstärken. Die Kombination aus Pharmako- und Psychotherapie scheint weiterhin der ideale Weg zu sein, wobei die Abstimmung von psycho- und pharmakotherapeutischer Begleitung eine wesentliche Rolle spielen dürfte. (CliniCum neuropsy 2/17)
Das wissenschaftliche Interesse daran, die Wirksamkeit der Psychotherapie gewissermaßen auf den Evidenz- basierten Prüfstand zu stellen, ist in den vergangenen 30 Jahren deutlich gestiegen. So zeigte Prim. Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Martin Aigner, Vorstand der Abteilung für Erwachsenenpsychiatrie und Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tulln, kürzlich bei einer Fortbildung an der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie eine Analyse, derzufolge zwischen 1985 und 2015 die Zahl der einschlägigen auf Pubmed veröffentlichten Publikationen von rund 150 auf insgesamt 950 gestiegen ist.
Für die kognitive Verhaltenstherapie, eine der bei Depressionen am häufigs ten angewendeten Psychotherapieformen, liegen die ermittelten Effektstärken im Bereich von 0,35. Doch Metaanalysen, die keine „negativen Studien“ einschließen können, unterliegen möglicherweise einem Reporting- Bias. „In renommierten Journalen werden nur erfolgreiche Studien veröffentlicht. Für psychopharmakologische Untersuchungen gilt mittlerweile eine verpflichtende Registrierung zu Studienbeginn, sodass auch negative Studien verfolgt werden können. Bei psychologisch/psychotherapeutischen Studien erfolgt bislang die Registrierung nur auf freiwilliger Basis“, erklärt Aigner. Im Hinblick auf die Frage nach unterschiedlichen Effekten bei den Geschlechtern wurden bislang übrigens noch keine Gender-Effekte gezeigt. Demnach dürfte eine Psychotherapie bei Männern und Frauen etwa gleich wirksam sein, wenn auch Frauen im Allgemeinen eine höhere Motivation für psychotherapeutische Methoden aufbringen, meint Aigner. „In ähnlicher Weise sehen wir bei Psychopharmaka- Studien zu Depressionen bei Frauen und Männern vergleichbare Erfolgsraten.“
Kombination am wirksamsten
Als Evidenz-basiert gilt heute auch das Paradigma, dass sich in der Depressionsbehandlung – unabhängig von der Schwere der Erkrankung – die Kombination aus Psychopharmaka und Psychotherapie gegenüber den jeweiligen alleinigen Behandlungsformen als wirksamer erweist, speziell im Hinblick auf Langzeiteffekte. „Dementsprechend wird heute bei der Entlassung aus einer stationären Behandlung den Patienten eine weiterführende Kombinationstherapie empfohlen“, betont Aigner. Möglichst zeit nahe ambulante Therapieangebote würden sich hier positiv auswirken. Zur Überbrückung von „Therapielücken“ können Gruppentherapieangebote genutzt werden, meint Aigner: „In Tulln haben wir gute Erfahrungen mit Gruppentherapien zur Nachbehandlung gemacht, die von Psychotherapeuten in freier Praxis in gemieteten Klinikräumen angeboten werden.
Für Gruppentherapien gibt es in der Regel ausreichend Kassenplätze, sodass Lücken zwischen stationärer und ambulanter Therapie vermieden werden können.“ Zwischen Psychotherapie und medikamentöser Therapie können Interaktionen auftreten, die zur gegenseitigen Verstärkung, aber auch zu gegenseitiger Behinderung führen können. Passen die Grundkonzepte nicht zusammen, etwa wenn Therapeuten ihre Klienten/Patienten nicht genügend zur Einnahme der Antidepressiva motivieren oder sogar eine negative Einstellung zur Pharmakotherapie äußern, können Stressmomente für Patienten entstehen, sagt Aigner. „Günstig im Sinne der Adhärenz wirkt es sich dagegen aus, wenn die Therapeuten etwa bei der Frage nach Nebenwirkungen den Patienten raten, diese vor einem Absetzen mit dem behandelnden Psychiater zu sprechen – das wären ideale Synergieeffekte.“
Zukunftsfragen
Trotz aller Bemühungen betragen die Rückfallraten bei Depressionen selbst bei Kombinationstherapie noch immer rund 40 Prozent. „Wir werden daher noch weitere und detailliertere Studien brauchen, um spezielle Fragen auch zur Wirksamkeit der Psychotherapie zu beantworten und den einzelnen Patienten zu besseren und anhaltenden Therapieerfolgen zu verhelfen“, meint Aigner. Dazu gehört etwa die Frage nach einer pharmakologischen Unterstützung von „Lerneffekten“, wie sie bereits für eine Medikation im experimentellen Setting gezeigt werden konnte. Auch die Frage nach der Wirksamkeit der Psychotherapie bei chronisch therapierefraktären Patienten kann heute noch ebenso wenig schlüssig beantwortet werden wie jene nach der optimalen Abstimmung von Psycho- und Pharmakotherapie: Sollen beide zeitgleich begonnen werden oder die Psychotherapie erst dann, wenn die Wirksamkeit des Antidepressivums eingesetzt hat? „Es gibt sicher Situationen, in denen Patienten mit der Psychotherapie im engeren Sinn noch überfordert sind. In einer Studie über trauerinduzierte Depressionen schnitt die Gruppe mit Psychotherapie überraschenderweise schlechter ab als die Placebo- Gruppe. Hier dürfte es zu einer Überforderung der Patienten gekommen sein“, berichtet Aigner.
„Psychotherapie bei affektiven Erkrankungen“, Wissenschaftliches Seminar, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Wien, 16.3.17
„Eine Depression ist so normal wie Zahnprobleme“
Bei einem Vortrag in Wien sprach sich der international anerkannte Experte für affektive Erkrankungen, Prof. Dr. Jules Angst, für die Entstigmatisierung seelischer Erkrankungen und auch der Psychiatrie als Ganzes aus.
Genauso wie im organischen Bereich gäbe es auch im psychiatrischen Bereich fließende Übergänge von „gesund“ zu „krank“. „Noch dazu haben wir gerade bei affektiven Störungen sehr hohen Prävalenzraten: Etwa 50 Prozent der Frauen erkranken einmal in ihrem Leben an einer Depression – sie ist also beinahe so normal wie Augen- oder Zahnprobleme“, betont der Schweizer Psychiater Prof. Dr. Jules Angst. „Das wahre Problem ist die Stigmatisierung der Erkrankung, und sie betrifft nicht nur die Patienten, sondern auch uns Psychiater.“
Neueste Erkenntnisse der Hirnforschung, die biologische Korrelate seelische Störungen immer detaillierter belegen, tragen mit Sicherheit dazu bei, das Stigma zu verringern und die Rolle der Psychiater als „Ärzte“ zu untermauern. „Allerdings müssen wir uns auch der eigenen Limits und Erklärungsmöglichkeiten bewusst werden. Wir können nicht alles biologisch erklären und müssen auch andere Erklärungsmodelle lebendig halten, sonst führt die Diskussion dazu, den Menschen alleine auf sein Gehirn zu reduzieren“, sagte Angst in der Diskussion mit Kollegen an der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Angst verwies in seinem Vortrag zudem auf das von Depression über bipolare Störungen bis zu Manien reichende Kontinuum der affektiven Störungen und übte zugleich Kritik daran, dass im Diagnosemanual DSM-5 die Manie als eigene Diagnose nicht mehr vorkommt. „Zudem wurden durch die neuen diagnostischen Kriterien im DSM-5 viele bipolare Störungen gleichsam in Depressionen zurückverwandelt, das macht keinen Sinn!“ Immerhin unterscheiden sich unipolare und bipolare Erkrankungen deutlich im Spektrum der Komorbiditäten: „Bipolar erkrankte Patienten haben z.B. deutlich mehr Panikattacken oder Ängste, während bei unipolaren Depressionen etwa Schlafstörungen häufiger sind.“
Bei der Diagnose, so Angst, sollten sich die untersuchenden Ärzte daher nicht zu strikt an den Kriterien von DSM-5 orientieren: „Unterhalten Sie sich genau mit den Patienten, und bauen Sie langsam die Diagnose auf“, lautet sein konkreter Rat. Gerade bei „versteckter Bipolarität“ müsse genau nach Anzeichen einer Manie geforscht werden, denn – so Angst – manische Zustände werden noch immer häufig unterschätzt. „Wir brauchen zudem auch viel mehr Langzeitstudien, um genaue Aussagen über seelische Erkrankungen und deren Verlauf gewissermaßen von der Geburt bis zum Tod treffen zu können.“
Wissenschaftliches Seminar „Affektive Erkrankungen im Lichte meiner langjährigen Forschung“, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Wien, 23.3.17
Prof. Dr. Jules Angst ist Honorarprofessor der Universität Zürich, wo er bis 1994 als Professor für Klinische Psychiatrie und Direktor der Forschungsabteilung für Psychiatrie tätig war. Für seine wissenschaftlichen Leistungen erhielt Angst zahlreiche internationale Auszeichnungen, darunter den „Lifetime Achievement Award in Biological Psychiatry“ der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) oder die Wagner-Jauregg-Medaille der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB).
E-Mail: Jules.angst@uzh.ch
Von Mag. Christina Lechner