Zwölf Prozent der Bevölkerung leiden an Migräne, ein Prozent an einer chronischen Form. Neu entdeckte Biomarker und Befunde aus der Bildgebung liefern laufend neue Erkenntnisse für die Optimierung von Diagnose und Therapie dieser Form von Kopfschmerz. Dabei gilt es, alle Kopfschmerzpatienten bedarfsgerecht zu den entsprechenden Versorgungseinrichtungen zu leiten, betont der Präsident der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG) Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Gregor Brössner, Universitätsklinik für Neurologie, Innsbruck. (CliniCum neuropsy 3/17)
CliniCum neuropsy: Warum haben Sie sich als Neurologe auf das Thema Kopfschmerz spezialisiert?
Brössner: Kopfschmerz gehört zu jenen neurologischen Symptomen bzw. Erkrankungen, die eine große Anzahl von Patienten betreffen – die Prävalenzraten liegen beim primären Kopfschmerz im zweistelligen Prozentbereich mit steigender Tendenz. Hinzu kommt, dass wir gerade in den letzten zehn Jahren wegweisende Entdeckungen auf dem Gebiet der Pathophysiologie erringen konnten und es enorme therapeutische Fortschritte gab. Kopfschmerz ist aus meiner Sicht daher in der niedergelassenen Praxis genauso eines er wichtigsten neurologischen Themen wie hier an einer Universitätsklinik.
Welche sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten neuen Erkenntnisse, die in den letzten Jahren gewonnen wurden?
Bis vor Kurzem waren wir in der Diagnose des Kopfschmerzes ausschließlich auf die anamnestischen Angaben der Patienten angewiesen. Neu entdeckte Biomarker im Blut, darunter das Calcitonin- Gen-assoziierte Peptid (Calcitonin Gene-related Peptide; CGRP, Anm.) bei Migräne sowie Erkenntnisse aus der Bildgebung tragen dazu bei, das pathophysiologische Verständnis von Kopfschmerzerkrankungen verstärkt objektivierbar zu machen, auch wenn diese vorläufigen Ergebnisse bislang vorwiegend von wissenschaftlichem Interesse sind. CGRP ist etwa bei Patienten innerhalb der Migräneattacke signifikant erhöht. Bei der Bildgebung zeigt wiederum die funktionelle Magnetresonanztomographie, dass bei Migräne charakteristische Aktivitäten im Kerngebiet des Trigeminus und im Hypothalamus bereits vor dem Auftreten der Kopfschmerzsymptomatik erkennbar sind. Allerdings werden auch diese Verfahren heute noch auf rein wissenschaftlicher Basis angewendet.
Welche Herausforderungen bestehen aus neurologischer Perspektive bei der Differenzialdiagnose des Kopfschmerzes?
Angesichts von 200 verschiedenen Arten, die wir beim Kopfschmerz unterscheiden, bedeutet die Differenzialdiagnose tatsächlich eine große Herausforderung. Bei allen Kopfschmerzen gilt es zunächst, primäre Formen von anderen Erkrankungen mit dem Leitsymptom Kopfschmerz zu unterscheiden. Es können etwa akut lebensbedrohliche Hirnblutungen dahinter stecken wie auch Bluthochdruck. Neben der genauen Anamnese kommt dazu eine breite Palette diagnostischer Möglichkeiten wie Bildgebung, Ultraschall, Liquoruntersuchung oder Laborbefunde.
Welche Rolle spielen Gender-Aspekte bei Kopfschmerz und speziell bei Migräne?
Wir wissen seit Langem, dass einige Kopfschmerzformen, wie z.B. Migräne, bei Frauen deutlich häufiger vorkommen, während beispielsweise Cluster-Kopfschmerzen bei Männern dominieren. Bei Frauen spielen hormonelle Einflüsse eine Rolle, denn vor der Pubertät kommt Migräne bei Mädchen und Buben gleich häufig vor, während sie danach bei Frauen häufiger und auch zyklusabhängig auftritt. Schwangerschaft und Stillen führen meist zu einer Besserung von Häufigkeit und Schwere. In der Postmenopause sinkt die Migränehäufigkeit bei Frauen wieder, bleibt jedoch insgesamt über jener der Männer. Keinesfalls darf das häufigere Auftreten von Kopfschmerz bei Frauen jedoch dazu führen, dass es zu plakativen oder gar herabwürdigenden Aussagen kommt, wie dies in der gesellschaftlichen Diskussion mitunter der Fall ist. Kopfschmerz ist immer ernst zu nehmen – von Patienten, Angehörigen und auch von ärztlicher Seite!
Wie steht es aktuell um die Versorgungssituation von Kopfschmerzpatienten in Österreich?
Hier in Österreich gilt genauso wie in anderen Industrienationen, dass für eine ausreichende Versorgung auf allen Ebenen eine enge Zusammenarbeit der beteiligten Institutionen erfolgen muss, also von den Universitätskliniken über Standardkrankenhäuser mit Spezialambulanzen bis zu niedergelassenen Neurologen und Allgemeinmedizinern. Wenn wir bedenken, dass alleine von Migräne rund zwölf Prozent aller Personen in Österreich betroffen sind, dann wird deutlich, dass der Patientenstrom zielorientiert geleitet werden muss und wir an den Universitätskliniken hauptsächlich „Spezialfälle“ wie therapieresistente Formen längerfristig behandeln können. Aus dieser Sicht sind sicher noch Verbesserungen möglich, denn ähnlich wie beim chronischen Schmerz haben längst nicht alle Patienten eine genaue Diagnose und optimal angepasste Therapie.
Welche Rolle spielt dabei die ÖKSG?
Die ÖKSG mit ihren aktuell rund 100 Mitgliedern ist eine Vereinigung von Ärztinnen und Ärzten, die sich besonders für das Thema Kopfschmerz interessieren. Als wissenschaftliche Gesellschaft sieht es die ÖKSG durchaus als eine ihrer Aufgaben an, die Interessen der Kopfschmerzpatienten zu vertreten und durch die Kooperation mit anderen Fachgesellschaften und der forschenden pharmazeutischen Industrie die ärztliche Fortbildung voranzutreiben. Dazu sind wir übrigens auch in engem Austausch mit der Deutschen Migräneund Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) und der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft. Zudem sind – auch als ein Service für Patienten – auf unserer Homepage spezialisierte Zentren und auf Kopfschmerz spezialisierte Ärzte angeführt. Die Aufnahme in diese Liste erfolgt allerdings freiwillig und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Kommen wir noch einmal zum Thema Therapie: Chronischer Kopfschmerz wird häufig durch Selbstmedikation behandelt und birgt daher ein hohes Risiko für falsche Therapie bzw. Analgetika-Abusus.
Gerade in den letzten Jahren ist in ärztlichen Kreisen die Sensibilität für dieses Thema deutlich gestiegen. Unter den Patienten mit chronischer Migräne – wir sprechen hier wiederum von rund einem Prozent der Bevölkerung – besteht fast bei jedem Medikamentenübergebrauch. An der Innsbrucker Universitätsklinik für Neurologie ist chronische Migräne – meist mit Analgetikamissbrauch – bereits die dritthäufigste Diagnose; die Patienten haben einen extrem hohen Leidensdruck und bereits viele verschiedene Stellen kontaktiert, bevor sie zu uns kommen. Insbesondere bei diesen Patienten gilt es, multimodale Therapieansätze zu wählen, also medikamentöse sowie nicht medikamentöse Verfahren wie die Verhaltenstherapie. Auch daran wird ersichtlich, wie wichtig die Information der breiten Öffentlichkeit und die ärztliche Fortbildung sind, ebenso die Ausarbeitung von Therapieleitlinien, um für jeden Patienten die geeignete Therapieform zu finden.
Wie steht es um Neuentwicklungen bei der Kopfschmerzund Migränetherapie?
Auf medikamentöser Ebene gibt es unter anderem bereits Phase-IIIStudien mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP bzw. den entsprechenden Rezeptor oder auch erste Therapiestudien mit anderen monoklonalen Antikörpern, die gegen Strukturen gerichtet sind, die in der Pathophysiologie der Migräne eine entscheidende Rolle spielen. Zudem sind bereits neuronale Stimulationstechnologien verfügbar, die besonders beim chronischen Cluster-Kopfschmerz mit gutem Erfolg eingesetzt werden. Dabei werden etwa Mikroimplantate eingesetzt, die von den Patienten bei Symptomen extern durch ein Gerät – vergleichbar einer elektrischen Zahnbürste – aktiviert werden und das Schmerzgeschehen unterbinden. Bei allen medikamentösen und medizintechnischen Fortschritten muss jedoch der Stellenwert von Verhaltensänderungen betont werden: Ausdauersport, Stressmanagement und Biofeedback-Training sind ganz wesentliche Säulen der Therapie, die nebenwirkungsfrei sind und enorm viel zur Besserung beitragen.
Wie gehen Sie selbst mit Kopfschmerzen um; leiden Sie auch darunter?
Ja, ich bin selbst von Migräne betroffen, und vermutlich fällt es mir daher leicht, für die Patienten die nötige Empathie aufzubringen. Die wichtigste Botschaft, die wir unseren Patienten mitgeben müssen, ist jene, dass bei Kopfschmerz kein Nihilismus angesagt ist und dass sie aktiv werden und sich an einen spezialisierten Arzt oder eine Spezialambulanz richten sollen. Gerade angesichts der vielen Neuentwicklungen gibt es für jeden Einzelnen die Möglichkeit, die optimale Therapieform zu finden!
Vielen Dank für das Gespräch!
Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Gregor Brössner ist Leitender Oberarzt an der Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck, und bereits in zweiter Periode (2016 bis 2018) Präsident der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG) www.oeksg.at
Das Gespräch führte Mag. Christina Lechner