Mit der Veröffentlichung der evidenzbasierten Leitlinie und der Novelle zum Suchtmittelgesetz erfolgte kürzlich die längst fällige Trennung zwischen rechtlichen und medizinischen Fragen in der Opioid-Substitutionstherapie. Experten erhoffen sich zudem einen Beitrag zur Entstigmatisierung suchtkranker Patienten. (CliniCum neuropsy 4/17)
Es ist ein Gesamtpaket, mit dem die Suchtbehandlung ein großes Stück in Richtung Normalität gerückt wird, sagt Dr. Hans Haltmayer, Ärztlicher Leiter der Suchthilfe Wien gegenüber CliniCum neuropsy. Zugleich mit der erstmals in Österreich erstellten Leitlinie für die Opioid- Substitutionstherapie (OST) wurden bzw. werden aktuell Suchtmittelgesetz (SMG) und Suchtgiftverordnung novelliert. „Damit werden ab sofort medizinische Fachfragen nicht mehr juristisch, sondern auf medizinischer Ebene gelöst. Bislang griff die Suchtgiftverordnung auch in die ärztliche Therapiefreiheit ein, indem sie etwa Mittel der ersten Wahl vorschrieb.
Das gab es in keinem anderen Bereich der Medizin“, sagt Haltmayer. Erarbeitet wurde die Leitlinie unter der Ägide des Gesundheitsministeriums vom Ausschuss für Qualität und Sicherheit in der Substitutionsbehandlung in einem dreijährigen Prozess. Insgesamt vier medizinische Fachgesellschaften, darunter die Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP), zeichnen als Herausgeber verantwortlich. Für die behandelnden Ärzte bietet sie einen fachlichen Rahmen nach dem „State of the Art“, lässt jedoch in begründeten Fällen Abweichungen zu; „das bedeutet insgesamt mehr Therapiefreiheit für uns Ärzte“, betont Haltmayer.
Therapie wie jede andere
Unter anderem verweist die Leitlinie darauf, dass sich die Ziele der Behandlung „mit den üblichen Zielvorstellungen medizinischer Behandlung“ decken: Gemeint sind damit das Herstellen einer tragfähige Arzt- Patient-Beziehung, die Senkung von Morbidität und Mortalität sowie die Steigerung der Lebensqualität der Betroffenen. Der Suchtbeauftragten des Landes Niederösterreich sowie Leiter der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen am LKH Mauer, Prim. Dr. Christian Korbel, nennt darüber hinaus weitere Vorteile der Leitlinie in Bezug auf eine Optimierung der Substitutionstherapie: „Damit kann wesentlich rascher auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse reagiert werden, denn eine Leitlinie lässt sich rascher aktualisieren als eine gesetzliche Grundlage.“
Neubewertung
So widmet sich bereits jetzt ein Kapitel der Leitlinie der „Neubewertung der psychopharmakologischen Effizienz der Opioide“ und verweist auf aktuelle Forschungen mit „verblüffenden Erfolgen“ mit Opioiden bei therapieresistenten Depressionen. Nicht zuletzt könne damit „eine neue Richtung im Bestreben zur Normalisierung der Behandlung und ihrer Patientinnen/Patienten eingeschlagen werden“, heißt es in der Leitlinie. Die Rückbesinnung auf die psychoaktive Wirksamkeit der Opioide ermögliche es, die OST als psychopharmakologische Intervention zu definieren, deren Wirkung weit über eine Ruhigstellung des pathologischen Cravings und die Verbesserung des psychosozialen Zustandes hinausreicht. Auch wenn diese Forschungsergebnisse noch mit Vorsicht zu interpretieren sind, so decken sie sich laut Korbel mit den Erfahrungen der Suchttherapie: „Mit einem Entzug von der OST treten oft andere psychiatrische Erkrankungen hervor. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass 70 bis 80 Prozent der Suchtkranken schwere traumatische Erfahrungen gemacht haben und ihr Weg in die Sucht oft den Versuch der Selbstheilung darstellt.“Im Detail widmet sich die Leitlinie auch Komorbiditäten, Beikonsum und stationären Behandlungsformen: Im Kapitel „Die Rolle stationärer Interventionen im Kontext einer OST“ wird etwa auf die vielfältigen Möglichkeiten „stationärer Zwischenbehandlungsphasen“ bei substituierten Patienten eingegangen. Korbel hebt in diesem Kontext die Notwendigkeit der multidisziplinären Zusammenarbeit hervor: „Substitutionspatienten werden zunehmend älter und haben damit orthopädische Probleme wie Bandscheibenvorfälle. Damit rücken Fragen wie jene nach einer effektiven Schmerzbehandlung oder auch die optimale Therapie internistischer Krankheiten in den Vordergrund.“ Korbel wünscht sich in diesem Zusammenhang, dass noch immer bestehende Vorurteile innerhalb des Medizinsystems gegenüber dieser vermutlich am stärksten stigmatisierten Gruppe psychiatrischer Patienten abgebaut werden.
Harmonisierung
Unter den Psychiatern und Suchtspezialisten, die an der Leitlinie mitgearbeitet haben, ist auch Prim. Dr. Renate Clemens-Marinschek vom Krankenhaus de La Tour – Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen in Treffen. „Mit der Leitlinie wird erstmals österreichweit eine einheitliche Behandlungsbasis geschaffen, und sie liefert eine solide Basis für die Substitutionstherapie“, sagt Clemens- Marinschek. Eine solche Harmonisierung der Suchtbehandlung zwischen den Bundesländern sei nötig, um eine „Migration“ von Suchtkranken zu verhindern. „Mitunter kommt es vor, dass Patienten versuchen, Druck auf die Ärzte auszuüben, insbesondere im Hinblick auf die Mitgaberegelung. Hier bedeutet die Leitlinie ein Mehr an Sicherheit für die substituierenden Ärzte.“ Die Leitlinie beschreibt Kriterien zur Beurteilung der Stabilität der Patienten im Hinblick auf individuelle „Mitgabe-Regelungen“.Suchtbehandlung sollte nicht von vornherein durch Misstrauen geprägt sein, sondern den Patienten eine möglichst unabhängige Lebensgestaltung ermöglichen. Aus rechtlicher Sicht ist es zudem nun einfacher, bei Verdacht auf Missbrauch oder Weitergabe Informationen zwischen Apothekern und Ärzten weiterzugeben, wofür zuvor das Einverständnis der Patienten nötig war. Die Leitlinie behandelt ebenfalls die häufige Frage nach Komorbiditäten bzw. Beikonsum, die nach Erfahrung von Clemens-Marinschek zunehmend Gewicht bekommt. „Vor allem bei jüngeren Patienten scheinen psychiatrische Grunderkrankungen zunehmend häufiger zu sein, was jedoch auch mit der genaueren Diagnose zusammenhängen könnte. Das Spektrum der Komorbiditäten reicht über Depressionen bis hin zu bipolaren Störungen oder sozialen Phobien.“
Abstinenz-Paradigma?
Zur Frage einer völligen Abstinenz unterstreichen die drei Suchtexperten Haltmayer, Korbel und Clemens- Marinschek die auch in der Leitlinie formulierte Zurückhaltung: „Vom Paradigma der völligen Abstinenz und dem Druck, alle Patienten völlig suchtfrei zu bekommen, sind wir gänzlich abgegangen“, betont Clemens-Marinschek. „Immerhin bedeutet jeder gescheiterte Entzug eine zusätzliche Destabilisierung.“ Auch Haltmayer würde es als Erfolg ansehen, wenn die Leitlinie dazu beitragen könnte, die OST künftig als eine mitunter lebensbegleitend notwendige Therapie anzusehen wie medikamentöse Therapien bei organischen Erkrankungen. Ein Entzug des Substitutionsmittels dauert laut Korbel bis zu einem Dreivierteljahr und sollte jedenfalls sorgsam geplant werden. Zuvor müssten die Patienten jedoch – auch im stationären Setting – von bestehenden komorbiden Alkohol- und/oder Benzodiazepinabhängigkeiten entzogen werden.Im Detail führt die Leitlinie drei unterschiedliche Verlaufsformen der OST an: Erstens kann die Therapie unter ärztlicher Kontrolle bei entsprechender Lage lebenslang durchgeführt werden. Zweitens können wechselnde psychische, somatische oder soziale Gegebenheiten Anpassungen wie Dosisänderungen oder einen Wechsel des Substitutionsmedikamentes erfordern. Drittens kann sie in Abstimmung zwischen Arzt und Patient beendet und bei entsprechender Indikation wieder aufgenommen werden. Eine dauerhafte Abstinenz nach Beendigung der Therapie ist „nach allgemeinen Erfahrungen ein weniger häufiger Verlauf“. Haltmayer, Korbel und Clemens-Marinschek wünschen sich vor allem ein erhöhtes Engagement von psychiatrischen Fachärzten für die Substitutionstherapie. Von den rund 17.000 Substitutionspatienten in Österreich werden schätzungsweise 15 Prozent in Drogeneinrichtungen und 85 Prozent von niedergelassenen Ärzten, hier wiederum vornehmlich von Allgemeinmedizinern, betreut. „Angesichts der häufigen psychiatrischen Komorbiditäten würde ein verstärktes Engagement von Psychiatern die Qualität weiter verbessern“, meint Haltmayer.
„ Orientierung an den Erfolgen der Substitutionstherapie“
Das schlechte Image der Substitutionstherapie könnte auch damit zusammenhängen, dass angesichts einzelner Rückschläge die Mehrheit unauffälliger und unproblematisch verlaufender Behandlungen unterbewertet wird, meint Dr. Ursula Hörhan, Geschäftsführerin der Landesstelle für Suchtprävention sowie Suchtkoordinatorin des Landes Niederösterreich. „Es darf nicht sein, dass der Ruf eines Arztes infrage gestellt werde, nur weil sich ein oder zwei Patienten nicht an den Behandlungsvertrag halten.“ Neben medizinischen Aspekten widmet sich die mehrdimensionale Leitlinie ethischen und sozialen Fragen im Zusammenhang mit der OST. „Dabei geht es darum anzuerkennen, dass die Patienten selbst Experten für ihre Erkrankung sind und dass ihnen gegenüber mit Wertschätzung aufgetreten werden sollte. Die Behandlung ist grundsätzlich freiwillig, und sie erfordert eine vertrauensvolle Beziehung mit der Definition von Zielen“, fasst Hörhan zusammen.
Ob und inwieweit die Leitlinie auch präventives Potenzial habe, lässt sich laut Hörhan zwar nicht abschätzen; „gut betreute Substitutionspatienten sind jedenfalls vom Zwang befreit, sich damit zu befassen, wie sie an die nächste Dosis kommen können“. Da mit regionalen Unterschieden derzeit rund 50 bis 60 Prozent der Opiatabhängigen eine OST erhalten, gebe es durchaus noch Spielraum nach oben. Stigmatisierungen, die oft ungewollt „im Alltag passieren“, abzubauen und damit den potenziellen Patientenkreis zu erweitern, dazu könne die Leitlinie jedenfalls beitragen, wie Hörhan meint. Zur Prävention müssten letztlich auch die Medien durch eine sorgsame Berichterstattung beitragen: „Wir beobachten jedenfalls, dass Abhängigkeiten zunehmen, wenn ausführlich über Suchtmittel berichtet wird – das betrifft das aktuelle Thema Cannabis genauso wie die Spielsucht.“
Von Mag. Christina Lechner