Aufgrund neuerer Studienergebnisse wird die dekompressive Kraniektomie (decompressive craniectomy, DC) aktuell wieder mit ansteigender Tendenz bei sogenannten malignen Mediainfarkten durchgeführt (Mayer, 2007; Rieke et al., 1995). Das Für und Wider, die sich aus den Studien ergebende kontroverse Diskussion sowie die zu bedenkenden Folgen und möglichen Komplikationen sollen in folgender Übersicht kurz dargestellt werden. Weiters wird auf Evidenz und Kontroverse, Operationstechniken, Komplikationen, Prognose und Indikationsstellung eingegangen, und die Schlüsselpunkte werden zusammenfassend hervorgehoben. (CliniCum neuropsy 1/18)

Die Kraniektomie hat eine über 1.000-jährige Geschichte (Inkas, Ägypter und Griechen) aus mediko-religiösem Anlass. Hippokrates von Kos (460–370 v. Chr.) wird der Transfer dieser Methode vom Mystizismus zur medizinischen Behandlung zugeschrieben. Eine erste Beschreibung der frontotemporalen Knochendeckelentfernung erfolgte 1868 durch Markotte, bevor Kocher 1901 die Indikation und die hierfür erforderliche Technik ausführlich darstellte. Der neurochirurgischen Ikone Harvey Cushing wird die Beschreibung der ersten dekompressiven Kraniektomie zur Hirndrucksenkung mit einer Duraerweiterungsplastik zugeschrieben. Dies war im Jahr 1905 und erfolgte zur Therapie eines Hirntumors im Schläfenbereich.

Abbildung 1 Typisches Bild eines malignen Mediainfarkts: großes hyperdenses Areal >50 Prozent des Mediagebietes, deutliche Mittellinienverlagerung >5mm, auf der linken Abbildungsseite (Pat rechts) hyperdenses Mediazeichen bei klinischer Bewusstseinsverschlechterung von wach und ansprechbar zu komatös zwei Tage nach dem initialen Ereignis

Abbildung 1 Typisches Bild eines malignen Mediainfarkts: großes hyperdenses Areal >50 Prozent des Mediagebietes, deutliche Mittellinienverlagerung >5mm, auf der linken Abbildungsseite (Pat rechts) hyperdenses Mediazeichen bei klinischer Bewusstseinsverschlechterung von wach und ansprechbar zu komatös zwei Tage nach dem initialen Ereignis

Aufgrund wenig überzeugender Ergebnisse verlor die „dekompressive Kraniektomie“ als Maßnahme zur Hirndrucksenkung in den 1980er Jahren zunehmend an Bedeutung und tauchte erst im Anschluss an die Studie von Taylor und Mitarbeitern aus dem Jahr 2001 (Taylor et al., 2001) im Zusammenhang mit Hirnverletzungen bei Kindern mit nicht beherrschbarem konsekutivem Hirndruck wieder auf. Letztlich steht hinter der Methode das Konzept, einem steigenden, konservativ nicht beherrschbaren Hirndruck entgegenzuwirken, um eine Einklemmungssymptomatik zu vermeiden und um somit Sekundärschäden vorzubeugen (Stichwort Penumbra mit eingeschränkter Hirndurchblutung von 8–23ml/100mg Hirngewebe in der Minute) (Astrup, Siesjö, & Symon, 1981).

Maligne Arteria-cerebri-media-Infarkte

Zehn bis 15 Prozent der Mediainfarkte werden als maligne bezeichnet. Kennzeichnend ist ein raumforderndes Ödem, welches ein Maximum nach drei bis fünf Tagen erreicht (Abbildung 1). Klinisch hinweisend ist eine Verschlechterung des Patienten innerhalb von zwei bis drei Tagen mit einer meist akuten Hemiplegie und einer konjugierten Blickparese sowie einer Bewusstseinsverschlechterung auf der NIHSS von 0=alert zu 3 (Item 1a Bewusstseinsverlust, loss of consciousness). Dem Patienten droht die tentorielle Herniation, und der konservative Verlauf kann innerhalb von zwei bis fünf Tagen tödlich sein. Unter konservativer Behandlung beträgt die Mortalitätsrate nach wie vor 50 bis 80 Prozent (Hacke et al., 1996; Daou et al., 2016). Klinischer Prädiktor einer Entwicklung zum malignen Mediainfarkt ist eine Verschlechterung des Wachheitszustandes aufgrund einer rasant zunehmenden sekundären Hirnschwellung.

Diese zeigt sich bildmorphologisch zum Beispiel im CT mit dem sogenannten hyperdensen Arteria-cerebri-media(MCA)-Zeichen, einer Mittellinienverlagerung (>8mm) und einem Infarktareal, welches mehr als 50 Prozent des MCA-Versorgungsgebietes einnimmt (Dávalos et al., 1999; Kummer et al., 1994; Hacke et al., 1996; Hecht et al., 2017). Neben der genannten Bewusstseinsverschlechterung wird als Prädiktor eines schlechten Verlaufes auch die verzögert auftretende bilaterale Ptosis angesehen („Blacker-Mayo-BilPtosis-signinfarction-2003“, 2003; Averbuch-Heller, Leigh, Mermelstein, Zagalsky, & Streifler, 2002; Blacker & Wijdicks 2003). Eine zusätzliche posteriore temporale Hypodensität kann als Hinweis auf einen PCA-Infarkt und ein abgelaufenes Einklemmungsgeschehen gedeutet werden.

Evidenzlage zur dekompressiven Kraniektomie bei malignem Mediainfarkt

Basis gängiger Empfehlungen und Leitlinien (z.B. AHA/ ASA Scientific Statement 2014 und DGN-Leitlinie Akuttherapie des akuten ischämischen Schlaganfalls S1, Stand 2012, gültig bis 2014, AWMF 030/46) bilden die drei wegweisenden multizentrisch angelegten (wenn de facto auch auf sehr wenige Zentren beschränkten) randomisiert prospektiven Studien aus Frankreich DECIMAL (Vahedi, Vicaut et al., 2007b), niederländisch Hamlet (Hofmeijer et al., 2006) und deutsch Destiny (Jüttler et al., 2007), die aufgrund eines nachgewiesenen positiven Effektes zu einem vorzeitigen Studienstopp führten und von Vahedi et al. 2007 in „Lancet Neurology“ zusammengefasst wurden (Vahedi, Hofmeijer, et al., 2007a).

Im Wesentlichen ergab sich daraus folgende Empfehlung, die auch die AHA/ASA in ihrem Statement 2014 „Recommendations for the Management of Cerebral and Cerebellar Infarction with swelling“ unter den Empfehlungen zu den zusammengefassten Studien der neurochirurgischen Optionen bei einem sich verschlechternden Patienten unter Punkt 1–4 listet (Wijdicks et al., 2014): 1. In patients <60 years of age with unilateral MCA infarctions that deteriorate neurologically within 48 hours despite medical therapy, decompressive craniectomy with dural expansion is effective. The effect of later decompression is not known, but it should be strongly considered (Class I; Level of Evidence B). 2. Although the optimal trigger for decompressive craniectomy is unknown, it is reasonable to use a decrease in level of consciousness and its attribution to brain swelling as selection criteria (Class IIa; Level of Evidence A). 3. The efficacy of decompressive craniectomy in patients >60 years of age and the optimal timing of surgery are uncertain (Class IIb; Level of Evidence C). 4. Suboccipital craniectomy with dural expansion should be performed in patients with cerebellar infarctions who deteriorate neurologically despite maximal medical therapy (Class I; Level of Evidence B).

Die Kontroverse erwächst aus der Tatsache heraus, dass zwar eindeutig die Mortalität bei den Hemikraniektomierten im Vergleich zum besten konservativen Management signifikant gesenkt werden konnte (22 gegenüber 71 Prozent Mortalität in der gepoolten Analyse) (Vahedi, Hofmeijer et al., 2007a), dass aber keine einzelne Studie an sich eine signifikante Verbesserung des prozentualen Anteils an Patienten mit gutem Outcome (mRS-Score von 0–3, das heißt nicht abhängiges Lebensverhalten) zeigte. Dies war nur in der gepoolten Analyse aller drei Arbeiten mit 43 gegenüber 21 Prozent nachweisbar (Vahedi, Hofmeijer et al., 2007a). Bis jetzt wird darüber debattiert, was im Einzelfall ein funktionell akzeptabler Zustand bedeutet. Die Antworten von betroffenen Familien (Teil der initialen Studien) unterscheiden sich hier teilweise deutlich von den Ansichten involvierten medizinischen Fachpersonals: Zwei aktuelle Studien aus Australien – „ORACLE“ (Honeybul, Ho, & Blacker, 2017; Honeybul, Ho, & Blacker, 2016) – und Schweden (Olivecrona & Honeybul, 2018) unter „Healthcare Givern“ geben dies wieder. Ein mRS-Score von 4, das heißt bettlägrig und ohne Hilfe nicht in der Lage, den eigenen Körper zu versorgen, und nicht in der Lage, selbstständig zu gehen, wird in der ORACLE-Studie mehrheitlich als nicht mehr akzeptabel erachtet.

Gerade in der neurochirurgischen Gemeinde generierte die ORACLEStudie etliche schriftliche Kommentare im Fachjournal „Neurosurgery“ (Huang, 2016; Nakaji, 2016; Dagi, 2016). Weitergehend lösten die drei zugrunde liegenden Studien Decimal, Hamlet und Destiny multiple Folgestudien aus, die einzelnen Aspekten weiter nachgegangen sind. Unter anderem Destiny II (Jüttler et al., 2011; Jüttler et al., 2014), welche sich der Frage der Altersgrenze annahm und die Ergebnisse bei über 61-jährigen Patienten aufarbeitete (die vorherigen Studien hatten eine Altersgrenze von 60 Jahren). Jüttler et al. konnten an 112 Patienten, die im Median 70 Jahre alt waren (Altersbereich von 61–82 Jahren), zeigen, dass das primäre Outcome signifikant durch die Hemikraniektomie verbessert wurde: Der Anteil der Überlebenden ohne „signifikante“ Ausfälle betrug in der DC-Gruppe 38 gegenüber 18 Prozent in der konservativ behandelten Gruppe (Unterschied in der Mortalität von 33 vs. 70 Prozent). Jedoch stellte sich auch hier wieder die Frage nach der noch als akzeptabel erachteten Lebensqualität.

Keiner der Patienten erreichte einen mRSS von 0–2; nur sieben Prozent in der DC-Gruppe vs. drei Prozent in der konservativ behandelten Gruppe erreichten einen Wert von 3. Der Rest der Patienten war schwerst pflegeabhängig: 32 (DC) vs. 15 Prozent (kons.) hatten einen mRSS von 4 und 28 (DC) vs. 13 Prozent (kons.) einen von 5. In der Hemikraniektomie-Gruppe traten erwartungsgemäß mehr Infektionen auf als in der nicht operierten Gruppe. Destiny R ist eine weitere Studie, die im Wesentlichen ein fortlaufendes multizentrisches Register aufbaut, um so möglichst breitflächig viele Patientenverläufe zu erfassen (Neugebauer, Heuschmann, & Jüttler, 2012). Eine aktuelle retrospektive Studie der neurochirurgischen Gruppe der Universität Düsseldorf (Kürten et al., 2018) untersuchte den Nutzen der dekompressiven Hemikraniektomie nach malignen Mediainfarkten mit zusätzlicher Infarzierung im Versorgungsgebiet der Arteria cerebri anterior und/oder der Arteria cerebri posterior im Hinblick auf die Behandlungsergebnisse. Ebenso wurde mit dieser Studie versucht, zusätzliche prognostische Faktoren abzuleiten. Beachtenswerterweise wurden in diesem Patientengut zunehmend auch Folgeoperationen mit Nekrosektomien durchgeführt. Schlussfolgernd stellten die Autoren fest, dass auch mit einem über das MCA-Gebiet hinausgehenden Infarktgeschehen bei einigen der Patienten noch eine akzeptable funktionelle Wiederherstellung erreicht werden konnte (nach Kriterien der großen multizentrischen Studien).

Operationen – Grundlegendes zu den Trepanationsarten

Prinzipiell wird zwischen fronto-temporo-parietaler, bifrontaler und suboccipitaler dekompressiver Kraniektomie mit Duraerweiterung unterschieden (Ragel et al., 2010). Die fronto-temporo-parietale Kraniektomie ist die am häufigsten angewandte Art und zielt darauf, eine möglichst große Trepanation zu erreichen, die im Durchmesser 12cm überschreiten sollte und bei welcher temporal ausreichend Knochen entfernt wird, um möglichst in den basalen Bereich zu gelangen, damit auch eine uncale Herniation vermieden werden kann. Neben der eigentlichen Kraniektomie ist die systematische Duraeröffnung und Erweiterung ein ebenso entscheidender Faktor, da hierdurch die Ausdehnung des geschwollenen, stark unter Druck stehenden Hirns über das ursprüngliche Duraniveau ermöglicht wird. Nach den Heidelberger Empfehlungen von Aschoff et al. wird für die Duraeröffnung ein schwach gebogener Horizontalschnitt mit perpendikulären Erweiterungen empfohlen.

Neurochirurgisch wird diskutiert, ob die Duraerweiterung mittels Duraersatz gedeckt wird oder ob eine Weichteildeckung auch ohne Duraverschluss möglich ist. Eine neuere Studie kam zu dem Ergebnis, dass auch bei Deckung mittels Periost/Galea/Muskellappen ohne zusätzliche Duraplastik nach Duraeröffnung (und damit ohne Duraverschluss im eigentlichen Sinn) keine höhere Komplikationsrate (Liquorfistel, Abszess, subgaleale Flüssigkeitskollektion) auftritt und dass im Schnitt ca. eine halbe Stunde Operationszeit neben deutlich erniedrigten Kosten gespart werden kann (Vieira et al., 2017). Die Heidelberger Gruppe (insbesondere A. Aschoff ) hat sich bereits Ende der 90er Jahre intensiv mit der Frage der ausreichenden Trepanationsgröße (≥12cm) und der Abhängigkeit des Volumengewinns vom Trepanationsdurchmesser und der sachgerechten Duraeröffnung- und -erweiterung beschäftigt.

Abbildung 2 li: vor der dekompressiven Kraniektomie deutliche Mittellinienverlagerung von ca. 1cm, Teilinfarzierung des Mediastromgebietes mit Stauungseinblutung; re: erkennbare Trepanationslücke rechts hemisphärisch (auf dem linken Bildrand) bei z.n. zu kleiner Dekompression mit zwar erreichter sehr guter Druckentlastung und deswegen wieder mittig stehender Mittellinienstrukturen, jedoch zusätzlich aufgetretenen Herniationseffekten im Hirnparenchym durch Abpressen über dem Knochenrand.

Abbildung 2 li: vor der dekompressiven Kraniektomie deutliche Mittellinienverlagerung von ca. 1cm, Teilinfarzierung des Mediastromgebietes mit Stauungseinblutung;
re: erkennbare Trepanationslücke rechts hemisphärisch (auf dem linken Bildrand) bei z.n. zu kleiner Dekompression mit zwar erreichter sehr guter Druckentlastung und deswegen wieder mittig stehender Mittellinienstrukturen, jedoch zusätzlich aufgetretenen Herniationseffekten im Hirnparenchym durch Abpressen über dem Knochenrand.

Der errechnete Volumengewinn bei Vergleich einer Trepanation von 6cm (9ml Volumengewinn) zu 12cm (86ml Volumengewinn) liegt so bei 77ml (courtesy A. Aschoff, frei zur Verfügung gestelltes Vortragswerk). Die Relevanz des durch die dekompressive Kraniektomie möglichen Volumengewinns wird durch den Vergleich einzelner volumenmindernder Maßnahmen deutlich: durch Hyperventilation mit einem pCO2 um 30mmHg können 10ml Volumen gewonnen werden, bei komplettem Ablassen eines Seitenventrikels theoretisch 20ml und durch eine Dekompression mit einem Durchmesser von 12cm im Durchschnitt ca. 65ml (A. Aschoff, frei zur Verfügung gestelltes Vortragswerk). Nicht vergessen werden sollte die suboccipitale Kraniektomie bei infratentoriellen Infarktgeschehen mit Y-förmiger Duraerweiterung unterhalb des Sinus transversus. Die bifrontale Kraniektomie vom Boden der vorderen Schädelgrube bis zur Kranznaht und nach temporal bis zum Pterion mit Durchtrennung der Falx am Boden der vorderen Schädelgrube ist seltenst notwendig.

Suboccipitale Kraniektomie – infratentorielle Infarzierung und neurologische Verschlechterung

Wichtig ist es, sich den Unterschied zwischen einer supraund einer infratentoriellen Infarzierung im klinischen Verlauf zu vergegenwärtigen. Die infratentorielle Infarzierung präsentiert sich nur äußerst selten mit einem Bewusstseinsverlust, und ein solcher stellt sich auch bei maligner Entwicklung nur spät, dann aber sehr rasch ein. Damit bleibt nur sehr wenig Zeit für lebensrettende dekompressive Maßnahmen. Bei Überleben der Akutphase kann wiederum im Langzeitverlauf auch der komplette Verlust einer Hemisphärenfunktion relativ gut kompensiert werden. Aufgrund dessen ist bei infratentorieller Infarzierung im Sinne von Frühwarnzeichen für eine „maligne Entwicklung“ auf Hirnstammsymptome durch die zunehmende Schwellung und den sich entwickelnden Druck zu achten. Insbesondere Paresen der Okulomotorik, und hier vor allem der Blickwendung nach lateral außen durch eine Abducensparese sind hinweisend auf eine zunehmend beeinträchtige Hirnstammfunktion und werden in Zusammenschau mit einer entsprechenden Bildgebung (betroffenes Infarktareal) im Sinne einer dekompressionsrechtfertigenden Klinik gedeutet. Aus oben genanntem Grund ist das Outcome suboccipitaler Dekompressionen auch bei betagten Patienten, wenn rechtzeitig durchgeführt, durchaus häufig als vorteilhaft zu bezeichnen.

Komplikationen

Wie bereits beschrieben, sind zu kleine Trepanationen als kritisch zu erachten, da sie mehr Komplikationen als Nutzen erzeugen. Insbesondere durch Hernierung und zusätzliche Kompression des austretenden Hirns am Trepanationsrand werden negative Sekundäreffekte erzeugt (Abbildung 2). Weiter mögliche Komplikationen sind die Kompression von Brückenvenen, Stauung, Thrombose und mögliche Einblutungen. Durch die operative Maßnahme können Sinusverletzungen auftreten, parenchymale, subdurale, epidurale und subgaleale Blutungen sowie dekompressionsassoziierte Infarzierungen. Auch die Ausbildung kontralateraler Flüssigkeitskollektionen und ein infektiöser Verlauf sind möglich (Wagner et al., 2001).

Indikation zur dekompressiven Kraniektomie – formal vs. praxisrelevant

Formal ist eine Indikation zur dekompressiven Kraniektomie möglichst früh vor dem Eintritt irreversibler Sekundärschäden zu stellen, das Alter sollte möglichst unter 60 Jahren sein. Die Maßnahme versucht, einer therapieresistenten ICP-Erhöhung >25–30mmHg, die länger als eine halbe Stunde anhält, entgegenzuwirken. Somit besteht auch in einem kontinuierlichen ICP-Anstieg und in einem erniedrigten zerebralen Perfusionsdruck (CPP <50–60mmHg) und einem Mittellinienshift über 5mm eine OP-Indikation. In diese Kategorie fallen große unilaterale Infarkte (Volumen ≥145cm³; z.B. Areal von 7x 10cm auf mindestens zwei CT-Schichten bei Schichtendicke von 1cm) (Arnaout, Aoun, Batjer, & Bendok, 2011). Der maligne Verlauf sollte bildgebend und klinisch beobachtet worden sein. Eine Verschlechterung der Klinik im Verlauf und damit im Wesentlichen der Bewusstseinslage ist eine Grundvoraussetzung. Das Betroffensein der dominanten vs. der nicht dominanten Hirnhälfte sollte hingegen die Entscheidung für oder gegen eine Operation nicht mehr (wie teilweise früher üblich) beeinflussen und wird dementsprechend in interdiszipläneren Leitlinien unterschiedlicher Fachgesellschaften auch nicht als Kriterium gelistet (z.B. DGN, s.o.).

Kontraindikationen
Demgegenüber lassen sich folgende Kontraindikationen formulieren: eine anhaltende Mydriasis mit weiten lichtstarren Pupillen über 48 Stunden mit entsprechender Bildgebung, irreversible Hirnstammschäden, bilaterale Infarzierungen der Stammganglien, maligne Grunderkrankung mit absehbar reduzierter Lebenserwartung und eine nicht rekompensierbare Gerinnungsstörung. Eine aktuelle Patientenverfügung oder ein Testament mit ausdrücklicher Ablehnung würde dementsprechend auch eine Kontraindikation darstellen, in der Praxis ist dies jedoch meist nicht vorhanden. Das tatsächliche Alter des Patienten bei dem noch kraniektomiert werden sollte, wird hingegen weiterhin kontrovers diskutiert.

Eine Studie aus dem Jahr 2015 (Daou et al., 2016) listet signifikante Indikatoren für eine schlechtere Prognose: vorausgegangene Schlaganfallanamnese, Diabetes mellitus, Myokardinfarkt, Mittellinienverlagerung über 10mm, Pupillendilatation und Zeitdauer zwischen Schlaganfall und Operation. Das Alter hat in dieser Studie zwar die Odds-Ratio erhöht, aber keine statistische Signifikanz erreicht. Interessant in diesem Zusammenhang ist ebenso, dass der Anteil an tracheostomierten Patienten in dieser Studie bei 36 Prozent lag, zusätzlich 63 Prozent eine PEG erhielten und dass 25 Prozent dieser Patienten einen Cava-Filter benötigten. Nach Einschätzung des Autors ist völlig unabhängig von der Evidenz und Sachlage ebenso entscheidend, wie die Darstellung der Situation des klinischen Zustandes und der Prognose des möglichen „Outcome“ gegenüber den Angehörigen erfolgt.

Die Art der Gesprächsführung mit den Angehörigen und die hierbei vermittelten Inhalte sind in der Entscheidungsfindung für oder gegen eine Operation von großer Bedeutung. Eine auf bestimmte Wortfügungen basierende Interpretation im Hinblick auf das mögliche funktionelle Ergebnis beeinflusst die Entscheidung von Angehörigen. Die Formulierungen und vermittelten Inhalte sollten somit interdisziplinär abgestimmt sein und keine diskrepanten Informationen transportieren (Neurologe, Neurochirurg, Intensivmediziner etc.). Auch außerhalb der Akutphase, das heißt postoperativ mehrere Wochen nach dem Überleben, können weitergehende Komplikationen auftreten. Bekannt ist das bei „entdeckelten“ Patienten mögliche „Delayed sinking flap syndrome“ (Sarov et al., 2010). In den letzten Jahren hat sich unter anderem auch deswegen, weil der Rehabilitationsbehandlungserfolg positiv beeinflusst werden kann und weil man einem solchen Syndrom damit auch früher entgegengewirkt, die frühe Re-Deckelung nach drei bis vier Monaten etabliert. Doch auch diese kann Komplikationen nach sich ziehen.

Kranioplastie („Re-Deckelung“) – nicht unerhebliche Komplikationsrate

Die Re-Deckelung weist eine Komplikationsrate von zehn bis 20 Prozent auf. Dies führte unter anderem zur Initiierung eines prospektiven Kranioplastie-Registers (Giese et al., 2015) (Regelsberger, 2015). Eine aktuellere Arbeit von (Chang, Hartzfeld, Langlois, Mahmood, & Seyfried, 2010) an 212 über 13 Jahre nachbeobachteten Patienten beschrieb eine Komplikationsrate von 16,4 Prozent (Gesamtkollektiv), wobei Patienten, die aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas entdeckelt wurden, die niedrigste Komplikationsrate aufwiesen. Die Art des geeigneten Reimplantats wird nicht einheitlich beurteilt und reicht von autologem Knochen der zum Zeitpunkt der Entdeckelung in eine subkutane abdominale Bauchtasche des Patienten implantiert wird, über das Lagern in einer Knochenbank bei minus 80 Grad Celsius bis zum Verwerfen des autologen Knochendeckels und Reinsertion eines handgefertigten Palacosoder CAD-angefertigten Implantats; für diese stehen wiederum unterschiedlichste Materialen zur Verfügung. Ebenso wenig Konsens besteht im Hinblick auf Reimplantationen bei Kindern, v.a. im Hinblick auf Material, „Banking“ und geeigneten Zeitpunkt ; die wenigen verfügbaren Daten beziehen sich zudem überwiegend auf dekompressive Kraniektomien, welche infolge von Schädel-Hirn Traumen durchgeführt wurden (Bowers, Riva-Cambrin, Hertzler, & Walker, 2013; Frassanito, Massimi, Caldarelli, Tamburrini, & Di Rocco, 2012; Lehe, Kim, Schramm, & Simon, 2012; Martin et al., 2014; Pechmann, Anastasopoulos, Korinthenberg, van VelthovenWurster, & Kirschner, 2014; Rocque, Amancherla, Lew, & Lam, 2013).

Zusammenfassung

  • Die dekompressive Kraniektomie (DC) wird nach wie vor im Hinblick auf Alter und funktionelles Ergebnis kontrovers diskutiert.
  • Die Indikation zum Eingriff orientiert sich am klinischen Verlauf und der Bildgebung.
  • Das Aufklärungsgespräch mit den Angehörigen muss auch mögliche Folgen realistisch schildern.
  • Nach Ansicht des Autors sollte immer eine individuelle Indikationsstellung und eine interdisziplinäre Abwägung erfolgen.
  • Eine dekompressive Kraniektomie mit Duraerweiterung sollte möglichst groß durchgeführt werden, sonst ist sie eher kontraproduktiv („groß oder gar nicht“).
  • Auch ein Re-Deckelungseingriff ist nicht risikofrei (Komplikationsraten zwischen zehn und 20 Prozent).

„Aktueller Stand der Kraniotomie beim SchlaganfallPatienten“, Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der Österreichischen Schlaganfallgesellschaft, Klagenfurt, 19.–20.1.18

Foto: PrivatPrim. Univ.-Prof. Dr. Thomas Kretschmer,
IFAANS Abteilung für Neurochirurgie, Klinikum Klagenfurt am Wörthersee

Literaturverzeichnis beim Autor