Die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen und der häufigen Komorbidität erfordern Diagnose und Therapie ein multimodales und multidisziplinäres Vorgehen. (CliniCum neuropsy 6/17)

Neuerungen im DSM-5

Die Version 5 des DSM wurde 2013 eingeführt. In Bezug auf ADHS sind Neuerungen in folgenden Bereichen hervorzuheben:

  • ADHS wird nicht mehr den Sozialverhaltensstörungen (Entstehung als Folge von z.B. „pädagogischem Versagen“) zugeordnet, sondern den „Neurodevelopmental Disorders“. Damit werden die Assoziation mit zentralnervösen Reifungsprozessen und entwicklungspsychopathologische Komponente der ADHS betont.
  • Das Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) als Ausschlusskriterium entfällt. Durch die Differenzierung von Patienten mit ASS und zusätzlicher ADHS-Symptomatik und Patienten ohne ADHSSymptomatik wird klinisch eine differenzierte Behandlung der individuellen Psychopathologie erleichtert.
  • Die ursprünglich für die Phänomenologie im Kindesalter konzipierte Liste der 18 Symptome wurde durch Beispiele ergänzt, die vor allem illustrieren, wie sich die Symptomatik im späten Jugend- und im Erwachsenenalter darstellt. Ein Ziel dabei war, die Reliabilität und Konsistenz der Beurteilung der Symptomatik bei Jugendlichen und Erwachsenen vor dem Hintergrund ihres altersabhängigen Wandels zu verbessern. Es gibt jedoch auch Stimmen in der Fachwelt, die meinen, dass diese Anhebung der Altersgrenze, bei der Diagnosestellung einer Erkrankung mit hohen Anteilen einer Entwicklungsstörung, nicht von Vorteil ist.
  • Die Zahl der notwendigen Symptome für Jugendliche ab 17 Jahren und für Erwachsene wurde für beide Symptombereiche von sechs auf fünf herabgesetzt. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich die Zahl der Symptome mit zunehmendem Alter tendenziell verringert, die funktionelle Beeinträchtigung aber persistiert und sich verstärken kann (Faraone et al., 2006; Solanto et al., 2012).
  • Die Altersgrenze für die Erstmanifestation der Symptomatik wurde auf zwölf Jahre hinaufgesetzt. Das Kriterium eines Beginns der Symptomatik vor dem Alter von sieben Jahren hatte sich einer Metaanalyse zufolge als nicht valide erwiesen (Kieling et al., 2010). Damit wird die Diagnostik im Jugend- und Erwachsenenalter erleichtert, da nur ein begrenzter Personenkreis über ausreichende Erinnerungen an die Zeit vor dem achten Lebensjahr verfügt.
  • Die Bedeutung multipler Beurteiler und situationsübergreifender Symptomatik wird stärker betont. Die Diagnose aufgrund der Informationen nur eines Beurteilers hat sich als wenig valide erwiesen (Sayal & Goodman, 2009; Valo & Tannock, 2010), da Eltern- und Lehrerurteile häufig unterschiedlich ausfallen (Breuer et al., 2009).
  • Der Begriff der „Subtypen“ wird durch „Erscheinungsformen“ ersetzt, wobei sich die Unterscheidung der beiden Symptomdimensionen „Unaufmerksamkeit“ und „Hyperaktivität/Impulsivität“ als valide erwies (Willcutt et al., 2012). Der Begriff „Subtypus“ suggeriert stabile Entitäten, was nicht den klinischen Beobachtungen entsprach. Um den möglichen Wandel der Symptomatik über die Lebensspanne zu betonen, wurde im DSM-5 die Bezeichnung „Subtypus“ aufgegeben und durch das im aktuellen Querschnitt erkennbare Erscheinungsbild („Präsentation“) ersetzt.

„Eine ADHS liegt vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutliche Hyperaktivität ausgeprägt ist, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entspricht und zu deutlicher Beeinträchtigung in verschiedenen sozialen Bezugssystemen und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führt“ – so beschreibt die Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. das Störungsbild (2007). ADHS ist eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Die Angaben dazu schwanken je nach angewandten Diagnosekriterien, Erhebungsmethoden und untersuchten Bevölkerungsgruppen zwischen 2,4 bis sieben Prozent. Im Vorschulalter liegen sie bei ca. 1,8 Prozent. Untersuchungen weisen darauf hin, dass ADHS kulturübergreifend mit ähnlicher Häufigkeit auftritt. So wird in einer Metastudie (Regressionsanalyse von Polancyk et al., 2007) eine weltweite Prävalenzrate von 5,29 Prozent gefunden. Bei Jungen wird die Diagnose drei- bis viermal häufiger gestellt als bei Mädchen, welche zumeist auch in Richtung der vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsform imponieren.

Tabelle 1

ADHS: Einflussfaktoren auf die Entstehung

Genetik

  • Heritabilität von 76 Prozent
  • Gene mit geringem Effekt: katecholaminerge Systeme (Dopamin, Noradrenalin, Serotonin)
  • Gene mit weitreichendem Effekt: keine

Neurotransmittersysteme

  • Dysbalance dopaminerger und noradrenerger Transmittersysteme

Strukturelle und funktionelle Korrelate

  • Abweichungen der grauen und weißen Hirnsubstanz
  • Abweichungen neuronaler Funktionen und Konnektivität

Umweltfaktoren

  • Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen
  • Nikotin- und Drogenabusus in der Schwangerschaft

Die Pathomechanismen der ADHS sind nicht im Detail geklärt. Man geht von einer multifaktoriellen Genese aus, wobei genetische Faktoren eine bedeutende Rolle spielen (Tabelle 1). Zu den als nicht genetischen Einflussgrößen diskutierten Faktoren zählen Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen (Eklampsie, verringertes Geburtsgewicht, höheres Alter der Mutter, fetaler Stress, Frühgeburtlichkeit) sowie Nikotin- und Drogenkonsum während der Schwangerschaft (Voeller, 2004). Auf neurobiologischer Ebene wird die ADHS als ein heterogenes Störungsbild mit Dysfunktionen in Regelkreisen zwischen präfrontalem Kortex, parieto-occipitalem Kortex, Basalganglien und Vermis cerebelli auf dem Boden einer Neurotransmitterfunktionsstörung im dopaminergen System gesehen, wobei das noradrenerge und das serotoninerge System ebenfalls betroffen sind (Faraone et al., 2001; Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. 2007).

Tabelle 2

Wichtige Symptome von ADHS im Überblick
nach ICD-10/DSM-IV bzw. -5

Symptomdimension Unaufmerksamkeit

  • Schwierigkeiten, Einzelheiten zu beachten, Flüchtigkeitsfehler
  • Mühe mit Daueraufmerksamkeit
  • Schwierigkeiten zuzuhören
  • Mühe, Anweisungen oder Aufgaben zu Ende zu bringen
  • Schwierigkeiten bei der Organisation von Aufgaben und Aktivitäten
  • Mühe, sich länger geistig anzustrengen
  • Häufiges Verlieren und Verlegen von Gegenständen
  • Leichte Ablenkbarkeit durch äußere Reize
  • Übermäßige Vergesslichkeit im Alltag

Symptomdimension Hyperaktivität/Impulsivität

  • Motorische Hyperaktivität
    – Ständige Unruhe in Händen und Füßen
    – Mühe, ruhig sitzen zu bleiben
    – Bild des „Zappelphilipp“
    – Schwierigkeiten, ruhig zu spielen
    – „Innerlich wie von einem Motor angetrieben“
    – Schlafstörungen
  • Mangelnde Impulskontrolle
    – Übermäßiges Reden
    – Antworten, bevor die Frage vollständig gestellt wurde
    – Schwierigkeiten abzuwarten, bis man an der Reihe ist
    – Störendes Verhalten gegenüber anderen

Klinische Merkmale werden dann auch mit der Dysfunktion in den betroffenen Arealen in Verbindung gebracht: Unaufmerksamkeit, Antizipationsschwierigkeiten etc. (präfrontaler Kortex); Stimmungslabilität, Ängstlichkeit etc. (limbisches System); Hyperaktivität, Tics etc. (Basalganglien); Impulshaftigkeit (Vermis cerebelli). Reifungsmechanismen – im Sinne einer primären „Unreife“ dieser Systeme (mit der Chance der Nachreifung – z.B. Abnahme der Hyperaktivität im Erwachsenenalter) scheinen eine Rolle zu spielen. Die Symptome von ADHS treten mit lebensalter- und geschlechtstypischer Ausprägung vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter auf. Bei Jugendlichen nimmt die hyperaktive Symptomatik tendenziell ab, Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität bleiben eher bestehen. Bei Erwachsenen wird eher eine Abnahme der Anzahl von Symptomen beobachtet, wobei die verbleibenden Beeinträchtigungen jedoch persistieren und mit steigendem Alter tendenziell zunehmen (Solanto et al., 2012). Bei rund zwei Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen persistiert die Symptomatik bis ins Erwachsenenalter.

Diagnose

Die drei Kernsymptome des ADHS sind Aufmerksamkeitsdefizit, motorische Hyperaktivität und mangelnde Impulskontrolle (Tabelle 2). Für die Diagnosestellung „ADHS“ müssen – aktualisierte – Kriterien erfüllt sein:

  • Beginn der Symptomatik in der Kindheit (ICD-10: vor dem 6. Lebensjahr; DSM-5: vor dem 12. Lebensjahr)
  • Die Symptomatik liegt in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vor
  • Die Symptomatik hat zumindest sechs Monate lang bestanden
  • Beeinträchtigungen liegen in mindestens zwei Lebensbereichen vor
  • Die Symptomatik ist nicht durch andere psychische Störungen erklärbar

In Deutschland und Österreich wird zur Diagnosestellung von ADHS (noch) das ICD-10 der WHO verwendet. Das moderne DSM-5 der American Psychiatric Association ist mittlerweile etabliert, obwohl Änderungen für Diskussionen sorgten. Tabelle 3 zeigt die wichtigsten Unterschiede. Inwiefern ein demnächst erscheinendes ICD-11 Änderungen des DSM-5 übernehmen wird, bleibt abzuwarten.

Komorbiditäten

Tab4

Komorbide Störungen sind häufig und betreffen zwei Drittel bis drei Viertel der Kinder mit der Primärdiagnose ADHS (Tabelle 4). Dabei stehen oppositionelle Störungen, Störungen des Sozialverhaltens und Suchtverhalten im Vordergrund. Relativ häufig werden auch Schlafstörungen, depressive Störungen, Angst- und Tic-Störungen sowie umschriebene Entwicklungsstörungen gesehen. Mehrfachdiagnosen kommen häufig vor. Liegt eine tiefgreifende Entwicklungsstörung oder eine Intelligenzminderung vor, so wird diese als vorrangig angesehen.

Diagnostisches Verfahren im Überblick

Grundsätzlich ist ADHS eine klinische Diagnose, die fachärztlich, auf Basis von Psychopathologie und Anamnese, gestellt wird. Unterstützend und ergänzend werden dafür validierte diagnostische Instrumente, psychologische Befundung und funktionelle Diagnostik angewandt. Somatische Untersuchungen dienen lediglich der Differenzialdiagnostik. Nach der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. (2007) lässt sich die Diagnose wie folgt überblicksmäßig darstellen. Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (2007) wird derzeit aktualisiert.

Anamnese. Die Einbeziehung anderer Kinder und Jugendlicher, der Eltern, der Erzieher und Lehrer ist demnach eine wichtige diagnostische Maßnahme. Sie ist unverzichtbar, um die Kernsymptome der ADHS, assoziierte Störungen und deren Entwicklung und Auswirkungen in der Biografie sowie wichtige Differenzialdiagnosen zu erkennen. Dazu gehören eine umfassende Sozial- und Familienanamnese sowie die Fremdbeurteilung des störungsspezifischen Bildes.

Klinische Untersuchung. Der klinische Untersuchungsbefund und Verhaltensbeobachtungen sind ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für ein umfassendes Bild der Betroffenen. Aktuelle Psychopathologie sowie soziales Funktionieren im Einzel- und Gruppensetting können dabei beurteilt werden. Hyperaktivität auf Basis von z.B. Deprivation, Depression, Bindungsstörungen oder Minderbegabung kann dann differenziert beurteilt werden. Auch physische Beeinträchtigungen wie Hör- oder Sehschwächen können verhaltensbeeinflussend sein. Auf neurologischer Ebene können sensomotorische Störungen (z.B. auf Basis von perinatalen Komplikationen) relevant sein. Erwähnenswert ist, dass ein „unauffälliges“ Verhalten in der „strukturierten“ Untersuchungssituation nicht unbedingt als Ausschlusskriterium einer ADHS betrachtet werden kann – unbedingt sollten Anamnese und Außenanamnese entsprechend gewürdigt werden!

Diagnostische Instrumente. ADHS-spezifische Fragebögen fokussieren auf bestimmte diagnosetypische Verhaltensweisen und ermöglichen damit bis zu einem Grad eine standardisierte Diagnostik und eine Abgrenzung der Erscheinungsformen. Eine Liste findet sich auf der Homepage des Universitätsklinikums Köln www.zentralesadhs- netz.de. Neben der Diagnostik sind diese Fragebögen auch für die Verlaufskontrolle einsetzbar.

Testpsychologische Untersuchungen. Diese werden ergänzend zur klinischen Diagnostik eingesetzt. Die standardisierte Beurteilung des Verhaltens, der Entwicklung, Intelligenz, Aufmerksamkeitsspanne und Impulsivität kann wichtige Hinweise auf das Vorliegen von ADHS geben. Erforderlich sind testpsychologische Untersuchungen vor allem dann, wenn die genaue Erfassung von Begabungsniveau oder Teilleistungsstörungen bedeutsam ist.

Videoaufzeichnungen. Sowohl für Diagnostik und Therapie als auch für die Verlaufskontrolle können optionale Videoaufzeichnungen von Nutzen sein. Eltern und je nach Alter auch Patienten können Auffälligkeiten in Mimik, Gestik und Körpersprache sowie unangepasstes Verhalten – inklusive der Reaktion der Eltern – demonstriert werden. Dabei können Aufnahmen verschiedener Situationen (Arztgespräch, Schule, Hort) sinnvoll sein.

Laboruntersuchungen, EEG, Gehörprüfung, Visusüberprüfung, MRT. Diese Untersuchungen dienen ausschließlich zur Differenzialdiagnostik (z.B. Ausschluss einer Schilddrüsenerkrankung, Ausschluss von Epilepsie etc.).

Therapie

Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen von ADHS erfordert das therapeutische so wie das diagnostische Vorgehen ein multimodales und multidisziplinäres Vorgehen. In einem Konsensus-Statement wurde dazu ein Algorithmus nach den Deutschen AWMF-Leitlinien zusammengefasst (Abbildung rechts). Das Behandlungssetting ist üblicherweise ein ambulantes. Bei unklarer Diagnose oder schwerer Symptomatik und Gefährdung der sozialen Integration, bei ambulant schwieriger medikamentöser Einstellung oder komplexer klinischer Symptomatik (Komorbidität) sollte eine teilstationäre Therapie angedacht werden. Eine vollstationäre Aufnahme des betroffenen Kindes/Jugendlichen ist nur dann anzustreben, wenn die familiären Ressourcen überfordert sind und/oder wenn das Kind bzw. der Jugendliche unter einem täglichen Kontextwechsel leidet.

Vorgehen

Generell wird immer die Etablierung einer ADHS-Elternberatung (mit vielen psychoedukativen Elementen) und eine strukturierende Therapie mit dem Ziel des Erwerbs von Selbstkontrolle und Selbststrukturierung für die Betroffenen empfohlen. Diese Empfehlung gilt bei leichter bis milder Ausprägung der Symptomatik, leichten bis mittleren Einschränkungen und (noch) belastbarem Umfeld (Eltern, Schule). Die Wirksamkeit der Therapie wird sich innerhalb von einigen Wochen und Monaten zeigen. Bei unzureichendem Ergebnis, bei mittlerer bis schwerer Symptomatik mit massiven Einschränkungen und hochbelasteten Systemen wird dann eine zusätzliche medikamentöse Therapie etabliert. Eine Wirksamkeit zeigt sich dann innerhalb von wenigen Tagen bis Wochen. Diese Empfehlungen basieren auf vielen Studien. In der US-amerikanischen MTA-Studie schnitt die kombinierte Therapie mit Medikation, Verhaltenstherapie und ADHS-Beratung am besten ab, aber auch die Pharmakotherapie mit ADHS-Beratung erwies sich als sehr erfolgreich (Richters et al., 1995; Owens et al., 2003; Molina et al., 2009).

Bei der Reduktion der internalisierenden und aggressiven Begleitsymptome sowie der Verbesserung der sozialen Kompetenzen, der Eltern-Kind-Beziehung und der schulischen Leistungen erwiesen sich Pharmakotherapie mit ADHS-Beratung und Verhaltenstherapie als die effizientesten Methoden. Bei der Reduktion der Kernsymptome war die Pharmakotherapie mit ADHS-Beratung der reinen Verhaltenstherapie überlegen. Allerdings verminderten sich nach 36 Monaten die Unterschiede zwischen den einzelnen Methoden mit einer Stabilisierung der Therapieeffekte. Eine deutsche Studie (Kölner Adaptive Multimodale Therapiestudie – KAMT-Studie) aus 2004 kommt zu ähnlichen Ergebnissen (Döpfner et al., 2004).

Nicht medikamentöse Ansätze

Bei der psychotherapeutischen Behandlung von ADHS stehen v.a. strukturierende, symptomorientierte psychotherapeutische Ansätze im Vordergrund. Diese Therapiemethoden (Verhaltenstherapien etc.) sind am besten evaluiert und haben sich auch in der Praxis bewährt. Dabei wird einerseits patientenzentriert, andererseits elternbzw. familienzentriert gearbeitet. Im besten Fall wird auch das schulische Umfeld einbezogen. Essenziell ist eine entsprechend spezifische, umfassende Psychoedukation mit Patienten, Eltern, Schule etc., wobei das Krankheitsmodell und die Symptome erklärt sowie die therapeutische Beeinflussung erläutert und geübt werden. Ziel der Psychoedukation ist, Wissen und Verständnis für ADHS zu erhöhen, Möglichkeiten der Beeinflussung aufzuzeigen, emotionalen Druck zu verringern und Voroder Falschurteile zu entkräften.

Medikamentöse Therapie

Der Entscheidung für eine Pharmakotherapie der ADHS sollen mehrere Entscheidungskriterien zugrunde gelegt werden: Intensität der Störung, Akuität der Situation, Beeinträchtigung von Patient und Umfeld, Alter des Kindes/ Jugendlichen (für Vorschulalterkinder sind derzeit keine ADHS-Medikamente zugelassen), Verfügbarkeit der Pharmakotherapie, psychosoziales Umfeld und Compliance. Für die medikamentöse Behandlung gelten die Kriterien Wirksamkeit, gute Verträglichkeit/günstiges Nebenwirkungsprofil/Wechselwirkungspotenzial, Tagesprofil der Symptomatik, gute Praktikabilität, Missbrauchspotenzial, ökonomische Parameter, komorbide Störungen, körperliche Erkrankung und Akzeptanz/ Compliance/Adhärenz.

Medikamentöse Behandlungsoptionen von ADHS

  • Stimulanzien: Methylphenidat, Amphetamin, Lisdexamfetamin
  • Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer: Atomoxetin
  • Alpha-2A-Rezeptoragonisten: Guanfacin
  • Off-Label-Use: Trizyklische Antidepressiva, MAO-Hemmer, Antidepressiva mit dualem Wirkmechanismus, Alpha-Antagonisten, Antipsychotika, Antiepileptika, Betablocker

Bei den in Österreich zur Behandlung der ADHS zugelassenen Medikamenten handelt es sich um diverse Präparate aus der Gruppe der Stimulanzien (Amphetamin, Methylphenitat, Lisdexamphetamin), einen Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmer (Atomoxetin) und ein zentral wirksames Sympathotonikum (Guanfacin). Vertreter aller Wirkstoffgruppen sorgen für eine verbesserte Regulierung der betroffenen Neurotransmittersysteme.

Stimulanzien. Die Wirksamkeit von Stimulanzien fußt auf der Katecholamin-Hypothese, die von einer Verminderung von Noradrenalin und Dopamin im synaptischen Spalt ausgeht, wobei auch das serotonerge System mitbetroffen sein dürfte. Für den Einsatz von Stimulanzien sprechen die lange Erfahrung mit diesen Medikamenten, die große Anzahl von mehr als 300 Studien und die gute Wirksamkeit. Etwa 80 Prozent der mit Stimulanzien behandelten Patienten sind Responder. Stimulanzien gelten als Standardtherapie der ADHS. Es stehen kurz- und langwirksame Präparate zur Verfügung (Tabelle 5 und 6), wobei auch Kombinationen je nach Anforderungen im Tagesverlauf angewandt werden. Langwirksame Präparate (Extended-Release-Präparate, Retard-Präparate) haben folgende Vorteile:

  • Kontinuierliche Wirkspiegel mit weniger On/Off- und Rebound-Phänomenen
  • Weniger Nebenwirkungen
  • Geringeres Suchtpotenzial
  • Bessere Benutzerfreundlichkeit
  • Höhere Compliance/Adhärenz
  • Geringeres Stigma

Die häufigeren Nebenwirkungen von Stimulanzien umfassen Appetitverlust, Kopf- und Bauchschmerzen, Arrhythmie, Puls- und Blutdruckveränderungen, Agitation und Schlafstörungen. Gelegentlich bis selten treten Dysphorie, Wachstumsstörungen, „Wesensveränderungen“ und psychotische Reaktionen auf. Sehr selten bzw. mit unbekannter Häufigkeit wurden Konvulsionen, Blutbildveränderungen, plötzlicher Herztod, zerebrovaskuläre Erkrankungen einschließlich Vaskulitis, Hirnblutungen, zerebrovaskuläre Ereignisse und zerebraler Verschluss beobachtet. Regelhaft sollten Puls, Blutdruck und Wachstum kontrolliert werden, gelegentlich sollten Kontrolle des Blutbilds und ein EKG erfolgen. Sämtliche Untersuchungen sollten auch vor Einstellungsbeginn durchgeführt werden.

Stimulanzien sind kontraindiziert bei:

  • Diagnose oder Anamnese verschiedener psychiatrischer Erkrankungen wie Schizophrenie, schwere Depression, Borderline-Störungen oder bipolare affektive Störungen
  • Hyperthyreoidismus und Thyreotoxikose
  • Vorbestehende Herz-Kreislauf-Erkrankungen einschließlich schwerer Hypertonie, Herzinsuffizienz, arterieller Verschlusskrankheit und Angina pectoris
  • Vorbestehende zerebrovaskuläre Erkrankungen wie zerebrale Aneurysmen, Gefäßabnormalitäten und Schlaganfall
  • Während der Behandlung mit MAO-Hemmern oder innerhalb von mindestens zwei Wochen nach Absetzen solcher Substanzen
  • Glaukom
  • Phäochromozytom

Stimulanzien sind bei Intelligenzminderung, tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, Epilepsie und bestehender oder zurückliegender Drogen- oder Alkoholabhängigkeit mit Vorsicht zu verordnen.

Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. In Österreich ist aus dieser Wirkstoffgruppe Atomoxetin auf dem Markt. Das Medikament hemmt hochselektiv den präsynaptischen Noradrenalin-Rezeptor, erhöht die Wirkung von Noradrenalin im präfrontalen Kortex und wirkt indirekt auf den Dopaminspiegel. Etwa 50 bis 70 Prozent der mit Atomoxetin behandelten Patienten sind Responder. Die Wirksamkeit gilt allgemein als etwas geringer, hält allerdings – nach Einmalgabe – 24 Stunden an. Nebenwirkungen und Kontraindikationen von Atomoxetin sind ähnlich denen der Stimulanzien.

Zentrale alpha-Sympathomimetika. Es handelt sich um eine Substanzgruppe, die bereits 1979 als zentrale Antihypertonika eingesetzt wurden. Es zeigte sich eine zusätzliche Wirksamkeit bei ADHS, und die Substanz wurde in Fachkreisen als „Off-Label-Behandlung“ von ADHS bei mangelnder Wirksamkeit von oder Kontraindikation gegen Stimulanzien eingesetzt. In den USA wird seit 2011 nunmehr eine verbesserte Substanz mit Retard-Wirkung (Guanfacin) als ADHS-Medikament zur Anwendung gebracht und darf auch seit 2017 in Österreich (nach chefärztlicher Bewilligung) im Kindes- und Jugendalter eingesetzt werden. Vorteile sind u.a. eine 24-Stunden-Wirkung und fehlendes Missbrauchspotenzial. Als Nebenwirkungen können u.a. Müdigkeit, RR-Abfall und Sehstörungen auftreten.

Zusätzliche therapeutische Ansätze

Als nicht medikamentöse Therapie zeigt das allerdings aufwendige „Neurofeedback“ in einigen kleinen Studien erste positive Ergebnisse, die Effektivität muss aber erst bestätigt werden. Als eine sinnvolle Nahrungsergänzung zur Verbesserung der Hirnleistung scheinen sich ungesättigte Fettsäuren zu erweisen (Richardson et al., 2005). Sie sollen „neuroprotektiv“ in den Nervenzellmembranen wirken. Bei Kindern mit ADHS wurden auch niedrigere Spiegel von Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren im Plasma und in der Phospholipidmembran der Erythrozyten festgestellt, und so wurde auf Defizite im Bereich der Nervenzellen geschlossen. Spezielle Kombinationen mehrfach ungesättigter Fettsäuren haben einen positiven, dosisabhängigen Effekt auf Kinder mit ADHS-Symptomen, Dyslexie, Dyspraxie und Autismus (Schuchardt et al., 2010).

Prognose

Die Kernsymptome von ADHS sind sehr gut behandelbar. In etwa zwei Drittel der Fälle bestehen Symptome und Einschränkungen – und somit Behandlungsbedürftigkeit – bis ins Erwachsenenalter. Die Prognose ist abhängig von der Behandlungscompliance, den zusätzlichen komorbiden Beeinträchtigungen und den zu bewältigenden Anforderungen. Spezielle Schulsettings (Einzelsitzplätze, reizarme Umgebung, geschultes Lehrpersonal) und entsprechende berufliche Überlegungen („aktive“ Berufe mit (auch) körperlicher Betätigung etc.) sind essenziell, um den Betroffenen Erfolgserlebnisse und eine entsprechende positive Entwicklung bieten zu können. Mangelnde Therapie-Compliance ist häufig mit dem Jugendalter verbunden und steht auch im Zusammenhang mit persönlichen, schulischen und beruflichen Misserfolgen. In einer Longitudinalstudie über drei Jahre setzten 48 Prozent der Jugendlichen die Medikation ab (Thiruchelvam et al., 2001). Durch die Verabreichung von praktikabler, individuell passender Medikation (spezif. Substanzgruppe, Retard-Präparat etc.), einem altersspezifischen Behandlungssetting und einem individuell entsprechendem schulischen und beruflichen Umfeld kann dem entgegengewirkt werden.

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Prim. Dr. Ralf Gößler
Neuropsychiatrische Abteilung für Kinder und Jugendliche, Krankenhaus Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel, Wien

Ärztlicher Fortbildungsanbieter: Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Wien

Lecture Board: Assoc.-Prof. Dr. Julia Huemer, Priv.-Doz. Dr. Belinda Plattner, Ass.-Prof. Dr. Christine Vesely