Autoimmunerkrankungen werden zunehmend mit Veränderungen des Darm-Mikrobioms in Verbindung gebracht. Das dürfte auch für die Multiple Sklerose (MS) gelten, wie experimentelle Arbeiten im Tiermodell sowie Kohortenstudien am Menschen nahelegen. In Zukunft könnten sich hier Perspektiven für neue Therapien ergeben. (CliniCum neuropsy 3/18)
Epidemiologische Daten legen nahe, dass an der Entwicklung einer MS zwei Faktoren beteiligt sind: Eine genetische Prädisposition sowie nicht genetische Triggerfaktoren aus der Umwelt. Die genetischen Faktoren sind mittlerweile, so Prof. Dr. Hartmut Wekerle vom Max Planck Institut für Neurobiologie in Martinsried, dank großer GWAS (Genome-Wide Association Studies) gut bekannt. Gleichzeitig sei die Frage nach den möglichen Triggerfaktoren jedoch noch weitgehend ungeklärt. Verdächtigt wurden vor allem Infektionen, doch keiner der vorgeschlagenen Erreger habe sich, so Wekerle, als ausreichend stark mit MS assoziiert erwiesen.
MS und Ernährung
Überlegungen, die einen Zusammenhang zwischen MS und Ernährung herstellten, wurden bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert angestellt. Auf Basis von Daten aus dem ländlichen Norwegen wurde MS-Patienten eine fleischreduzierte Kost vorgeschlagen, die auch möglichst wenig gesättigte Fette enthalten sollte.1 Diese nach dem Erfinder „Swank-Diät“ genannte Ernährungstherapie wird nach wie vor in alternativmedizinischen Kreisen propagiert, darüber hinaus nahm das Interesse an Ernährungsfragen im Zusammenhang mit der MS in der Folge allerdings stark ab. Dabei gibt es eine Reihe potenzieller Verbindungen zwischen Darm und Gehirn, wie Wekerle ausführt. An dieser Kommunikation zwischen Darm und zentralem Nervensystem sind und anderem Neurotransmitter, Hormone und Darm- Metaboliten beteiligt.
Interaktionen
Von besonderem Interesse sind die Interaktionen des Darm-Mikrobioms mit dem Immunsystem, sowohl in der Peripherie als auch im zentralen Nervensystem, zumal das Mikrobiom heute generell als wesentlicher Modulator des Immunsystems betrachtet wird. Mit der RR-Maus steht ein Tiermodell der frühen, aktiven MS zur Verfügung, dass Untersuchungen der Verbindungen von Darmbakterien zu MS-Pathologie ermöglicht. Tatsächlich konnte demonstriert werden, dass keimfrei aufgezogene RR-Mäuse keine neurologischen Auffälligkeiten entwickeln. Werden die Mäuse von Darmbakterien kolonisiert, tritt eine Autoimmun-Enzephalomyelitis auf.2 Dieser Befund führt zu einer ganzen Reihe von Fragen. Spielt das Darm-Mikrobiom auch in der menschlichen MS eine Rolle? Was sind die Auslöser? Welche Bakterien sind beteiligt?
MS mittels Stuhltransplantation auf Mäuse übertragbar
Keine definitiven Antworten, aber wertvolle Hinweise lieferte die „Munich Twin Study“, für die eineiige Zwillingspaare, bei denen ein Zwilling an MS erkrankt war, rekrutiert wurden. Mittlerweile konnten deutschlandweit 50 solcher Paare in die Kohorte aufgenommen werden. Allein die Existenz solcher Zwillingspaare in ausreichender Zahl könne als Beleg dafür gewertet werden, dass Genetik nicht die alleinige Ursache einer MS-Erkrankung sein kann. Vergleiche der Darmflora dieser Paare zeigten keine massiven Unterschiede zwischen erkrankten und gesunden Individuen. Allerdings wurde ein verstärktes Auftreten einiger Taxa wie zum Beispiel Akkermansia gefunden. Wenn allerdings keimfreie Mäuse mit der Darmflora eines gesunden und eines erkrankten Zwillings kolonisiert wurden, zeigte sich ein dramatischer Unterschied: Tiere, die Darmflora der MS-kranken Zwillinge bekamen, erkrankten zu fast hundert Prozent an einer MS-ähnlichen Hirnentzündung.
Untersuchungen an Immunzellen der Mäuse zeigten nach Stuhltransplantation von einem MS-Zwilling weniger IL-10-Produktion als nach Transplantation von Faeces eines gesunden Zwillings. Darmbakterien eines MS-Zwillings führten bei den Mäusen zu vermehrtem Auftreten von Sutterella im Darm-Mikrobiom sowie zur verstärkten Produktion von IgG1-MOG-Antikörpern.3 Gegenwärtig wird nach jenen Bakterien, die für diese MS-Übertragung verantwortlich sind, sowie nach diagnostischen Biomarkern gefahndet. Zumindest bei Mäusen kann man die gewonnenen Einsichten bereits für therapeutische Ansätze nützen, wie Prof. Dr. Lloyd Kasper von der Theo Geisel School of Medicine in Dartmouth betont.
So konnte beispielsweise im Mausmodell gezeigt werden, dass eine Antibiotikabehandlung die Tiere vor einer experimentellen Autoimmun-Enzephalomyelitis (EAE) schützen und die immunregulatorische Balance wiederherstellen kann.4 Auch protektive Bakterienstämme wurden mittlerweile identifiziert. So zum Beispiel Bacteroides fragilis, ein gramnegatives Darmbakterium. Isoliertes Polysaccharid A (PSA) aus B. fragilis schützt im Tiermodell vor EAE, indem es eine Amplifikation regulatorischer T- und B-Lymphozyten bewirkt. Unter anderem kommt es bei Exposition von EAE-Mäusen gegenüber PSA zu einer Vermehrung protektiver CD39+ Tregs. Diese Zellen exprimieren verstärkt IL-10.
Hinweise auf Mikrobiombeteiligung auch beim Menschen
Auch beim Menschen gibt es mittlerweile Hinweise auf eine Wirkung von Polysaccharid A, das sowohl in B- als auch in T-Zellen zu verstärkter IL- 10-Produktion führen dürfte. Einige zugelassene MS-Therapien dürften in dieser Richtung wirksam sein. Eine Amplifikation von CD39+ Tregs dürfte durch Glatiramerazetat, Teriflunomid, Fingolimod und Anti-CD52 (Alemtuzumab) ausgelöst werden. Kasper unterstreicht, dass sich das Darm-Mikrobiom als gemeinsamer Faktor hinter vielen bekannten Risikofaktoren für MS anbietet. So erhöhen beispielsweise Rauchen, Übergewicht, Stress, hoher Alkoholkonsum, Vitamin-D-Mangel und bestimmte Infektionen das MS-Risiko – ebenso wie diese Faktoren auch das Mikrobiom beeinflussen.5 Prof. Dr. Helen Tremlett von der University of British Columbia in Vancouver berichtet von einem Pilotstudienprojekt in der pädiatrischen MS, das zwei ganz entscheidende Fragen klären soll: Unterscheidet sich das Darm-Mikrobiom von Kindern mit MS von jenem gesunder Kinder? Können Assoziationen zwischen bestimmten Eigenschaften des Darm-Mikrobioms und dem zukünftigem Schubrisiko nachgewiesen werden?
Die pädiatrische MS eignet sich aus mehreren Gründen besonders gut für die Untersuchung möglicher MS-Trigger. Die jungen Patienten haben weniger Lebensjahre und damit weniger Expostion gegenüber potenziellen Risikofaktoren hinter sich. MS im Kindesalter wird in aller Regel sehr schnell nach Symptombeginn diagnostiziert. Der Beginn der Erkrankung lässt sich also zeitlich besser eingrenzen als bei Erwachsenen. Darüber hinaus sind die Chancen besser, eine detaillierte Biografie zu recherchieren. Dem steht ein wesentlicher Nachteil gegenüber: Da die pädiatrische MS zum Glück selten ist, kann das Rekrutieren ausreichender Patientenzahlen schwierig sein. Dennoch liefern zwei Publikationen aus dieser kleinen Studie erste Antworten auf beide Fragen.
Erste Studiendaten aus der pädiatrischen MS
In die erste Studie wurden 18 Patienten mit schubförmig verlaufender MS und 17 Kontrollen aufgenommen. Die Krankheitsdauer betrug im Mittel elf Monate, rund die Hälfte der Patienten hatte noch keine immunmodulatorische Therapie erhalten. Die Analyse der Darmflora ergab ein gemischtes Bild. Zwischen MS-Patienten und Kontrollen wurden keine schwerwiegenden, aber dennoch signifikante Unterschiede gefunden. So waren bei den erkrankten Probanden Desulfovibrionaceae (Bilophila, Desulfovibrio und Christensenellaceae) reichlich vorhanden, während eine Depletion von Lachnospiraceae und Ruminococcaceae beobachtet wurde. Auch auf der Phylum-Ebene wurden Unterschiede entdeckt. So waren Actinobacteria bei Kindern mit MS 2,5-mal so reichlich vorhanden wie bei gesunden Kindern. Bakterielle Gene, die mit dem Glutathion- Metabolismus in Zusammenhang stehen, waren bei MS-Patienten stärker aktiv. Nach Ansicht der Autoren sprechen diese Befunde für ein proinflammatorisches Milieu.
Auch Effekte einer immunmodulatorischen Therapie auf das Darm-Mikrobiom wurden gefunden.6 In einer prospektiven Longitudinal-Studie7 der gleichen Gruppe wurden mögliche Auswirkungen des Darm- Mikrobioms auf das individuelle Schubrisiko untersucht. Die Beobachtungszeit betrug im Mittel 19,8 Monate. Insgesamt kam es innerhalb von 166 Tagen ab Beginn der Studie bei 25 Prozent der Patienten zu einem Schub. Eine kürzere Zeitspanne zum nächsten Schub war assoziiert mit einer Depletion von Fusobacteria, Expansion von Firmicutes und Auftreten von Archaea Euryarchaeota. In einer multivariaten Analyse blieb jedoch nach Adjustierung im Hinblick auf Alter und immunmodulatorischen Therapie lediglich das Fehlen von Fusobacteria signifikant mit dem Schubrisiko assoziiert. Tremlett: „Das sind aufregende Beobachtungen, die auf alle Fälle weitere Forschung rechtfertigen und im besten Fall zu neuen therapeutischen Ansätzen führen können.
Referenzen:
1 Swank RL et al., N Engl J Med 1952; 246(19):722–8
2 Berer K et al., Nature 2011; 479(7374):538–41
3 Berer K et al., Proc Natl Acad Sci USA 2017; 114(40):10719–10724
4 Ochoa-Repáraz J et al., J Immunol 2009; 183(10):6041–50
5 Ochoa-Repáraz J, Kasper LH, FEBS Lett 2014; 588(22):4214–22
6 Tremlett H et al., Eur J Neurol 2016; 23(8):1308–1321
7 Tremlett H et al., J Neurol Sci 2016; 363:153–157
Hot Topic Session „Gut microbiota in multiple sclerosis“, 7th Joint ECTRIMS–ACTRIMS Meeting, Paris, 25.–28.10.17
Von: Reno Barth