Auf Basis (epi)genetischer Befunde könnten in Zukunft individuelle prädiktive Profile hinsichtlich des Erkrankungsrisikos sowie des Ansprechens auf eine anxiolytische Pharmako- oder Psychotherapie generiert werden. (CliniCum neuropsy 5/17)

Angsterkrankungen stehen mit einer Zwölf-Monats-Prävalenz von 14 Prozent in Europa, einer hohen Chronizität und einer entsprechend substanziellen individuellen wie sozioökonomischen Belastung ganz zentral im Fokus der klinischen wie wissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf dem Fachgebiet der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Angsterkrankungen lassen sich in den meisten Fällen hervorragend leitliniengerecht psychotherapeutisch wie pharmakotherapeutisch behandeln, allerdings sprechend ca. 30 Prozent der Patienten nicht oder nur unzureichend auf diese therapeutischen Optionen an. Angesichts der wie oben ausgeführt großen epidemiologischen und sozioökonomischen Bedeutung und der nicht zu vernachlässigenden Therapieresistenzrate von Angsterkrankungen gelten unsere Forschungsbemühungen daher der Identifikation von Risikomarkern für die Pathogenese von Angsterkrankungen und für das Nichtansprechen auf therapeutische Interventionen, um hieraus in einem „precision medicine approach“ targetierte und damit effektive präventive Maßnahmen sowie individualisierte und innovative Therapieansätze ableiten zu können. Dabei fokussieren wir v.a. auf genetische und epigenetische Marker in Synopse mit bildgebenden, neurophysiologischen und psychometrischen Informationen (vgl. Domschke, 2014; Lueken et al., 2016).

Klinische Genetik

Bisherige Familienstudien zeigten, dass Angehörige ersten Grades von Panikpatienten ein etwa drei- bis fünffach höheres Erkrankungsrisiko haben als die Allgemeinbevölkerung. Auch bei der generalisierten Angststörung und den spezifischen Phobien findet sich eine Aggregation in Familien, die sogenannte „Familialität“. Die auf Basis von Zwillingsstudien erhobene „Heritabilität“, d.h. der Anteil genetischer Faktoren bei der Entstehung einer Erkrankung, liegt für die Panikstörung bei bis zu 48 Prozent, die Heritabilitätsraten für die generalisierte Angststörung und spezifische Phobien bei rund 30 Prozent, für die soziale Phobie bei 51 Prozent, für die Blut-Spritzen-Phobie bei 59 Prozent und für die Agoraphobie bei 67 Prozent, wobei die verbleibende Varianz jeweils durch individuelle Umweltfaktoren wie z.B. Lebensereignisse erklärt wird.

Molekulare Genetik

Kopplungsuntersuchungen weisen auf mehrere Risikoregionen („Risikoloki“) im menschlichen Genom hin, die in Familien mit Angsterkrankungen „kosegregieren“, d.h. bei betroffenen, aber nicht bei gesunden Familienmitgliedern zu finden sind. Für die Panikstörung wurden potenzielle Risikoloki auf den Chromosomen 1p, 4q, 7p, 9q, 11p, 15q und 20p, für die soziale und spezifische Phobien auf den Chromosomen 16q und 14p identifiziert. Assoziationsuntersuchungen haben bislang mehrere einzelne Gene mit Angsterkrankungen assoziiert gefunden: Bei der Panikstörung wurden in verschiedenen Studien Assoziationen mit Varianten in klassischen Kandidatengenen wie für den Adenosin-A2A-Rezeptor (ADORA2A), den Cholezystokinin B-Rezeptor (CCK-B), die Monoaminooxidase A (MAOA), die Catechol-O-Methyltransferase (COMT) und den Serotonin-1A-Rezeptor (5-HT1A) berichtet. In jüngster Zeit wird auf Basis von Tiermodellen das Neuropeptid-S- (NPS)-System als vielversprechender neuer Kandidat bei der Pathogenese von Angst und „Arousal“ propagiert (zur Übersicht siehe Bandelow et al., 2016).

Unter anderem im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB-TRR-58 „Furcht, Angst, Angsterkrankungen“ (http://sfb trr58.uni-muenster.de/) wurde die Rolle genetischer Variation des Neuropeptid- S-Systems bei der Entstehung von Angst beim Menschen auf verschiedenen Ebenen untersucht. Hierbei konnten wir das aktivere T-Allel eines funktionell relevanten Einzelnukleotid-Polymorphismus (rs324981) im Neuropeptid-S-Rezeptor( NPSR1)-Gen mit Panikstörung, mit Angstsensitivität, mit einer sich bereits in der Adoleszenz ausprägenden dysfunktionalen kortikolimbischen Konnektivität und verschiedenen anderen Angst-relevanten intermediären Phänotypen assoziiert finden. In Zusammenschau mit Befunden im Tiermodell legen die oben genannten Studien eine wesentliche Rolle von Neuropeptid S, das über eine hohe Expression im Bereich des Locus coeruleus eng mit der noradrenergen Transmission verknüpft ist, bei der Entstehung von Angst und Angsterkrankungen nahe. Dementsprechend könnte Neuropeptid- S-System modulierenden Substanzen zukünftig eine Bedeutung bei der Behandlung von Angsterkrankungen zukommen (zur Übersicht siehe Gottschalk und Domschke, 2016).

Gen-Umwelt-Interaktionen

Nachdem klinisch-genetische Studien neben einem signifikanten Einfluss genetischer Faktoren auf die Entstehung der Angsterkrankungen auch deutliche Hinweise auf die Rolle von Umweltfaktoren erbracht haben, liegt ein weiterer Schwerpunkt der genetischen Forschung auf Gen-Umwelt-Interaktionsstudien („gene x environment“, G x E). Als Risiko-erhöhende Umweltfaktoren bei der Entstehung von Angsterkrankungen wurden sowohl kritische Lebensereignisse kurz vor Erkrankungsbeginn (z.B. Erkrankungen/Verletzungen, Todesfälle, Trennungen/ Scheidungen, finanzielle Probleme etc.) als auch belastende Lebensereignisse während der Kindheit (emotionaler und/oder körperlicher Missbrauch, emotionale und/oder körperliche Vernachlässigung, sexuelle Gewalt) identifiziert. Einige genetische Varianten wie z.B. das S-Allel der Serotonin-Transporter-5-HTTLPRGenvariante oder das T-Risiko-Allel des Neuropeptid-S-Rezeptor-Gens (NPSR1) scheinen in Interaktion mit belastenden Kindheitserlebnissen oder auch erst kürzlich erlebten traumatischen Ereignissen das Risiko für eine verstärkte Angstsensitivität und damit ggf. auch Angsterkrankungen zu erhöhen (zur Übersicht siehe Schiele und Domschke, 2017).

Epigenetik

Trotz dieser ersten vielversprechenden Ergebnisse auf dem Feld der Genetik und der Gen-Umwelt-Interaktionsstudien bei Angsterkrankungen muss festgestellt werden, dass zu diesen Befunden in der Literatur auch Nichtreplikationen oder gegensätzliche Befunde vorliegen. Weiterhin scheinen die bereits identifizierten Risikogene nur einen kleinen Teil der Gesamtheritabilität auszumachen, so dass sich das Feld der psychiatrischen Genetik mit der sogenannten „hidden heritability“, d.h. den unaufgeklärten Anteilen der genetischen Mechanismen, konfrontiert sieht. Neben einer mangelnden statistischen Power der einzelnen Studien, Unzulänglichkeiten des a priori Kandidatengenansatzes, ätiologischer Heterogenität, Populations- Stratifikationen oder der hohen Komplexität des untersuchten klinischen Phänotyps werden in jüngster Zeit epigenetische Prozesse als möglicher „missing link“ bei der „hidden heritability“ vermutet.

Quelle: Dr. Miriam Schiele

Eine der epigenetischen Modifikationen stellt die Methylierung der Base Cytosin (MeC) in Cytosin/Guaninreichen Regionen („CpG Islands“) der Steuerungsregion eines Gens („Promotor“) dar. Die Methylierung eines Gens durch DNA-Methyltransferasen (DNMTs) führt meist dazu, dass die DNA nicht ablesbar, d.h. nicht in Boten- RNA („messenger RNA“) transkribierbar, ist und damit das Gen in inaktiver Form vorliegt („silencing“). Tierstudien konnten zeigen, dass epigenetische Prozesse flexible und zeitlich dynamische Mechanismen darstellen, die wesentlich von Umweltfaktoren beeinflusst sind. Epigenetische Prozesse werden zunehmend mit Angsterkrankungen in Verbindung gebracht (zur Übersicht siehe Schiele und Domschke, 2017). So konnten wir z.B. eine erniedrigte Methylierung des MAOA-Gens, welche mit einer erhöhten MAOA-Genexpression und damit einer verminderten Verfügbarkeit von Serotonin und Noradrenalin einhergeht, als Risikofaktor für die Panikstörung identifizieren.

Dabei korrelierten negative Lebensereignisse mit einer Risikoerhöhenden Hypomethylierung, positive Lebensereignisse hingegen mit einer womöglich Resilienz-vermittelnden relativen Hypermethylierung. Interessanterweise normalisierte sich die MAOA-Hypomethylierung bei Patienten mit Panikstörung nach einer erfolgreichen kognitivverhaltenstherapeutischen Behandlung über sechs Wochen wieder. Damit könnte die Restitution einer pathologisch veränderten Methylierung von Risikogenen einen molekularen Wirkmechanismus von Psychotherapie darstellen.

Fazit

Auf der Basis (epi)genetischer Befunde könnten in Zukunft individuelle prädiktive Profile hinsichtlich des Erkrankungsrisikos sowie des Ansprechens auf eine anxiolytische Pharmako- oder Psychotherapie generiert werden. Damit wären targetierte präventive Maßnahmen sowie eine individuell angepasste, gezieltere Anwendung von therapeutischen Interventionen („personalisierte“ oder „stratifizierte Medizin“) bei Angsterkrankungen möglich, die zu einer Senkung der Inzidenz sowie zu einem rascheren Behandlungserfolg und damit einer signifikanten Verkürzung der Leidenszeit der Patienten bzw. einer deutlichen Kostenersparnis im Gesundheitssystem führen könnten.

In ersten Studien wurde zudem eine ausgeprägte Plastizität von epigenetischen Mechanismen durch Lebensereignisse wie auch durch psychotherapeutische Interventionen beobachtet, was epigenetische Prozesse an einer entscheidenden Schnittstelle zwischen Adaptation und Maladaptation, zwischen Resilienz und Risiko ansiedelt. Die vorliegenden epigenetischen Befunde erlauben also eine Erweiterung des Vulnerabilitäts-Stress-Modells im Verständnis der Pathogenese der Angststörungen um die Dimension der Epigenetik als „biochemisches Scharnier“ zwischen Umwelt- und genetischen Faktoren und haben vielfältige Implikationen hinsichtlich präventiver wie therapeutischer Interventionen über in Zukunft ggf. mögliche gezielte epigenetische Modifikationen.

Literatur
• Bandelow B, Baldwin D, Abelli M, Altamura C, Deckert J, Dell’Osso B, Domschke K, Fineberg N, Grünblatt E, Jarema M, Maron E, Nutt D, Pini S, Vaghi M, Wichniak A, Zai G, Riederer P: Biological Markers for Anxiety Disorders, OCD and PTSD – A Consensus Statement – Part I: Neuroimaging and Genetics. World J Biol Psychiatry 2016; 17:321–65
• Domschke K: Prädiktive Faktoren bei Angststörungen. Nervenarzt 2014; 85(10):1263–8
• Gottschalk MG, Domschke K: Novel developments in genetic and epigenetic mechanisms of anxiety. Curr Opin Psychiatry 2016; 29:32–8
• Lueken U, Zierhut KC, Hahn T, Straube B, Kircher T, Reif A, Richter J, Hamm A, Wittchen U, Domschke K: Neurobiological markers predicting treatment response in anxiety disorders: a systematic review and implications for clinical application. Neurosci Biobehav Rev 2016; 66:143–62
• Schiele MA, Domschke K: Epigenetics at the crossroads between genes, environment and resilience in anxiety disorders. Genes Brain Behav 2017; in Druck 

Vortrag im Rahmen der 19. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB), Wien, 10.11.17 

Foto: Privat

Univ.-Prof. Dr.Dr. Katharina Domschke, MA (Foto)
Dr. Christiane Ziegler
Dr. Miriam Schiele

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg