Somatoforme Schmerzsyndrome sind ätiologisch und klinisch durch ein Überwiegen der psychosozialen Aspekte charakterisiert. Therapie der Wahl ist die Psychotherapie. Gut belegt ist die Wirkung von kognitiver Verhaltenstherapie und psychodynamischinterpersoneller Psychotherapie.
Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung wird in der ICD-10 definiert als „andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auf“ (WHO 1992, Dt. Version: Dilling et al., 1993).
Die Frage, inwieweit es sich hierbei um „reine“ psychogene Schmerzsyndrome handelt, wurde in den letzten Jahren wiederholt kontroversiell diskutiert (Bach et al., 2001, Martin et al., 2005). So lassen sich bei den meisten chronischen Schmerzkranken sowohl körperliche als auch psychosoziale Faktoren erkennen, die relevant für die Entstehung und/oder Aufrechterhaltung der Schmerzen sind (Rief & Barsky, 2005). Außerdem ist eine differenzielle Zuordnung körperlicher Beschwerden als rein organmedizinisch ODER psychosozial angesichts fehlender operationaler Kriterien eher willkürlich bzw. zufällig und ist weder neurobiologisch noch psychosozial eindeutig zu untermauern.
Das aktuelle DSM-5 schlägt daher pragmatisch vor, chronische Schmerzzustände mit und ohne organmedizinische Ursache gemeinsam unter die neue diagnostische Kategorie „Somatic Symptom Disorder“ zu subsumieren, wenn die psychosozialen Aspekte (kognitive, emotionale, interpersonelle Faktoren und Verhaltensmerkmale) im Vordergrund des klinischen Bildes stehen (APA, 2013). Aus den bisherigen Interventionsstudien und evidenzbasierten Leitlinien lässt sich ableiten, dass Psychotherapie heute als Therapie der Wahl gilt, während bis heute keine evidenzbasierte Pharmakotherapie vorliegt (Rief & Henningsen, 2012; Kleinstäuber et al., 2012; Martin et al., 2013).
In der aktuellen Leitlinie zur Psychotherapie bei somatoformen Störungen lassen sich zahlreiche Wirksamkeitsnachweise für kognitive Verhaltenstherapie und für psychodynamische Psychotherapie belegen, mit Einschränkungen auch für Hypnose bzw. Hypnotherapie (Martin et al., 2013). Auffallend ist hier allerdings, dass es kaum Interventionsstudien direkt zur somatoformen Schmerzstörung gibt, sondern eher zur Somatisierungsstörung bzw. undifferenzierten Somatisierungsstörung oder für assoziierte Schmerzsyndrome (z.B. Rückenschmerz oder Fibromyalgie-Syndrom) (Martin et al., 2013). Weiters sind direkte Vergleichsstudien zur differenziellen Indikationsstellung und Wirksamkeit einzelner Psychotherapieverfahren bislang de facto inexistent.
Bedingungsmodell
Der vorliegende Artikel unternimmt den Versuch, bisherige verhaltenstherapeutische, psychodynamische und interpersonelle Modellvorstellungen zur anhaltenden somatoformen Schmerzstörung zu einem integrativen Konzept zusammenzufassen. Grundsätzlich wird bei der Entstehung und Chronifizierung somatoformer Schmerzsymptome von einem Aufschaukelungsprozess ausgegangen, bei dem es durch Veränderungen in der Wahrnehmung körperlicher Empfindungen, Aufmerksamkeitsfokussierung auf Körpervorgänge und kognitiven Verzerrungen zum Symptomerleben kommt (Martin et al., 2013).
Das somatoforme Schmerzerleben findet auf einer zentralnervösen Ebene statt, wird von den Betroffenen aber peripher lokalisiert. Aktuelle Erklärungsmodelle greifen auf die Gate-Control-Theorie (Melzack & Wall 1965) zurück, die vermutlich das erste multidimensionale Schmerzkonzept darstellt, in dem biologische und psychologische Mechanismen zu einer einheitlichen Theorie zusammengefasst wurden. Zentrale Aussage dieser Schmerzmodulationstheorie ist die Formulierung eines neuronalen Tormechanismus im Hinterhorn (Substantia gelatinosa) des Rückenmarks, der die Übertragung einlangender Schmerzimpulse von den peripheren Schmerzbahnen (A-Delta-, C-Fasern) auf Bahnen des Rückenmarks steuert.
Das ZNS erlangt dabei eine umfassende aktive Rolle in der Modulation des nozizeptiven Erregungsmusters durch deszendierende antinozizeptive Kontrollmechanismen, die als Wahrnehmungsfilter oder Verstärker wirksam werden können. Große Bedeutung erlangte diese Theorie durch die Berücksichtigung zentralnervöser Netzwerke – unter anderem subkortikaler Motivations- und Emotionssysteme – für die Verarbeitung nozizeptiver Reize. Prädisponierend für die Entstehung somatoformer Schmerzen ist die intrapsychische Verknüpfung von körperlichen und/oder seelischen Schmerzerfahrungen mit affektzuständigen und ungünstigen Beziehungserfahrungen in der Kindheit und Jugend (Nickel & Egle, 1999).
Eine Reihe (neuro-)biologischer Faktoren (z.B. Genpolymorphismen, dysfunktionale Stressregulation der HHNA) dürften hierbei pathoplastisch wirksam sein. Die prämorbide Persönlichkeitsentwicklung ist in der Folge geprägt durch ein unsicheres Bindungsmusters (z.B. erhöhtes Bedürfnis nach Nähe und Hilfe/Unterstützung), Schwierigkeiten in der Affektregulation (z.B. erhöhte negative Affektivität, Affekthemmung oder emotionale Vulnerabilität) sowie eine erhöhte Stress-Sensitivität (z.B. physiologische Übererregbarkeit oder Persistenz körperlicher Stressmuster), die eine insgesamt erhöhte Vulnerabilität gegenüber psychosozialen und/oder körperlichen Belastungen bedingt (Rief & Henningsen, 2012; Landa et al., 2012).
Ein zentrales Element der somatoformen Schmerzverarbeitung ist die selektive Aufmerksamkeitsfokussierung auf den Körper. Zwischen afferenten Körpersignalen und der bewussten Wahrnehmung von Schmerz vermitteln kognitive Verarbeitungsprozesse, durch die normalerweise ein Großteil dieser somatosensorischen Afferenzen gefiltert wird (Rief & Barsky, 2005). Frühe schmerzhafte Körpererfahrungen (mangelnde Nähe, Zurückweisung, Verletzung, Traumatisierung, körperliche Erkrankung) können nun in Form von dysfunktionalen somatosensorischen Repräsentationen bzw. Körper-Schemata gespeichert werden (Brown, 2004).
Akute Belastungen (Konflikte, Life events, neuerliche traumatische Erfahrungen, schwere körperliche Erkrankungen) aktivieren Körpervorgänge (z.B. Muskelverspannung), die durch selektive Aufmerksamkeitsfokussierung automatisch (intuitiv, unbewusst) mit diesen früheren Körper-Schemata verknüpft werden und zum Schmerzerleben führen. In der Folge setzt ein dysfunktionales Krankheitsverhalten mit körperlicher Schonung, Bewegungsvermeidung und verstärktem Hilfesuchverhalten („doctor shopping“) ein. Zahlreiche frustrane Behandlungsversuche im Rahmen nicht gelungener therapeutischer Beziehungen bestätigen subjektiv frühere ungünstige Bindungserfahrungen.
Der daraus resultierende Teufelskreis aus Schmerzerleben, Defiziten in der kognitiv- emotionalen Stressverarbeitung und deren Kommunikation führt schließlich zur Chronifizierung der Beschwerden (Kleinstäuber et al., 2012, siehe Abbildung).
Fazit: Frühe schmerzhafte Körpererfahrungen (z.B. fehlende körperliche Nähe, Traumatisierung, körperliche Erkrankung) werden in Form von somatosensorischen Repräsentationen bzw. Körper-Schemata gespeichert. Aktuelle Belastungen können körperliche Vorgänge aktivieren, die durch selektive Aufmerksamkeitsfokussierung automatisch mit diesen früheren Körper-Schemata verknüpft werden und zum Schmerzerleben führen.
Therapeutisches Vorgehen
Betroffene mit anhaltender somatoformer Schmerzstörung sind in ihren Krankheitsattributionen stark externalisierend, d.h., sie schreiben die Schmerzursache vermehrt äußeren Umstanden zu (Krankheiten, Wetter, Belastungen etc.), auch die Beeinflussbarkeit der Schmerzen wird weitgehend nach außen gerichtet (Medikamente, Operationen, Krankenhausaufenthalte, Heiler, Internet, …). Gleichzeitig lehnen sie aufgrund ihres einseitig somatischen Krankheitsverständnisses eine psychologisch-psychotherapeutische Behandlung ihrer Schmerzen ab.
Im Unterschied zu den meisten anderen psychischen Störungen muss daher bei Patienten mit somatoformen Schmerzen eine Psychotherapiemotivation und aktive Veränderungshaltung erst schrittweise aufgebaut werden. Aus den bislang evaluierten Behandlungsansätzen wird ein mehrstufiges Interventionsmodell vorgeschlagen (Bach et al., 2001):
1. Psychosomatische Basisversorgung: Entscheidend für die Behandlungsmotivation dieser Patientengruppe ist die Initialphase der Aufklärung und Gesprächsführung, die üblicherweise im Rahmen der psychosomatischen Basisversorgung durch Hausärzte und niedergelassene Fachärzte stattfindet. Die dafür entwickelten Psychoedukationskonzepte enthalten standardisierte Schulungsunterlagen über das Störungsbild (was bedeutet somatoform?), mögliche differentialdiagnostische Aspekte (Abgrenzung von Depression, Angststörung etc.), sowie die Vermittlung von geeigneten Gesprächstechniken zur Motivationsförderung und Aktivierung der PatientInnen.
In vielen Hausarzt-Schulungsmodellen wird die Grundidee von Goldbergs Reattributionsmodell (1992) vermittelt, das folgende Gesprächssequenzen enthält (Martin et al. 2013):
- Phase 1 – „sich verstanden fühlen“: Zielsetzung ist es, die subjektive Sichtweise der Patienten wertzuschätzen und das Vertrauen der Patienten zu gewinnen.
- Phase 2 – „Das Thema verändern“: In einem zweiten Schritt sollen die bisherigen Untersuchungsergebnisse bewertet werden, das Fehlen einer relevanten organmedizinischen Grunderkrankung betont und gleichzeitig die Realität der Beschwerden anerkannt werden (Unterschied zwischen „Befund“ und „Befinden“).
- Phase 3 – „Die Verbindung herstellen“: Die Patienten werden schrittweise motiviert, mögliche Einflussbedingungen auf das körperliche Befinden zu explorieren (beispielsweise durch das Führen von Symptomtagebüchern und deren Besprechung). Erste bio-psycho-soziale Wechselwirkungsmodelle werden gemeinsam mit den Patienten erstellt.
2. Schmerzpsychotherapie: Auch in der Schmerzpsychotherapie wird ein schrittweises Vorgehen empfohlen, beginnend mit psychoedukativ-symptomorientierten Therapieelementen, dem später symptomübergreifende (kognitiv- emotionale und interpersonelle) Interventionen folgen (Kröner-Herwig et al., 2007).
Aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Sicht umfasst das folgende Therapiebausteine (Martin et al., 2013):
- „Erweiterung des subjektiven Krankheitsmodells“: Mithilfe von Symptomtagebüchern werden Patienten aktiviert, Zusammenhänge zwischen Stress und körperlichem Befinden zu erkennen.
- „Selbstregulative Verfahren: Relaxation, Biofeedback, Stressmanagement“: Durch Vermittlung übender Verfahren (z.B. progressive Muskelrelaxation) werden die Patienten angeleitet, körperliche Anspannungszustände zu reduzieren und den Umgang mit psychischen Belastungen („Stress“) zu verbessern.
- „Veränderung der Aufmerksamkeitsfokussierung“: Ziel dabei ist es, den Aufschaukelungsprozess aus Wahrnehmung von Körperempfindungen, Aufmerksamkeitsfokussierung und katastrophisierenden Bewertungen zu überwinden.
- „Reduktion dysfunktionaler Kognitionen“: Generalisierende dysfunktionale Kognitionen werden identifiziert und durch geleitetes Entdecken („sokratischer Dialog“) schrittweise durch funktionalere Sichtweisen ersetzt. Auch Elemente der „Acceptance and Committment Therapy (ACT)“ gelangten in den letzten Jahren mehrfach zum Einsatz.
- „Reduktion von Schonverhalten“ („graded activity“): Entsprechend dem Angstvermeidungsmodell soll durch gestufte Exposition (operante Verfahren) und Aktivitätsaufbau wieder eine adäquate körperliche Belastbarkeit erreicht werden. Ergänzend werden hier Maßnahmen zur verbesserten Körperwahrnehmung und -akzeptanz eingesetzt.
Aktuelle psychodynamische Modelle zu somatoformen Schmerzen sind – entgegen früherer psychoanalytischer Konzepte, die primär konfliktbezogen formuliert waren – stark interpersonell ausgerichtet und strukturbezogen (Nickel & Egle, 1999; Rief & Henningsen, 2012).
Diese Modelle beruhen auf der zentralen Annahme einer unzureichenden Differenzierung von negativen Affekten und Körperbeschwerden in der Kindheit, weniger auf zugrunde liegenden psychischen Konflikten und Belastungen. Ähnlich wie in den verhaltenstherapeutischen Manualen, wird auch in der psychodynamisch-interpersonellen Therapie (PISO) ein schrittweise aufbauendes therapeutisches Vorgehen vorgeschlagen, ausgehend von der Legitimierung des Beschwerdeerlebens und der Erweiterung des subjektiven Erklärungsmodells, über das Erleben neuer Beziehungserfahrungen, hin zu einer Differenzierung von Affekten und Körperbeschwerden (Sattel et al. 2011):
- Phase 1 – „Symptomverständnis“: Im Zentrum der therapeutischen Arbeitsbeziehung steht zunächst die ausführliche Schilderung der somatischen Symptome, das Identifizieren psychologischer Ressourcen, die Formulierung realistischer Therapieziele sowie die Psychoedukation (z.B. Erklärung vom psycho-physischen Zusammenhängen) und das Führen eines Symptomtagebuchs.
- Phase 2 – „Beziehung zum Körper und Affekte sowie Beziehungserfahrungen“: Weiterführende Themen sind die Schulung der Körperwahrnehmung, das Thematisieren von Affekten (Gefühlsidentifizierung und Zusammenhänge zu Symptome explorieren), Unterstützung in der Exploration der Affektwahrnehmung und Schmerz- Affekt-Differenzierung.
- Phase 3 – „Konsolidierung“: Entsprechend dem PISOModell wird empfohlen, nur bei ausgebauter therapeutischer Beziehung sehr vorsichtige Deutungen oder Konfrontationsversuche, keine tiefgehenden Deutungen, durchzuführen.
Die hier dargestellten psychologischpsychotherapeutischen Verfahren wurden in Form singulärer kontrollierter Interventionsstudien in den letzten Jahren empirisch abgesichert. Heute werden schmerzpsychotherapeutische Verfahren in der Regel jedoch nicht singulär, sondern als Baustein multidisziplinärer, multimodaler Behandlungsprogramme (ambulant, teilstationär, stationär) erfolgreich eingesetzt (z.B. Pieh et al., 2014).
Die hierzu veröffentlichten Metaanalysen und Leitlinien belegen eine Überlegenheit dieser Kombinationstherapien (in Verbindung mit medizinischen, physio-, sport-, ergound kreativtherapeutischen Maßnahmen) gegenüber singulären Behandlungskonzepten (Flor et al., 1992; Martin et al., 2013), wenngleich der Anteil der Psychotherapie am Gesamtbehandlungsergebnis sich nicht verlässlich herausfiltern lässt.
Weiterführende Psychotherapie: Trotz Einsatz evidenzbasierter psychotherapeutischer Interventionen liefern die multimodalen Behandlungsprogramme für somatoforme Schmerzstörungen oft nur moderate Ergebnisse (Martin et al., 2013). So finden sich beispielsweise in der Deutschlandweit durchgeführten MESTA- Vergleichsstudie an knapp 30.000 Patienten für die stationäre Behandlung von depressiven Störungen Effektstärken von 0,84, für Angststörungen 0,71, für somatoforme Störungen lediglich 0,49 (Steffanowski et al., 2005).
Eine mögliche Erklärung ist die Behandlungsdauer von sechs bis acht Wochen in diesen Programmen, die für Patienten mit somatoformen Störungen heute – ähnlich wie bei Persönlichkeitsstörungen bzw. komplexen Traumafolgestörungen – als zu kurz erachtet wird (Kleinstäuber et al., 2012). Eine weiterführende Psychotherapie sollte daher schwerpunktmäßig die oft ausgeprägte Affektregulationsstörung bzw. die zentrale Körperbeziehungsstörung dieser Patientengruppe bearbeiten, ergänzt durch biografische Behandlungselemente, wie z.B. Schematherapie oder Traumatherapie.
Fazit: In der Psychotherapie somatoformer Schmerzsyndrome wird ein schrittweises Vorgehen empfohlen (Schmerzerleben, Psychoedukation, dann kognitiv-emotionale und interpersonelle Interventionen). Eine weiterführende Psychotherapie sollte schwerpunktmäßig die oft ausgeprägte Affektregulationsstörung bzw. die zentrale Körperbeziehungsstörung bearbeiten.
Prof. Priv.-Doz. Dr. Michael Bach, Mag. Carina Asenstorfer
APR Salzburg – Ambulante Psychosoziale Reha. Imbergstraße 31A, 5020 Salzburg
E-Mail: michael. bach@promente-reha.at, carina.asenstofer@promente-reha.at
Web: www.promente-reha.at
Literatur bei den Autoren