Auf dem Weg zu einer Biomarker-gestützten Diagnostik und Therapieplanung sind in der Psychiatrie noch viele offene Fragen zu klären und Herausforderungen zu bewältigen. Die Schere zwischen somatischen Fächern und der Psychiatrie wird derzeit immer größer. (CliniCum neuropsy 6/18)

Trotz 100 Jahre biologischer Forschung beruhen diagnostische und therapeutische Entscheidungen in der täglichen psychiatrischen Praxis nach wie vor auf den rein klinischen Instrumenten der Anamnese und des psychopathologischen Befunds. Dieser Umstand setzt sich auf der Ebene der gegenwärtig verwendeten Diagnosesysteme fort, die auf Übereinkünften klinischer Expertengremien basieren und den beachtlichen Fortschritt weitestgehend ignorieren, der in den letzten zwei Jahrzehnten in den Bereichen v.a. der psychiatrischen Bildgebung und Genetik erbracht wurde.1

In der Folge lässt sich eine immer größer werdende Schere zwischen den somatischen Fächern (inklusive Neurologie) einerseits und der Psychiatrie andererseits feststellen: Während dort biologische Befunde zunehmend in prädiktive Verfahren Eingang finden, um Diagnostik, Prognostik und Therapieplanung zu personalisieren und zu standardisieren,2,3 halten wir in der Psychiatrie an den althergebrachten klinischen Methoden fest und benützen biologische Verfahren lediglich im Rahmen der organischen Ausschlussdiagnostik. Entsprechend verhält es sich mit der Neuentwicklung von Therapeutika: Es fehlt ein grundlegendes mechanistisches Verständnis der biologischen, behavioralen und Umweltfaktoren, die in der komplexen, individuellen Ätiopathogenese psychischer Erkrankungen ineinandergreifen. Dadurch stagniert seit Jahren der Fortschritt, sodass wir weiterhin Therapeutika benützen, deren Wirkprinzipien vor 70 Jahren entdeckt wurden und die den Verlauf schwerer psychischer Erkrankungen nur bei ca. 30 bis 50 Prozent der Betroffenen günstig beeinflussen.4

Gründe für die wachsende Kluft

Der Status quo der Psychiatrie wird durch zwei ineinander verschränkte Problemfelder bedingt, die (a) in der Heterogenität psychischer Erkrankungen begründet sind, und (b) den Umgang mit prognostischer Unsicherheit in der Forschung und klinischen Praxis betreffen.

(a) Heterogenität psychischer Erkrankungen: Wie bereits E. Kraepelin in seinem Spätwerk anerkannte,5 bestehen deutliche phänomenologische Überlappungen zwischen affektiven und psychotischen Erkrankungen, die eine klare nosologische Grenzziehung erschweren. Die alte Diskussion zwischen Anhängern unitärer Modelle psychischer Erkrankungen, Vertretern einer begrenzten Anzahl von hirnorganischen Reaktionstypen sowie Anhängern diagnosespezifischer hirnorganischer Surrogate psychischer Erkrankungen wurde in den letzten Jahren durch genetische und bildgebungsbasierte Befunde reaktiviert. So konnte In zahlreichen Studien gezeigt werden, dass (1) eine ausgeprägte genetische Nähe zwischen den affektiven und psychotischen Erkrankungen besteht,6 (2) sich sowohl neuroanatomische Hirnveränderungen zwischen verschiedenen Erkrankungsentitäten teilweise überlappen7 (3) als auch eine enorme Variabilität in der Ausprägung dieser Hirnveränderungen innerhalb der Diagnosegruppen existiert.8,9

Neuere Untersuchungen konnten wiederum nachweisen, dass sich diese transdiagnostischen Überlappungen sowie die intradiagnostische Variabilität mit unsupervidierten maschinellen Lernverfahren in neue biologisch determinierte Untergruppen (sog. Biotypen) auflösen lässt.8,10,11 Hierdurch verdichten sich die Hinweise, dass die Varianz der Phänomenologie, des Verlaufs und der Neurobiologie schwerer psychischer Erkrankungen durch eine biologisch fundierte Neugruppierung der psychiatrischen Taxonomie möglicherweise besser abgebildet werden kann als durch die althergebrachten, rein klinischen Diagnosesysteme. Es besteht die Möglichkeit, dass hierbei die nosologischen Konstrukte der affektiven und nicht affektiven Psychosen als Syndrome re-definiert werden müssen, weil sie sich besser entlang gemeinsamer neurobiologischer „Achsen“ (frühe vs. späte neuronale Reifungsstörungen12) und/oder Mechanismen (siehe RDoC1,13) anordnen lassen. Sollte sich in den nächsten Jahren die Befundlage weiter in diese Richtung verdichten, ist eine Revision der Taxonomie psychotischer und affektiver Erkrankungen ohne Einschluss von Biomarkern in die psychiatrische Nosologie schwer vorstellbar.

 (b) Prognostische Unsicherheit : Nicht nur auf der Ebene der Diagnosefindung und -stabilität zeigt sich die Heterogenität psychischer Erkrankungen; auch im Erkrankungsverlauf lässt sich innerhalb der diagnostischen Konstrukte eine ausgeprägte Varianz beobachten, die z.B. dazu führt, dass Patienten mit einer psychotischen Erstmanifestation zum Teil komplett remittieren und im Anschluss nie wieder erkranken und zum anderen Teil chronisch-rezidivierende Verlaufsformen entwickeln, die sich therapeutisch kaum in den Griff bekommen lassen [REF]. Diese longitudinale Heterogenität ist insbesondere für die Früherkennung affektiver und nicht affektiver Psychosen eine große Herausforderung, da in den frühen Phasen und Hochrisikostadien dieser Erkrankungen die Spezifität subtiler psychopathologischer Syndrome relativ gering ist.

So zeigen metaanalytische Untersuchungen, dass bei Patienten in einem klinischen Hochrisikostadium für schizophrene Psychosen die Erkrankung tatsächlich nur in 20 bis 30 Prozent der Fälle auftritt, während bis zu 65 Prozent der Fälle im Verlauf eine nicht psychotische Diagnose entwickeln und im sozialen und beruflichen Funktionsniveau bleibend beeinträchtig sind. Um diese prognostische Unsicherheit zu reduzieren, wurden in den letzten Jahren mehrere multizentrische Projekte in den USA (NAPLS) und der Europäischen Union (PRONIA, PsySCAN) durchgeführt, die zeigen konnten, dass das tatsächliche Risiko für ungünstige klinische und funktionelle Verläufe eines Hochrisikound ersterkrankten Patienten durch eine Kombination klinischer und neuropsychologischer Variablen auf Einzelfallebene akkurat vorhergesagt werden kann.14–16 Darüber scheinen neurobiologische Daten in Form der strukturellen Hirnbildgebung diese Risikoeinschätzung weiter verbessern zu können,17 sodass die Integration von Biomarkern zur verbesserten Früherkennung affektiver und nicht affektiver Psychosen zunehmend als ein naheliegendes Ziel translationaler Forschung definiert wird.18

Viele offene Fragen und Herausforderungen

Auf diesem Weg zu einer Biomarker-gestützten Diagnostik, Prognostik und Therapieplanung in der Psychiatrie sind noch viele offene Fragen zu klären und Herausforderungen zu bewältigen. Zum einen führt die Anwendung von maschinellen Lernverfahren in der Entwicklung von Biomarkern zu sogenannten „Black-Box“-Modellen, die zwar genaue Prädiktionen liefern, aber deren Entscheidungsfunktion nicht ohne Weiteres für den Kliniker und Patienten transparent gemacht werden kann. Diese Transparenz ist jedoch für die Akzeptanz prädiktiver Algorithmen und der darauf aufbauenden Therapien unerlässlich. Transparenz verlangt in diesem Zusammenhang auch die Aufdeckung der neurobiologischen Mechanismen, die zur Ausprägung von prädiktiven Signaturen im individuellen Einzelfall führen. Ohne dieses mechanistische Verständnis der bisher rein deskriptiven Datenmuster wird die Entwicklung risiko-stratifizierter Therapieverfahren behindert, die Biomarker benützen, um eine optimalen, personalisierten Therapieplan für den einzelnen Patienten zu entwickeln. Somit ergibt sich ein dringender Forschungsbedarf, der unsere Wissenslücken zwischen den identifizierten Biomarkersignaturen, den zugrundeliegenden Mechanismen und den dadurch entstehenden neuen therapeutischen Optionen in einem ganzheitlichen Ansatz schließt.

Von Univ.-Prof. Dr. Nikolaos Koutsouleris und Univ.-Prof. Dr. Peter Falkai

Referenzen:
1 Casey BJ et al., Nature reviews Neuroscience 2013; 14(11):810–814
2 Demarest ST, Brooks-Kayal A, Nature reviews Neurology 2018; doi:10.1038/s41582-018-0099-3
3 Brown NA, Aisner DL, Oxnard GR, American Society of Clinical Oncology Annual Meeting 2018; (38):708–715
4 Haefner H, Heiden W an der, In: Hirsch SR, Weinberger DR, eds. Schizophrenia 2003
5 Hippius H et al., European archives of psychiatry and clinical neuroscience 2008; 258(2):3–11
6 Bulik-Sullivan B et al., Nature Genetics 2015; 47(11):1236–1241
7 Koutsouleris N et al., Brain 2015; 138(Pt 7):2059–2073
8 Drysdale AT et al., Nature Medicine 2017; 23:28–38
9 Wolfers T et al., JAMA psychiatry 2018; 75(11):1146–1155
10 Clementz BA et al., American Journal of Psychiatry 2015, doi:10.1176/appi.ajp.2015.14091200
11 Dwyer DB et al., Schizophr Bull 2018; doi:10.1093/schbul/sby008
12 Koutsouleris N et al., Schizophr Bull 2013; 40(5):1140–1153
13 Carpenter WT, Schizophrenia Bulletin 2013; 39(5):945–946
14 Koutsouleris N et al., The Lancet Psychiatry 2016; 3(10):935–946
15 Cannon TD et al., American Journal of Psychiatry 2016; 173(10):980–988
16 Fusar-Poli P et al., JAMA Psychiatry 2017;74(5):493–500
17 Koutsouleris N et al., JAMA Psychiatry 2018, in press; doi:10.1001/ jamapsychiatry.2018.2165
18 Krystal JH et al., Schizophrenia bulletin 2017; 43(3):473–475

 

erschienen in: 06/2018, CliniCum neuropsy