Die Coronavirus-Pandemie ist die größte Gesundheitskrise die wir in den letzten Jahrzehnten hatten. Im November 2020 starben in Österreich 2065 Pat. mit einer COVID-19 Infektion (22,6 %). Das Europäische Mortalitätsmonitoring Euromomo dokumentierte am 9. 11. 2020 eine „sehr hohe Übersterblichkeit“. In der letzten Novemberwoche 2020 verstarben 2445 Patienten, laut AGES 629 davon an COVID-19. Das waren um über 50% mehr  als im Durchschnitt der vergangenen 5 Jahre. Vom 14. bis zum 20. 12. 2020 verstarben insgesamt 2246 Menschen, um 35,8 % mehr als im Durchschnitt der gleichen Kalenderwoche der Jahre 2015 bis 2019. Den deutlichsten Mortalitätszuwachs zeigte eindeutig die Altersgruppe 65+.

Nach dem alterspsychiatrischen Zentrum in Kassel (Prof. Lindner) leidet ein Viertel der über 65-Jährigen an psychischen Störungen, bei Heimbewohnern sind es sogar 50%, und zählt man alle Demenzerkrankungen dazu sind es wahrscheinlich 2/3 der Heimbewohner. Alterspsychiatrische Pat. sind in unserem Gesundheitssystem eindeutig unterrepräsentiert, wobei v.a. alte Männer mit Beziehungsproblemen und multimorbide hochaltrige Menschen ab 85 Jahren betroffen sind und vernachlässigt werden. Diese bekannte Problematik wird durch die Corona-Pandemie  dramatisch gesteigert. Isolation, Einsamkeit und Langeweile sind die wichtigsten Prädiktoren psychischer Alterskrankheiten. Und daran leiden nicht nur alle Heimbewohner/innen, sondern generell alle Senioren/innen, die von ihrer Familie oft monatelang im Sinne des „Social Distancing“ nicht mehr besucht werden. Der Mensch als soziales Wesen ist immer abhängig von einem Du und einem Gegenüber, und diese Du – im Sinne Martin Bubers –gibt es oftmals nur mehr stark rarefiziert. Jede Pandemie führt zu signifikanten psychosozialen Veränderungen mit Panik, Gesundheitsängsten, Anpassungsstörungen, chronischem Stress, Depressionen und Insomnie. Fehlinformationen, Missverständnisse und Unsicherheit kann zur Massenhysterie führen. Und dafür sind leider gerade die Ältesten in unserer Bevölkerung besonders vulnerabel. In einer rezenten Lancet-Publikation beschreibt Armitage die soziale Isolierung der Älteren wegen deren biopsychosozialen Vulnerabilität als ein „ernsthaftes Bedenken hinsichtlich der öffentlichen Gesundheit“ in diesen Zeiten. In der Altersgruppe 60 bis 95 leben in Österreich laut Statistik Austria 1.187.603 Frauen und 952.903 Männer. Bereits vor der Pandemie litten mehr Ältere im ganzen Land an Einsamkeit, Isolation und reduzierten Kommunikations- und Kontaktmöglichkeiten. Durch die seit vielen Monaten bestehenden Kontaktbeschränkungen, Ausgangs- und Besuchsverbote haben auch die im Alter dominierenden psychiatrischen Erkrankungen Depressionen und Demenzen zugenommen.

COVID-19 und Depressionen:

Das gewichtete Mittel aus allen Studien für die Prävalenz der Alters-Depressionen liegt bei 13,5%. Somit leiden ungefähr 290.000 Ältere an einer depressiven Erkrankung. Nach der EURO-D-Studie ist v.a. die Altersgruppe „80plus“ mit 38% besonders von Depressionen betroffen. In 80 Prozent der Fälle besteht zusätzlich eine Angstsymptomatik bzw. Angststörung. In Pflegeeinrichtungen ist die Prävalenz von Depressionen noch höher als in der Allgemeinbevölkerung.  „Social Distancing“ als Kardinalsmaßnahme gegen die Pandemie wird v.a. in Pflegeinrichtungen besonders streng praktiziert und ist ein bekannter unabhängiger Risikofaktor für Depressionen, Angststörungen und Suizidalität. Kognitive Störungen und Begleitphänomenen wie Herumwandern, Irritabilität, paranoide Ideen und  psychotische Symptome können die Panik aggravieren und es noch schwieriger machen Sicherheitsmaßnahmen wie Distanzierung und Hygienevorschriften zu verstehen und zu befolgen. Eine gut gemeinte allgegenwärtige „Überinformation“ zur bedrohlichen Pandemie führt bei vielen Älteren zu Unverständnis, Misstrauen, paranoiden Ideen und Uneinsichtigkeit gegenüber notwendigen Gesundheits-Maßnahmen. Widersprechende Interviews mit Gesundheitsexperten und Politikern führen durch die Unmöglichkeit der Datenintegration und rationalen Verarbeitung zu weiterer Verunsicherung, innerer Unruhe und Belastungsreaktionen. Interessant sind aktuelle Daten der „4 City-Study“ von Reynolds aus den USA zu den Coping-Strategien in der COVID-19 Krise bei vorbestehenden Depressionen von Senioren. 44% fühlten sich depressiver, 46% ängstlicher  und 72% klagten über eine reduzierte Lebensqualität wegen der verminderten Interaktionen und Restriktionen. Aber nur 7% glaubten dass das Risiko einer Isolation das Risiko einer COVID-19-Infektion überwiegen würde.

Aufschieben und Nichteinhalten von notwendigen Arztkontakten und körperlichen Untersuchungen führt zu einer Verschlechterung der neuropsychiatrischen Erkrankungen, v.a. der Demenz., und es kann leichter zu Exazerbationen in der Corona-Krise kommen. Altersdiskriminierung führt zur Stigmatisierung, zum Neglect und zum bereits überwunden geglaubten therapeutischen Nihilismus. Es konnte bereits dokumentiert werden, dass Patienten mit mentalen Erkrankungen ein höheres Risiko für eine COVID-19 Erkrankung und einen schlechteren Verlauf gegenüber der Normalbevölkerung zeigen.

COVID-19 und Demenz bzw. Delir:

Die Demenz per se steigert nicht das Risiko an COVID-19 zu erkranken, aber das zumeist hohe Alter, die hohe Co-Morbidität und  das demenzbedingte Fehlverhalten mit Neigung zu irrationalen Handlungen können das Risiko ganz wesentlich erhöhen. Demenzpatienten reagieren auf die ständig wechselnden Beschränkungen, Maskenpflicht und Vorsichtsmaßnahmen, oftmals mit Zunahme ihrer Desorientierung und Verwirrtheit. Durch Wegfall von wichtigen Tages-Förderungsprogrammen,  ambulanten Unterstützungen, Besuchsdiensten, kognitivem Training und Reduktion der Facharztvisiten mit häufigem Absetzen der Antidementiva dürfte es bei vielen Pat. zu einem deutlichen Progressionsschub gekommen sein. Aktuelle Studien belegen dass Corona-bedingte Todesfälle disproportional die Demenzpopulation betreffen: in Italien und Kanada sind es über 20%, in GB sind es bis zu 26% und in Australien 41%. Die an COVID-19 verstorbenen Demenzpatienten sind zu 85% aus Pflegeeinrichtungen, in denen ca. 2/3 an Demenz leiden.

Laut der im Dezember 2020 durchgeführten virtuellen 34. Konferenz von Alzheimer Disease International (ADI) müssen v.a. Demenzpatienten in Heimen und auch daheim für die COVID-19 Impfprogramme priorisiert werden. Demenzpatienten sind disproportional häufig von dieser Erkrankung betroffen und gehören eindeutig zur vulnerabelsten Gruppe in unserer Gesellschaft. Durch die kognitive Störungen kann es sehr schwer sein den Sinn von Selbst-Isolierungen, Social-Distancing, Mund-Nasen-Schutz und Händehygiene zu begreifen. Schriftliche Erinnerungen auf Plakaten, häufiges einfaches Erklären und Telefonate oder Video-Besprechungen können die demenzbegleitende Agitation häufig verbessern.

COVID-19 beginnt in dieser Population meist nicht mit den klassischen Symptomen Husten und Fieber, sondern mit Diarrhoen und deliranten Zustandsbildern. Normalerweise erleiden ca. 1/3 der Patienten mit schweren Erkrankungen ein Delirium, bei COVID-19 Patienten steigt die Rate auf 55%. Die meisten sind bewusstseinsgetrübt und schläfrig, andere psychomotorisch unruhig, ruhelos und werden somit zum Problem für andere Mitbewohner und in der Folge mit Sedativa und Hypnotika behandelt, wodurch die Demenz einen weiteren Progressionsschub erfährt. Eine aktuelle Studie von der Delir-päpstin Inouye zeigte dass 28% der Älteren an COVID-19 Erkrankten beim Erstkontakt an der Notfallsaufnahme an einem Delir litten. Deshalb sollte Delir als Symptom in die COVID-19–Diagnosekriterien  integriert werden. Da das Delir zu den wichtigsten Risikofaktoren einer Demenzentwicklung zählt, befürchten Forscher, dass es in den nächsten Jahren zu einem massiven Demenz-Anstieg kommen könnte.

Und wo steht die aktuelle Demenztherapie?  Wir behandeln seit mehr als einem Jahrzehnt mit Generika. Auf einen wirklichen Durchbruch in der Demenztherapie warten wir seit 20 Jahren und die jetzigen Restriktionen und das reduzierte Angebot in Gedächtnisambulanzen, deren Schließung und der Corona-bedingte Abbruch vieler Antidementiva-Studien haben die Situation noch dramatisch verschlimmert.

Damit die große Gruppe der alterspsychiatrischen Patienten nicht automatisch auf einer Rolltreppe nach unten landet, ist es notwendig dass wir uns wieder mehr durch ein proaktives Vorgehen mit Intensivierung der Hausbesuche, Telefonvisiten, ambulanten Visiten und Öffnung von geschlossenen Gedächtnisambulanzen um diese vulnerabelste Gruppe bemühen.

 

Priv.-Doz. Dr. Michael Rainer
Zentrum für geistige Gesundheit
Lainzerstraße 20,1130 Wien