Der Wissenszuwachs der letzten Jahrzehnte hat zu einem besseren Verständnis der Wirkmechanismen von Psychopharmaka geführt; dem will nun eine neue Nomenklatur Rechnung tragen: ein Editorial zur Diskussion der „Neuroscience based Nomenclature“ des European College of Neuropsychopharmacology.
Die letzten Jahrzehnte haben eine deutliche Weiterentwicklung und zunehmende Verfügbarkeit neurowissenschaftlicher Forschungsmethoden gebracht, insbesondere im Bereich der Bildgebung, der Genetik und anderer grundlagenwissenschaftlicher Verfahren. Die modernen Neurowissenschaften basieren heutzutage vorzugsweise auf multimodalen Forschungsansätzen, die eine Integration von Grundlagenforschung und klinischer Wissenschaft ermöglichen. Die klinische Relevanz grundlagenwissenschaftlicher Ergebnisse wird zunehmend als wichtig erachtet, und klinische Ergebnisse werden häufiger auf mechanistische Prinzipien hin geprüft.
Diese Entwicklungen haben zu einem Wissenszuwachs und besseren Verständnis der Pathophysiologie psychiatrischer Erkrankungen und Wirkmechanismen von Psychopharmaka geführt. Die derzeit angewandte Psychopharmakaklassifikation deckt sich jedoch nicht mit diesen neuen Erkenntnissen über die Wirkmechanismen von den im Bereich der Psychiatrie eingesetzten Substanzen. Tatsächlich sind gegenwärtige Bezeichnungen historisch gewachsen und oft nach der chronologisch ersten klinischen Indikationsstellung benannt. Sie berücksichtigen somit oftmals nicht die gesamte Spannweite der aktuellen klinischen Anwendungsgebiete und können bei Patienten und Ärzten für Verwirrung sorgen. Aus diesem Grund wurde von dem European College of Neuropsychopharmacology (ECNP) ein auf Wirkmechanismen und Indikationsstellungen basierendes, multiaxiales Nomenklatursystem entworfen [1, 2]. Dieses System soll die Stellung der Psychiatrie, und vor allem das Gebiet der Psychopharmakologie, als durch Forschungsergebnisse begründetes therapeutisches Fach unterstreichen.
Die derzeitige Nomenklatur
Die Unzulänglichkeit der gegenwärtigen Nomenklatur von Psychopharmaka beruht unter anderem auf der Tatsache, dass die Bezeichnungen historisch gewachsen sind und somit nicht auf dem modernen Verständnis für psychopharmakologische Wirkmechanismen basieren. So werden beispielsweise Neuroleptika als der „ersten“ oder „zweiten Generation“ zugehörig bezeichnet. Alternativ sprechen wir von „typischen“ oder „atypischen Neuroleptika.“ Diese Bezeichnungen spiegeln zwar eine Weiterentwicklung der Substanzen wider, geben jedoch keine Hinweise auf mögliche Wirkmechanismen und Nebenwirkungsprofile, auf Unterschiede zwischen den Gruppen oder auf deren Einsatzgebiete. Ferner ist der Begriff Neuroleptikum wenig aussagekräftig hinsichtlich der durch die Substanzen beeinflussten molekularen oder neuronalen Mechanismen, beziehungsweise ihrer klinischen Wirkung.
Ähnliches gilt für die Benennung von Psychopharmaka anhand ihrer chemischen Struktur, wie zum Beispiel im Fall trizyklischer Antidepressiva. Diese Substanzen zeigen zwar andere Nebenwirkungsprofile als Antidepressiva anderer Klassen, dies lässt sich jedoch direkter durch die Unterschiede im Bindungsprofil an verschiedene Neurotransmitterrezeptoren oder -transporterproteine erklären als durch die Abweichung in der chemischen Struktur. Diese Beispiele legen nahe, dass die gängigen Bezeichnungen für Psychopharmaka nicht dem aktuellen Verständnis von Wirkmechanismen entsprechen.
Etwas anders ist die Situation bei den neueren Psychopharmaka, insbesondere der Klasse der Antidepressiva. Bezeichnungen wie „Selective Serotonin Reuptake Inhibitor“ (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI), „Serotonin and Noradrenaline Reuptake Inhibitor“ (Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, SNRI), „Serotonin Antagonist and Reuptake Inhibitor“ (Serotonin-Antagonist- und Wiederaufnahmehemmer, SARI) oder „Noradrenergic and specific serotonergic Antidepressant“ (Noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum, NaSSA) beschreiben zwar Wirkmechanismen der Psychopharmaka, jedoch werden Medikamente dieser Klassen nicht nur bei Depressionen eingesetzt.
SSRIs und SNRIs werden auch bei Angsterkrankungen wie der Panikstörung, der generalisierten Angststörung oder der Sozialphobie angewandt. Weiters werden sowohl Trizyklika als auch SSRIs bei Zwangsstörungen eingesetzt. Ein anderes Beispiel betrifft den Einsatz von Neuroleptika, welche wir auch als „Antipsychotika“ bezeichnen. Diese können auch zur Augmentation antidepressiver Wirkungseffekte, als Phasenprophylaxe bei affektiven Erkrankungen oder als antimanische Medikation verordnet werden. Ähnlich ist es bei dem Einsatz von antiepileptischer Medikation wie Valproinsäure oder Lamotrigin bei der bipolaren affektiven Störung. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass unser gegenwärtiges Nomenklatursystem somit nur begrenzt Informationen über klinische Indikationen liefert, was bei Patienten zu Verwirrung und fallweise sogar Beängstigung führen kann.
Zohar et al. stellten fest, dass ein Patient hinterfragen könnte, ob die Verschreibung eines Antipsychotikums, welches der antidepressiven Augmentation dienen soll, nicht vielleicht doch bedeute, dass er psychotisch sei. Die Diskordanz zwischen dem wissenschaftlichen Verständnis pathogenetischer und pharmakodynamischer Mechanismen und der gegenwärtigen psychopharmakologischen Nomenklatur ist auch hinsichtlich psychoedukativer Ansätze ungünstig. Eine integrative und konsistente Nomenklatur würde das Erstellen von Therapieplänen und Besprechen biologischer Erklärungsmodelle mit dem Patienten erleichtern, was Vorteile für die Psychoedukation und somit auch für den Langzeitverlauf mit sich bringen würde.
Neurowissenschaft und Psychopharmakologie
Neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse unterstreichen den Zusammenhang zwischen pathophysiologischen Mechanismen, psychiatrischer Symptomatik und den der entsprechenden psychopharmakologischen Behandlungen zugrunde liegenden Mechanismen. Am vielleicht eindrücklichsten ist dieser Zusammenhang bei der unipolaren Depression und der antidepressiven Wirkung serotonerger Wiederaufnahmehemmung. Tryptophandepletionsstudien, bei denen durch Einnahme Tryptophan-freier Aminosäurenmischungen die Serotoninsynthese minimiert wird, zeigen, dass niedrige Serotoninspiegel mit depressiven Symptomen einhergehen.
Studien mit Single Photon Emission Computer Tomography (SPECT, Einzelphotonen-Emissionstomographie) und Positronenemissionstomographie (PET) zeigen eine Verminderung des Serotonintransporters (SERT) im Hirnstamm bei depressiven Patienten im Vergleich zu gesunden Probanden. Genetische Studien unterstreichen die Relevanz des SERT bei depressiven Störungsbildern. Weiters wird die antidepressive Wirkung von SSRIs über eine SERT-Blockade vermittelt. Mittels PET konnte die Bindung der SSRIs an den SERT festgestellt und dank Mikrodialysestudien konnte die durch SSRIs verursachte serotonerge Wiederaufnahmehemmung und Erhöhung der extrazellulären Serotoninkonzentrationen gemessen werden.
Eine Down-Regulation des SERT und damit verbundene Veränderung der serotonergen Innervation von Projektionsgebieten wird als zugrunde liegender Mechanismus für die antidepressive Wirkung vermutet. Ein ähnlicher Zusammenhang konnte zwischen dem Pathomechanismus produktiv-psychotischer Symptome und antipsychotischer Wirkmechanismen erarbeitet werden. So wurde eine erhöhte Dopaminsynthese und eine erhöhte Reagibilität des dopaminergen Systems, zum Beispiel als Antwort auf eine Stimulation mit Amphetaminen, bei PatientInnen mit Schizophrenie gezeigt. Umgekehrt führt eine Blockade der dopaminergen D2-Rezeptoren zu einem antipsychotischen Effekt. Diese Beispiele machen deutlich, dass aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse eine rationale, wissenschaftlich fundierte Psychopharmakotherapie durchaus ermöglichen. Die vorgeschlagene Nomenklatur sollte daher Medikamentenbezeichnungen an diese Gegebenheiten anpassen.
Entwurf einer neuen Nomenklatur
Der hier beschriebene Entwurf für eine neue psychopharmakologische Nomenklatur wurde im Rahmen des ECNP entwickelt und beim 27. ECNP Kongress 2014 in Berlin präsentiert. In einer rezenten Publikation von Zohar et al. wird die Entwicklung der Nomenklatur anschaulich dargestellt. Repräsentanten der ECNP, des American College of Neuropsychopharmacology (ACNP), des Collegium Internationale Neuro-Psychopharmacologicum (CINP), des Asian College of Neuropsychopharmacology (AsCNP) und der International Union of Basic and Clinical Pharmacology (IUPHAR) waren zusammen mit Repräsentanten der pharmazeutischen Industrie an der Erstellung beteiligt. Verglichen wurde das neue Nomenklatursystem mit einer von der World Health Organisation (WHO) erstellten Nomenklatur für Medikamente, welche das Nervensystem beeinflussen.
Dieses System unterteilt neuropsychiatrische Medikamente in Analgetika, Antiepileptika, Parkinson- Mittel, Psychoanaleptika, Psycholeptika, Anästhetika und andere. Psychoanaleptika werden weiter in Antidementiva, Antidepressiva, Psychostimulantien und kombinierte Psychoanaleptika und Psycholeptika unterteilt. In der Untergruppe Antidepressiva sind unter anderem die oben beschriebenen (SSRI, SNRIs, NaSSAs, SARIs) Klassen eingeteilt. Dieses System, insbesondere die Untergruppe „Psychoanaleptika“, stellt im Grunde eine Erweiterung der geläufigen und in der Klinik und Wissenschaft angewandten Nomenklatur dar. Auch diese systematische Unterteilung der Psychopharmaka gibt leider wenig Aufschluss über Wirkmechanismen und die klinischen Indikationen für deren Einsatz.
Um die oben beschriebenen Nachteile der gegenwärtigen Nomenklatur zu umgehen, wurde von Zohar et al. ein multiaxiales System vorgeschlagen. In diesem Entwurf beschreibt die Achse 1 die Medikamentenklasse oder den generellen Wirkmechanismus, zum Beispiel Wiederaufnahmehemmung, und die Achse 2 die Medikamentenfamilie oder die vorrangigen pharmakodynamischen Effekte auf das jeweils betroffene Neurotransmittersystem, zum Beispiel die serotonerge Wiederaufnahmehemmung. Die Achse 3 umfasst neurobiologische Effekte in Tier- und Humanstudien, Achse 4 die Wirkungen und Nebenwirkungen und Achse 5 die Indikationen. Die rezent von der ECNP veröffentlichte Version wurde im Vergleich zum Entwurf von Zohar et al. etwas vereinfacht und umfasst nun vier Achsen; Achse 1, das pharmakologische Target und der Wirkmechanismus; Achse 2, die Indikationen, für welche das Medikament zugelassen ist; Achse 3, Wirkungen und Nebenwirkungen und Achse 4, neurobiologische Grundlagen (Abbildung 1).
Anhand des Beispiels Escitalopram ist die Achse 1 die serotonerge Wiederaufnahmehemmung, die Achse 2 umfasst Depression, Panikstörung, Generalisierte Angststörung, Sozialphobie und Zwangserkrankungen. Achse 3 beschreibt die Effektivität gegen depressive, Angst und Zwangssymptome, aber auch das Auftreten von gastrointestinalen und sexuellen Nebenwirkungen, Verschlechterung von Angst und Schlaf zu Beginn der Behandlung und Absetzphänomene. In einem Kommentar wird ein möglicher verlängernder Effekt auf die QTc-Zeit diskutiert. Effekte auf Neurotransmitter, neuronale Schaltkreise und physiologische Effekte der Wirkmechanismen in Tier- und Humanstudien sind in der Achse 4 angeführt (Abbildung 2).
Zur Entwicklung der Nomenklatur und zur Überprüfung der Anwendbarkeit wurden von Zohar et al. insgesamt vier Befragungen von Psychiatern, Psychologen, Neurowissenschaftlern und Pharmakologen durchgeführt. Die Befragung beinhaltete Punkte zur Erfassung des Arbeitsumfeldes der befragten Individuen, die Einschätzung der derzeit gültigen Nomenklatur und wie die bestehende Nomenklatur den jeweiligen Umgang mit der Medikation beeinflusst. Weiters wurde erfasst, welche Informationen ein neues System inkludieren sollte. Ungefähr 45 Prozent der Befragten waren mit der neuen Nomenklatur einverstanden, während ca. 46 Prozent unentschlossen blieben. Nur weniger als neun Prozent der Befragten äußerten sich negativ über das neue Benennungssystem.
Zusammenfassung
Ziel der neuen Nomenklatur von Psychopharmaka ist es, ein Benennungssystem zu entwickeln, welches neurowissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkungsweise der eingesetzten Substanzen und Informationen über deren klinische Anwendungsgebiete beinhaltet. Dieses System soll damit Wissenschaftern, Ärzten, und Patienten ein besseres Verständnis ermöglich. Zudem soll mithilfe dieser neuen Einteilung das wissenschaftliche Fundament der Psychopharmakotherapie hervorgehoben werden.
Eine Limitation des neuen Systems liegt darin, dass die Neurowissenschaften laufend neue Forschungsergebnisse liefert, die in das System integriert werden müssen. Die „Neuroscience Based Nomenclature“ soll dementsprechend von der ECNP regelmäßig aktualisiert werden. Ein weiterer Kritikpunkt wäre, dass durch die systematische Einteilung der Psychopharmaka neurowissenschaftliche Grundlagen der verschiedenen Wirkungsweisen eventuell vereinfacht werden. Die Ergebnisse von Zohar et al. belegen jedoch eine große Offenheit von medizinischem und wissenschaftlichem Personal gegenüber einem neuen Nomenklatursystem.
Quellen: Zohar J. et al.: Neuroscience Based Nomenclature; First Edition ed 2014; Cambridge Cambridge University Press; Zohar J. et al.: A proposal for an updated neuropsychopharmacological nomenclature; European neuropsychopharmacology: the journal of the European College of Neuropsychopharmacology 2014; 24(7): p. 1005–14
Literatur bei den Autoren
Dr. Marie Spies, Dr. Pia Baldinger, Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Rupert Lanzenberger, o. Univ.-Prof. Dr. h.c. mult. Dr. Siegfried Kasper
Klinische Abteilung für Biologische Psychiatrie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien E-Mail: sci-biolpsy@meduniwien.ac.at