Die moderne Psychopharmakotherapie ermöglicht die effektive und nebenwirkungsarme Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen. Atypische Neuroleptika zur Behandlung der Schizophrenie oder selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer zur Therapie depressiver Störungsbilder stellen eindrucksvolle Beispiele für die Entwicklung der Psychopharmakotherapie im letzten halben Jahrhundert dar. Diese Weiterentwicklung erfordert jedoch eine Erweiterung psychopharmakologischer Kenntnisse, um eine sichere und effektive Psychopharmakotherapie zu ermöglichen.

Einerseits verlangen neue Substanzen, Indikationen und Methoden spezialisiertes Wissen. Wie in anderen Bereichen der Medizin stehen für die Psychiatrie zunehmend Evidence-based Medicine und darauf basierende Leitlinien für die Patientenbehandlung zur Verfügung. Andererseits behandelt die Psychiatrie ein klinisch sehr diverses und von sozioökonomischen Faktoren geprägtes Patientengut. Unsere bisherigen, auf kategorialen Einteilungen basierenden, diagnostischen und therapeutischen Systeme spiegeln nur begrenzt die Vielfältigkeit unserer Patienten wider. Die Herausforderung an Psychiatern ist es somit, eine individualisierte, jedoch aktuellen Empfehlungen entsprechende Psychopharmakotherapie zu verordnen.

Vorteile einer internationalen Standardisierung

Eine tiefgreifende psychopharmakologische Ausbildung ist essenziell, um Psychiatern das notwendige Wissen für eine differenzierte Psychopharmakotherapie zu vermitteln. Eine internationale Standardisierung der psychopharmakologischen Ausbildung bringt ebenfalls einige Vorteile. Zum Beispiel ermöglichen solche Projekte auch kleineren Zentren, eine ausführliche Ausbildung anzubieten, machen eine Überprüfung der Lehrleistung möglich und fördern internationale Mobilität. Dementsprechend gibt es bereits in der USA (ASCP Model Psychopharmacology Curriculum; American Society of Clinical Psychopharmacology) und in Deutschland (Curriculum der „Research and Science“-Gruppe der German Medical Director Conference of Psychiatric Hospitals; Bundesdirektorenkonferenz BDK, Projektleiter Univ.-Prof. Dr. Gerd Laux) psychopharmakologische Curricula.

Einige Vorstände psychiatrischer Abteilungen und Universitätskliniken (unter anderem Univ.-Prof. Dr. Pierre Baumann, Univ.-Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, Univ.-Prof. Dr. Istvàn Bitter, Univ.-Prof. Dr. Dipl.-Psych. Gerd Laux und o. Univ.-Prof. Dr. h.c. mult. Dr. Siegfried Kasper) streben ein EU-weites Curriclum an. Eine Arbeit zur Darstellung der Herausforderungen der modernen Psychopharmakotherapie und darauf basierend der Notwendigkeit für ein EU-weites psychopharmakologisches Curriculum wird derzeit von den Autoren unter Federführung von Prof Baumann zur Publikation vorbereitet.

Herausforderungen

Eine der größten Herausforderungen in der psychopharmakologischen Behandlung von Patienten liegt in der Divergenz zwischen Leitlinien und Empfehlungen von nationalen und internationalen psychiatrischen Organisationen und der alltäglichen Patientenbetreuung. Diese muss natürlich nicht nur die psychiatrische Diagnose und Symptomatik, sondern auch das Patientenumfeld und die Patientengeschichte miteinbeziehen. Als Resultat werden Patienten öfters mit Therapien, die auf einer Mischung aus Evidence-based Medicine und empirischer Erfahrung basieren, behandelt. In ihrem Review diskutieren Vazquez et al. mögliche Hintergründe dieser Gegensätze.1

Einerseits machen die Autoren unsere auf Diagnosekategorien und nicht auf Symptomdimensionen basierenden diagnostischen Systeme verantwortlich. Obwohl die internationalen Diagnosesysteme, z.B. The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5th edition; DSM-5; American Psychiatric Association, 2013), bereits Änderungen weg von kategorialen Diagnosen zeigen, basieren unsere therapeutischen Leitlinien nach wie vor auf überholten Systemen. Somit spiegeln therapeutische Schemata nicht unbedingt unsere gegenwärtige Vorstellung der Psychopathologie wieder.

Weiters erwähnen die Autoren, dass Patienten, die im Rahmen klinischer und psychopharmakologischer Studien untersucht werden, nicht unbedingt das klinische Patientengut widerspiegeln, nachdem Komorbiditäten ausgeschlossen werden und strenge Compliance natürlich von Studienprotokollen verlangt wird. Obwohl große, randomisierte, Doppelblind-Studien für die Untersuchung der Sicherheit und Wirkung von Psychopharmaka essenziell sind und von Zulassungsbehörden verlangt werden, können gewonnene Informationen über Effektivität nicht zwingend eins zu eins auf klinische Patientenpopulationen übertragen werden. Aufgrund dieser Eigenschaften psychiatrischer Patienten sind Off-label-Anwendungen2,3 und Polypharmazie4 häufig.

Weiters werden nicht psychiatrische Komorbiditäten, die häufig mit weiterer Medikation einhergehen, oft nicht in klinischen Studien berücksichtigt.1 Somit verlangt die Anwendung von Psychopharmaka ausreichende Kenntnisse über Wirkungsmechanismen, Effektivität, Applikationsform, Nebenwirkungen, Risiken und Pharmakokinetik sowie Interaktionspotenzial. Darüber hinaus werden ethische Überlegungen in der Psychopharmakotherapie zunehmend relevant. Themen wie die Anwendung von Neuroenhancer, z.B. Stimulantien, in gesunden Populationen werden in wissenschaftlichen und klinischen Kreisen und Organisationen diskutiert. 5

Weiters erscheint die Off-label-Anwendung von Medikamenten zwar häufig klinisch notwendig,2, 3 dies wirft jedoch ethische und rechtliche Fragen auf.5,6 Um Teil dieser Diskussion zu sein und sichere klinische Entscheidungen treffen zu können, ist eine tiefgreifende psychopharmakologische Ausbildung notwendig. Um einen sicheren Umgang mit Psychopharmaka zu ermöglichen, ist eine ausführliche Ausbildung essenziell. Insbesondere ein Fokus auf „Bed-side“-Teaching ist notwendig, um es Psychiatern in Ausbildung zu ermöglichen, Theorie und Leitlinien an individuellen Patienten effektiv anzuwenden.

Psychopharmakologische Ausbildung in Europa

Derzeit existiert kein europaweites Psychopharmakologie- Curriculum. Kriterien für das Erlangen des Facharztes für Psychiatrie werden von den jeweiligen Ländern individuell definiert. In Österreich wird derzeit neben der Facharztprüfung ein Rasterzeugnis der Ausbildungszeiten verlangt. Im Rahmen der neuen Ausbildungsordnung werden auch die Absolvierung spezifischer psychiatrischer Leistungen und die Erlangung von Wissen in klinischen Bereichen verlangt, wobei dies nicht nur die psychopharmakologische Ausbildung, sondern die gesamte psychiatrische Ausbildung miteinbezieht.

Wenn die gegenwärtige Lage der psychopharmakologischen Ausbildung in Österreich oder der EU mit der psychotherapeutischen Ausbildung verglichen wird, ist offensichtlich, dass Psychopharmakologie in Bezug auf Zeit und Ressourcen derzeit nicht ausreichend berücksichtigt wird. Dies wird in einem Review von Loga et al. auch im internationalen Kontext betont.7 In der Arbeit von Baumann et al. werden die Vorteile eines EU-weiten Curriculums beschrieben. Einerseits würde ein Curriculum die zentrale Bedeutung der psychopharmakologischen Therapie in der Behandlung psychiatrischer Erkrankung betonen. Da ein Curriculum spezifische Lernziele definiert, erlaubt es auch eine gewisse Standardisierung zwischen Ausbildungszentren.

Wie oben beschrieben spielt empirische Erfahrung, teils auch zu Recht, in der Psychopharmakotherapie eine bedeutsame Rolle, sodass in einem nicht standardisierten System die vermittelte Information stark vom individuellen Lehrenden abhängig sein kann. Obwohl solch spezialisiertes Wissen hilfreich sein kann, sollte es durch Evidence-based Information supplemetiert werden.

Bestrebungen für ein EU-weites Curriculum

Gardner et al. beschäftigen sich in einem Review mit den Voraussetzungen für effektive und sichere Verordnung von psychopharmakologischen Medikamenten. Die Autoren betonen, dass theoretische Kenntnisse, unter anderem in den Bereichen Pharmakologie, Pharmakokinetik, Interaktionspotenzial, Dosierung und Toxizität, notwendig sind. Weiters sollten Psychiater sowohl über die vorhandene Evidenz hinsichtlich der Effektivität sowie über Evidenzlücken informiert sein. Bezüglich der praktischen Fähigkeiten wird beschrieben, dass Psychiater über Erfahrung in der Auswahl der Medikation sowie dem Erfassen von Wirkung und Nebenwirkungen verfügen sollten.8

Somit sollte das Ziel eines psychophamakologischen Curriculums nicht nur Vermittlung und Organisation von notwendigem Wissen sein, sondern auch einen Fokus auf die klinische Anwendung der Information legen. Das derzeit bekannteste psychopharmakologische Curriculum wurde vor über 20 Jahren von The American College of Neuropsychopharmacology entworfen 9 und seitdem wiederholt von der American Society of Clinical Psychopharmacology modifiziert. Dieses Curriculum ist bereits in der achten Version vorliegend (http://psychopharmcurriculum. com). In einer Folgeuntersuchung haben Glick et al. die Anwendbarkeit des Curriculums evaluiert. Anhand dieser Evalutation wurde ebenfalls bemerkt, dass ein Curriculum nicht nur eine Liste von Lernzielen sein sollte, sondern technologische Unterstützung inkludieren sollte, um die Information anwenderfreundlich zu vermitteln.

Weiters sollte ein Curriculum für Institutionen, die nicht an der Entwicklung beteiligt waren, offen und kostengünstig sein. Außerdem wird die Notwendigkeit einer Evaluation von LehrerInnen und Auszubildenden betont10. Von der „Research and Science“-Gruppe der German Medical Director Conference of Psychiatric Hospitals (Bundesdirektorenkonferenz, BDK) steht ebenfalls ein Curriculum- Entwurf für Deutschland zur Verfügung.11 Eine Arbeitsgruppe unter Mitwirkung der Autoren der EPA (Europäische Psychiatrie Gesellschaft) plant eine Leitlinie für die Entwicklung eines Europa-weiten Curriculums zu erarbeiten. Durch die Etablierung eines EUweiten psychopharmakologischen Curriculums sollte die Psychopharmakologie ausreichend in der psychiatrischen Ausbildung berücksichtigt werden. Basierend auf den Erkenntnissen aus anderen internationalen Curricula sollte ein klinisch relevantes, dynamisches Curriculum entwickelt werden.

Literatur
1 Vazquez, Revue canadienne de psychiatrie 2014; 59(8):412–6;
2 Baldwin et al., Current pharmaceutical design 2015; 21(23):3276–9;
3 Chouinard, JPN 2006; 31(3):168–76;
4 Moller et al., IJNP 2014; 17(7):983–96;
5 Mohamed und Sahakian, IJNP 2012; 15(4):559–71;
6 Strous, IJNP 2011; 14(3):413–24;
7 Loga et al., Psychiatria Danubina 2011; 23(3):289–92;
8 Gardner, Competent psychopharmacology 2014; 59(8):406–11;
9 Glick et al., Neuropsychopharmacology 1993; 8(1):1–5;
10 Glick und Zisook, Academic psychiatry; 2005; 29(2):134–40;
11 Laux et al., Psychopharmakotherapie 2014; 21:64–68

Dr. Marie Spies,
o. Univ.-Prof. Dr. h.c. mult. Dr. Siegfried Kasper
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Wien
E-Mail: sci-biolpsy@meduniwien.ac.at
Univ.-Prof. Dr. Pierre Baumann
Department of Psychiatry (DP-CHUV), University of Lausanne
Univ.-Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller,
Univ.-Prof. Dr. Dipl.-Psych. Gerd Laux
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
Ludwigs-Maximilians-Universität München
Univ.-Prof. Dr. Istvàn Bitter
Department of Psychiatry and Psychotherapy,
Semmelweis University, Budapest