Das Tourette-Syndrom zeichnet sich durch die Kombination aus motorischen und vokalen Tics aus und beginnt in der Kindheit oder Jugend. Tics selbst werden nach DSM-5 als „plötzliche, schnelle, sich wiederholende, unrhythmische motorische Bewegungen oder Lautäußerungen“ beschrieben.1 1885 wurden durch Georges Gilles de la Tourette neun Fälle detailliert beschrieben, und die Namensgebung geht auf ihn zurück. (CliniCum neuropsy 4/18)

Bereits in der ersten Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manuals (DSM) wurden Tics als Störungsbild aufgenommen. Im aktuellen DSM-5 werden die Tic-Störungen unter den Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung eingeordnet. Neuerungen betreffen die Namensgebung und einzelne Kriterien. So wird die „chronische“ Tic-Störung jetzt als „persistierende“ und die „vorübergehende“ als „vorläufige“ Tic-Störung umbenannt. Alle Tic-Störungen bleiben rein klinische Diagnosen, und diagnostische Schritte dienen vor allem dem Ausschluss anderer organischer Ursachen. Tics werden nach ihrer Art in motorische oder vokale und hinsichtlich ihrer Komplexität in einfache oder komplexe Tics unterteilt. Epidemiologischen Untersuchungen zufolge liegt das Tourette-Syndrom mit etwa 0,85–1 Prozent Prävalenz deutlich häufiger vor, als man gemeinhin annehmen würde. Tics gehören zu den häufigsten neuropsychiatrischen Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter und treten bei etwa 10–15 Prozent aller Grundschüler auf. In der Geschlechtsverteilung zeigt sich eine Häufung beim männlichen Geschlecht (etwa 2–4:1).

Symptomatik

Einfache motorische (z.B. blinzeln, Nase rümpfen) oder vokale (z.B. räuspern, Silben rufen, quieken, …) Tics zeigen sich deutlich häufiger als die charakteristischen schwereren komplexen motorischen (z.B. Echopraxie, Kopropraxie…) oder vokalen (z.B. Koprolalie, Echolalie etc.) Formen. Neben den Tics finden sich bei einigen Patienten auch autoaggressive Handlungen oder das Berühren von Gegenständen („touching“). Ebenfalls charakteristisch und von zunehmendem wissenschaftlichem Interesse sind die den Tics vorangehenden Vorgefühle („premonitory urges“). Diese Vorgefühle werden von den Betroffenen als ein z.B. „Ziehen“, „drückendes Gefühl“ oder eine Anspannung in verschiedenen Körperregionen beschrieben. Durch den Tic wird das Vorgefühl abgemildert, sodass Tics als Reaktion mit therapeutischer Wirkung auf die oftmals sehr unangenehmen Vorgefühle aufgefasst werden können.

Diesen Umstand macht man sich insbesondere bei den verhaltenstherapeutischen Techniken zunutze. Der Verlauf unterliegt deutlichen Fluktuationen sowohl hinsichtlich der Art der Tics als auch deren Auftretens wahrscheinlichkeit. In der Regel beginnen motorische Tics zwei bis drei Jahre früher als vokale Tics. Der Beginn der Symptomatik liegt im Alter von vier bis sechs Jahren und zeigt seine stärkste Ausprägung um das 10./11. Lebensjahr.2 Auch ohne Therapie zeigt sich bei vielen Betroffenen eine spontane Besserung im Jugendalter und Übergang ins Erwachsenenalter. Als positive Einflussfaktoren werden Ruhe und Entspannung sowie konzentrierte Tätigkeiten benannt, während Stress und Aufregung eher zu einer Zunahme der Tic-Frequenz führen.

Diagnose

Die Diagnose zu stellen ist für den geübten Kliniker in der Regel bei typischer Anamnese nicht allzu schwer. Größere Schwierigkeiten bereitet es, weitere psychiatrische Komorbiditäten wie Zwänge (50–80 Prozent der Fälle), ADHS (50–60 Prozent), depressive Symptome (etwa 20 Prozent) oder autoaggressive Impulse (etwa 40 Prozent) diagnostisch abzugrenzen oder im Therapieverlauf einzubeziehen. Mögliche somatische Ursachen von Bewegungsstörungen wie ein Morbus Wilson können durch entsprechende Laboruntersuchungen und bildgebende Verfahren in der Regel gut ausgeschlossen werden. Zur Erfassung der Ausprägung der Symptomatik existieren eine Reihe validierter Instrumente. Die Tic-Schwere wird üblicherweise mit der Yale Global Tic Severity Scale (YGTSS), Vorgefühle mit der Premonitory Urge for Tics Scale (PUTS) oder Lebensqualität mit der Gilles de la Tourette Syndrome-Quality of Life-Scale (GTS-QoL) erfasst. Natürlich können auch andere Skalen eingesetzt werden. Ein ausführlicher Vorschlag zum diagnostischen Vorgehen findet sich in der entsprechenden Leitlinie der Europäischen Tourette-Gesellschaft (European Society for the Study of Tourette Syndrome ESSTS).3

Ätiologie

Die Ätiologie konnte bislang nicht vollständig geklärt werden. Man geht insgesamt von einer Dysfunktion im corticostriato- pallido-thalamo-corticalen Netzwerk aus. Über strukturelle und funktionelle bildgebende Verfahren versucht man dabei, einzelne Komponenten der Symptomatik hirnstrukturell zu lokalisieren. Dabei zeigte sich, dass die Konnektivität vieler zerebraler Areale insgesamt verändert – im Vergleich zu Kontrollen – zu sein scheint. Eine verstärkte Konnektivität des motorischen Kortex konnte dabei auch mit der Stärke der Tics korreliert werden. Auch die neuronale Grundlage der Vorgefühle rückt vermehrt ins wissenschaftliche Interesse. In einer computerbasierten Modellierung zeigen Conceiçao und Kollegen, wie die beteiligten Hirnareale bei der Auslösung der Vorgefühle (primärer und sekundärer somatosensorischer Kortex S1 und S2, Insula sowie supplementär und cingulär motorische Areale), dem Erlernen von Tics (Insula, ventrales Striatum, Putamen, ventrales Tegmentum, Substantia nigra, pars compacta) und der Tic-Ausführung (motorischer Kortex, Globus pallidus internus und externus, Substantia nigra, pars reticulata, Thalamus und anteilig die supplementär und cingulär motorischen Areale, Putamen und Substantia nigra, pars compacta) ineinandergreifen könnten.4

Nach diesem Modell kommt es durch das Beenden aversiver Vorgefühle zu einer Induktion phasischer Dopaminausschüttung und damit zu einem Erlernen von Tics. Neben Dopamin spielen in diesem Modell insbesondere glutamaterge und GABAerge Bahnsysteme eine große Rolle. Neben diesen zentralen Mechanismen existieren eine Reihe von weiteren Einflüssen, z.B. durch noradrenerge Afferenzen auf die Entstehung von Tics. Auch das Cannabinoid- System ist durch die Verteilung der Cannabinoid-Rezeptoren in Tic-relevanten Regionen ein wichtiger Bestandteil und zunehmend im Forschungsinteresse. Ohne Zweifel besteht eine deutliche familiäre Disposition für Tics und auch für z.B. komorbide Zwangssymptome. Allerdings konnte in genweiten Analysen bislang erst ein Marker die genomweite Signifikanz erreichen (rs7868992; COL27A1; 9q32). Die funktionelle Relevanz bleibt hier noch zu klären. Inwieweit immunologische Veränderungen infolge von z.B. Infektionen mit Streptokokken im Sinne eines PANDAS (pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infections) oder PANS (pediatric acute neuropsychiatric syndrome) einen Beitrag zur Ätiologie liefern, ist bislang nicht endgültig geklärt. Derzeit wird eine europaweite Studie (EMTICS) zur Klärung dieser Frage ausgewertet. Neuere Ansätze untersuchen verstärkt die Rolle der Mikroglia im komplexen neuroimmunologischen Zusammenspiel.

Therapie

Mittlerweile gibt es eine Reihe von wirksamen Therapieverfahren, die für unterschiedliche Schweregrade der Erkrankung eine zuweilen sehr deutliche Verbesserung hervorbringen können. Vor Initiierung einer Therapie sollte jedoch genau geprüft werden, inwieweit überhaupt eine Indikation für eine Therapie vorliegt. In vielen Fällen ist eine ausführliche Psychoedukation über das Störungsbild zunächst ausreichend, um für entsprechende Entlastung bei den Betroffenen zu sorgen. Hierdurch kann es ggf. auch zu einer Reduktion von Stigmatisierung oder sozialer Ausgrenzung kommen. Erst wenn es zu anhaltenden Beschwerden durch die Tics, psychosozialen Schwierigkeiten wie Mobbing, psychischen Folgeproblemen (z.B. depressive Symptome) oder funktionelle Einbußen in Schule, Ausbildung oder Arbeit kommt, sollten weiterführende Therapiemaßnahmen ergriffen werden.5

Psychotherapeutisch stehen mit dem Habit Reversal Training (HRT) und Exposure and Response Prevention (ERP) zwei wirksame verhaltenstherapeutische Verfahren in manualisierter Form zur Verfügung.6 Eine Weiterentwicklung des HRT stellt die Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT) dar, die das HRT um eine ausführliche Psychoedukation, ein Achtsamkeitstraining und Funktionsanalysen erweitert. Durch diese psychotherapeutischen Verfahren sind Verbesserungen der Symptomatik um 30 Prozent und mehr zu erreichen. Leider mangelt es vielerorts an entsprechend ausgebildeten Therapeuten. Hier könnten in der Zukunft Online-basierte Psychotherapieansätze eine vielversprechende Alternative bilden. Leichter zugänglich sind psychopharmakologische Ansätze, die in spezialisierten Ambulanzen in ihrer Breite angeboten werden können. Weiterhin ist Haloperidol die gegenwärtig einzige zugelassene Substanz in dieser  Indikation, wird jedoch aufgrund besser verträglicher Alternativen nur sehr selten eingesetzt.

Der Therapiealgorithmus der ESSTS-Leitlinien sieht zunächst eine Psychoedukation vor und bei entsprechender Therapieindikation und je nach Präferenz der Betroffenen eine Verhaltenstherapie oder Pharmakotherapie im Anschluss und bei anhaltender Symptomatik eine Kombination beider Verfahren oder unterschiedlicher Pharmaka. Insofern es zu keiner ausreichenden Verbesserung auch unter dieser Strategie kommen sollte, können weitere Verfahren wie eine Behandlung mit Cannabinoiden, Botulinumtoxin oder eine Tiefenhirnstimulation in Betracht gezogen werden. Im Vergleich zu anderen Indikationen ist die Datenlage aber insgesamt als noch unzureichend zu beurteilen, da für die meisten Medikamente nur sehr wenige Studien existieren. Zudem ist durch den wellenhaften Verlauf der Tics auch die Zuschreibung der Wirkung auf die durchgeführte Therapie oftmals nicht einfach. Zur strukturierten Einschätzung empfiehlt sich zudem die Anwendung standardisierter Ratingskalen wie der YGTSS. Die überwiegende Vielzahl wirksamer Psychopharmaka zielt auf eine Beeinflussung dopaminerger Bahnsysteme (hierunter klassische Antipsychotika wie Haloperidol und Pimozid, die Benzamide Tiaprid, Sulpirid und Amisulprid sowie die atypischen Antipsychotika Risperidon, Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin oder Ziprasidon). In der ESSTS-Leitlinie wird der Einsatz der Benzamide sowie der atypischen Antipsychotika vor den klassischen Antipsychotika empfohlen.

Auch Medikamente der zweiten Wahl wie Tetrabenazin als VMAT2-Hemmer (vesikulärer Monoamintransporter-2-Hemmer) zielen auf das dopaminerge System ab. Mit Valbenazin oder Deutetrabenazin werden hier auch Neuentwicklungen in Studien in der Indikation Tourette-Syndrom geprüft. Daneben zeigen auch noradrenerg wirksame Substanzen wie Clonidin, Guanfacin oder Atomoxetin eine Wirkung bei insgesamt guter Verträglichkeit. Psychopharmaka, die auf das GABAerge System wirken wie Clonazepam, Baclofen oder Topiramat, werden deutlich seltener eingesetzt. In einer neueren Arbeit aus den USA7 gelten verhaltenstherapeutische Verfahren als erste Wahl, gefolgt von den Benzamiden (außerhalb der USA) bzw. noradrenergen Substanzen (innerhalb der USA) als zweite Wahl. Als dritte Wahl werden die VMAT2-Hemmer, Baclofen und Topiramat beurteilt. Die Gruppe der Antipsychotika wird aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils erst als vierte Wahl eingeordnet. In der Praxis zeigt sich, zumindest in Deutschland, dass atypische Antipsychotika wie Aripiprazol oder Risperidon deutlich früher verwendet werden. In den letzten Jahren kommt es verstärkt zu einem Einsatz von Cannabinoiden wie Nabiximols (Sativex) oder Dronabinol und seit der geänderten Gesetzeslage auch von Cannabisblüten direkt.

In der Praxis schwankt allerdings die Verfügbarkeit von Cannabisblüten erheblich, und die zumeist inhalative Anwendung bringt entsprechende Nebenwirkungen mit sich. Die verfügbaren Blüten weisen ein sehr unterschiedliches Verhältnis der wirksamen Bestandteile Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) auf. Aus der eigenen praktischen Erfahrung kann derzeit noch nicht klar entschieden werden, welches Verhältnis für welchen Patienten am wirksamsten und am besten verträglich ist. Hier würden systematische Untersuchungen in der Zukunft hoffentlich zu mehr Klarheit beitragen. Ganz aktuell zeigt sich ein verstärktes Interesse pharmazeutischer Firmen an der Entwicklung von Medikamenten, die im Cannabinoid-System eingreifen, jedoch in Tablettenform eingenommen werden können, sodass hier ein günstigeres Kosten-Nutzen-Risiko zu erwarten ist.

Tiefenhirnstimulation

Bei Nichtansprechen auf psychopharmakologische Methoden stehen mit der Elektrokrampftherapie und insbesondere mit der Tiefenhirnstimulation (THS) weitere Möglichkeiten zur Verfügung, schwer Betroffenen zu helfen. Allerdings ist bislang noch ungeklärt, welches Hirnareal bei welcher Symptomatik am besten zu stimulieren ist. Die meisten Erfahrungen bestehen mit einer Stimulation im Globus pallidus internus sowie thalamischen Arealen. Auch zur Tiefenhirnstimulation wurde von der ESSTS eine entsprechende Leitlinie verfasst.8 Bei extrem ausgeprägten Fällen mit komorbider Zwangsstörung ist auch eine bilaterale Capsulotomie mittels Gamma-Knife-Bestrahlung zu erwägen.9 Nicht invasive Hirnstimulationsverfahren wie die transkranielle Gleichstromstimulation sind derzeit Gegenstand von Untersuchungen, zeigen in Einzelfällen jedoch bislang sehr heterogene Ergebnisse. Auch hier sind viele Therapiemodalitäten noch vollkommen unklar. Letztendlich liegt es an den erfahrenen Klinikern und spezialisierten Einrichtungen, zusammen mit den Patienten die am besten passende Therapie nach Abwägung des Kosten-Nutzen-Profils auszuwählen.

Unabhängig von den bisher erwähnten Therapieverfahren wird in Studien auch der Einfluss körperlicher Aktivität oder bestimmter Ernährungsgewohnheiten auf die Tic-Symptomatik untersucht. Andere Begleittherapien wie pferdegestütztes Training werden Betroffenen über Selbsthilfegruppen angeboten. Die Wirksamkeit wurde jedoch nicht ausreichend in Studien untersucht. Der Austausch an Erfahrungen innerhalb von Selbsthilfegruppen und -organisationen ist jedoch sicherlich als entlastend und bereichernd für die Patienten zu sehen, und entsprechende Aktivitäten werden von den spezialisierten Einrichtungen unterstützt. Abschließend kann sicherlich empfohlen werden, sich bei entsprechendem Verdacht auf eine mögliche Diagnose an spezialisierte Einrichtungen zu wenden, um rasch zu einer diagnostischen Klarheit zu gelangen und Zugang zu den unterschiedlichsten Therapiemöglichkeiten zu bekommen.

Dr. Richard Musil
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums der Universität München

Referenzen:
1 Falkai P, Wittchen H-U. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-5 (R) Göttingen; Bern; Wien [u.a.]: Hogrefe; 2015
2 Robertson MM et al., Nat Rev Dis Primers 2017; 3:16097
3 Cath DC et al., Eur Child Adolesc Psychiatry 2011; 20(4):155–71
4 Conceicao VA et al., Curr Opin Neurobiol 2017; 46:187–99
5 Roessner V et al., Eur Child Adolesc Psychiatry 2011; 20(4):173–96
6 Verdellen C et al., Eur Child Adolesc Psychiatry 2011; 20(4):197–207
7 Quezada J, Coffman KA, CNS Drugs 2018; 32(1):33–45
8 Muller-Vahl KR et al., Eur Child Adolesc Psychiatry 2011; 20(4):209–17
9 Richieri R et al., Clin Neurol Neurosurg 2018; 170:34–7