Dank genetischer Tests und Biomarker-Bestimmungen können gesunde Personen mit familiärem Risiko für eine neurodegenerative Erkrankung heute schon Jahre vor der klinischen Manifestation erfahren, ob sie auch an dem Leiden erkranken werden. Doch ist eine solche präklinische Testung überhaupt von Nutzen und verantwortbar? Hier die Zusammenfassung einer Pro- und Contra-Diskussion vom diesjährigen DGN-Kongress in Düsseldorf.

Der Grund, warum über die Sinnhaftigkeit der präklinischen Diagnostik überhaupt diskutiert wird, ist das große diagnostisch-therapeutische Ungleichgewicht bei neurodegenerativen Erkrankungen: Diagnostisch kann man schon sehr viel machen, krankheitsmodifizierende Therapie gibt es hingegen bis heute so gut wie keine. In der Theorie ist die Prodromalphase zwar das ideale „window of opportunity“, um durch therapeutisches Eingreifen den Beginn einer Krankheitssymptomatik hinauszuzögern.

Bei den neurodegenerativen Erkrankungen ist dieser Ansatz, der in vielen anderen Bereichen der Medizin schon ganz gut funktioniert, derzeit jedoch noch Zukunftsmusik. Wie groß ist angesichts dieser Tatsachen der Wunsch familiär belasteter Personen, sich testen zu lassen? Aufschlussreiche Zahlen gibt es bei der Chorea Huntington: Als die prädiktive Testung 1992 auf den Markt kam, rechnete man mit einer Beteiligung von 70 bis 80 Prozent. Tatsächlich ließen sich aber nur fünf bis 20 Prozent der Betroffenen testen. In einer großen Studie zeigte sich aber auch, dass die gefürchteten katastrophalen Outcomes bei positivem Testergebnis (Suizide, Einweisungen in die Psychiatrie, …) extrem selten sind. So kam es etwa nach 4.527 Huntington-Tests zu keinem einzigen Selbstmord.

Weydt: „Die getesteten Personen wissen ja alle schon, dass sie Risikoträger sind und dass das Damoklesschwert der Erkrankung über ihnen hängt.

Weydt: „Die getesteten Personen wissen ja alle schon, dass sie Risikoträger sind und dass das Damoklesschwert der Erkrankung über ihnen hängt.”

Der Test führe vielfach zu einer Erlösung von Verunsicherung, gab sich Dr. Patrick Weydt, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Ulm, überzeugt. „Die getesteten Personen wissen ja alle schon, dass sie Risikoträger sind und dass das Damoklesschwert der Erkrankung über ihnen hängt“, so der Neurologe, der im Argumente-Wettstreit den Part hatte, die Pro-Seite zu vertreten. „Selbst bei positivem Testergebnis sind viele dann erleichtert, weil sie nun endlich erfahren, woran sie sind, und ihre Lebensplanung optimieren können.“

Für wissenschaftliche Studien unabdingbar

Die prädiktive Diagnostik sei auch aus wissenschaftlicher Sicht wichtig: Sie biete eine einmalige Gelegenheit, die Frühphase der Neurodegeneration zu verstehen und zu beeinflussen. Die Wirksamkeit von Medikamenten, die den Krankheitsbeginn hinauszögern sollen, kann aber nur getestet werden, wenn der Gen- oder Biomarker-Status bereits präklinisch eruiert wird. Weydt stellte klar, dass eine Studienteilnahme nicht automatisch eine Befundmitteilung bedeute: „Wir bieten den Verwandten ersten Grades von Patienten mit genetisch determinierter ALS an, an unserer GPS-ALS-Studie teilzunehmen.

Das Wesentliche dabei ist, dass sie teilnehmen können, ohne das Testergebnis zu erfahren.“ Und vielleicht sind ja auch die Tage des oft ins Treffen geführten therapeutischen Nihilismus schon gezählt: Sowohl beim M. Huntington als auch bei der ALS laufen derzeit erste Studien mit Antisense-Oligonukleotiden an, die erstmals zu einer Krankheitsmodifikation führen könnten. Ein weiteres Argument für die präklinische Diagnostik durch den behandelnden Arzt: Wenn die Testung nicht unter kontrollierten Bedingungen stattfindet, droht die Abwanderung ins Internet. Immer mehr biotechnologische Unternehmen wie 23andme bieten online an, genetische Analysen durchzuführen.

Einen Fragebogen ausfüllen, eine Speichelprobe einschicken – und schon hat man das Ergebnis! Hilfestellung gibt es jedoch keine. Wie der Patient das Testergebnis verarbeitet, bleibt ihm allein überlassen. Klar sei, dass bei einer präklinischen Diagnose schwerwiegender Erkrankungen eine entsprechende Beratung und adäquate psychologische Begleitung angeboten werden müsse, fasste Weydt seine Ausführungen zusammen. Das werde auch vom Gesetzgeber so verlangt. „Wichtig: Die Befunderhebung muss von der Befundmitteilung entkoppelbar sein. Die Therapierbarkeit ist aus meiner Sicht aber keine unbedingte Voraussetzung für eine sinnvolle prädiktive Diagnostik.“

Contra

Unbestritten ist, dass alle Menschen auch das Recht auf Nichtwissen haben. Aus Sicht von Prof. Dr. Reinhard Dengler, Leiter des Neuromuskulären Zentrums der Medizinischen Hochschule Hannover, bedeutet das aber auch, sich nicht vom eigenen Ehrgeiz treiben zu lassen und den Patienten zu bedrängen, sich präklinisch testen zu lassen. Dengler hob in seinem Diskussionsbeitrag noch einmal hervor, dass den Getesteten derzeit weder eine Therapie der Erkrankung noch eine Behandlung, die den Ausbruch der Erkrankung verzögert, angeboten werden könne.

Dengler: „Sollen wir wirklich 20-Jährige testen, ihnen mitteilen, dass sie eine ALS bekommen, auf die sie dann mit 80 immer noch warten?“

Dengler: „Sollen wir wirklich 20-Jährige testen, ihnen mitteilen, dass sie eine ALS bekommen, auf die sie dann mit 80 immer noch warten?“

Eine prädiktive Diagnose mache daher einfach keinen Sinn. „Dazu kommen noch die hohen finanziellen Kosten dieser Untersuchungen. Da man nur Kosten, aber keinen Nutzen hat, ist die Kosten-Benefit-Analyse maximal negativ.“ Im Gegensatz zu Weydt glaubt der Hannoveraner Neurologe sehr wohl, dass positiv getestete Personen ein substanzielles Risiko für Depressionen und Suizidalität haben. „Dazu gibt es bei der Alzheimer-Erkrankung einige Studien und mit Gunter Sachs auch ein prominentes Beispiel.“

Gefährlich sei vor allem eine Koinzidenz von Selbstmordgedanken und Depressionen, ein gerade bei neurodegenerativen Erkrankungen häufiges Zusammentreffen: „Die Depression können ja nicht nur reaktiv, sondern auch Teil der Erkrankung sein! Wir wissen, dass sowohl die Alzheimer- Erkrankung als auch die Chorea Huntington manchmal mit einer Depression beginnt.“ Mit der Testung könnte überdies eine ganze Kettenreaktion von psychologischen Problemen ausgelöst werden, weil das Ergebnis auch für andere Personen, deren Untersuchung gar nicht zur Diskussion steht, Bedeutung hat. So werden etwa durch die präklinische Diagnostik ungewollt auch die Kinder der getesteten Personen mit dem Erkrankungsrisiko konfrontiert.

Wie sicher ist das Ergebnis?

Dengler stellte auch die Sicherheit der prädiktiven Diagnostik infrage: „Ein positives genetisches oder Biomarker- Ergebnis bedeutet noch lange nicht, dass der Betreffende wirklich krank wird!“ Bei Weitem nicht alle Menschen, bei denen Alzheimer-typische Biomarker gefunden werden, bekommen zu Lebzeiten tatsächlich eine Alzheimer-Demenz. Selbst bei Gen-Mutationen mit hoher altersabhängiger Penetranz erkrankt nicht jeder Genträger automatisch: Etwa die Hälfte der Menschen mit Mutationen im C9ORF72-Gen erkrankt bis zum 58. Lebensjahr an ALS. Dieser Prozentsatz steigt bis zum 80. Lebensjahr auf 80 bis 85 Prozent.

„Sollen wir wirklich 20-Jährige testen, ihnen mitteilen, dass sie eine ALS bekommen, auf die sie dann mit 80 immer noch warten?“ „Natürlich benötigen wir für die Entwicklung neuer Therapien auch Studien, in denen der Genstatus der Teilnehmer präklinisch ermittelt wird“, räumte Dengler ein. „Wenn wir aber nicht von wissenschaftlichen Fragestellungen, sondern der klinischen Diagnostik sprechen, bei der ein Patient darüber informiert werden soll, ob er eine bestimmte Krankheit bekommen wird, spricht derzeit aus meiner Sicht die überwiegende Zahl der Argumente noch dagegen.“

„Die präklinische Diagnose einer neurodegenerativen Erkrankung ist sinnvoll – Pro & Contra“, 88. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Düsseldorf, 25.9.15

Autor: Mag. Dr. Rüdiger Höflechner