Seit 40 Jahren bietet das Kriseninterventionszentrum in Wien ein einzigartiges psychosoziales und medizinisches Angebot zur Bewältigung akuter Krisensituationen. Ein Schwerpunkt liegt zudem auf der Suizidprävention, wo etwa durch Gatekeeper-Schulungen verschiedene Berufsgruppen eingebunden werden, berichtet der Ärztliche Leiter Dr. Claudius Stein. (CliniCum neuropsy 6/17) 

CliniCum neuropsy: Seit 40 Jahren gibt es das Kriseninterventionszentrum im Status einer Krankenanstalt. Können Sie abschätzen, wie viele Menschenleben seither gerettet werden konnten?

Stein: Das lässt sich schwer beziffern. Wir haben aber in diesen 40 Jahren über 42.000 Menschen persönlich und mehr als 70.000 telefonisch beraten. Allein 2016 haben wir über 1.600 Menschen mit mehr als 8.000 therapeutischen Einzelkontakten begleitet. Mit Sicherheit trägt unsere Arbeit also dazu bei, dass in Österreich und speziell in Wien die Suizidrate in den letzten 30 Jahren stetig gesunken ist. (Anm: 2015 wurden österreichweit 1.251 Suizide erfasst, i.e. 14,1/100.000, 1986 waren es 2.139 entsprechend 28,2/100.000.) Das Kriseninterventionszentrum ist allerdings nur ein Teil eines Gesamtpakets an suizidpräventiven Maßnahmen, bei denen verschiedene Einrichtungen und Initiativen zusammenarbeiten. Laut Untersuchungen der Wiener Werkstätte für Suizidprävention aus 2009 und 2011 sind in Österreich die Suizidraten in jenen Regionen am niedrigsten, wo es eine breite psychosoziale Versorgung gibt. Unser Angebot kann nur ein kurzfristiges sein und erstreckt sich meist über fünf bis zehn Kontakte, bei Bedarf verweisen wir aber an entsprechende Einrichtungen weiter.

Ihre Jubiläumstagung trägt den Titel „Aufbruch im Umbruch“ – was ist damit gemeint?

Wir wollen mit der Tagung auf die Herausforderungen in der Krisenintervention in der gegenwärtigen Phase des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchs aufmerksam machen. Die derzeit vorherrschende Idee des Sparens und damit die Gefahr, dass soziale Sicherheitsnetze abgebaut werden, trifft soziale Schwache ganz besonders: Es sind Menschen an der Armutsgrenze, auf die wir in der Suizidprävention noch mehr Augenmerk legen wollen. Hinzu kommt die Herausforderung Flucht und Migration, wo wir aktuell ein spezielles Projekt zur Krisenintervention beantragt haben. Gedanken machen wir uns auch darüber, wie wir Männer bzw. Väter in Krisen noch besser erreichen können. Diesbezüglich läuft aktuell das Projekt „Väter in Not“. Eine weitere Herausforderung ist die Digitalisierung: Hier sehen wir mit unserer E-Mail-Beratung seit mittlerweile fünf Jahren durchaus überraschende Erfolge. Es gibt also viele neue, spannende Herausforderungen in der Krisenintervention, denen wir uns gerne stellen.

Stichwort E-Mail-Beratung: Ein solches Angebot war vor 40 Jahren noch kaum vorhersehbar – wie funktioniert dieses Angebot in der Praxis?

Im Prinzip funktioniert die E-Mail-Beratung ganz ähnlich wie eine persönliche Beratung. Im Zentrum steht genauso ein – allerdings schriftliches – Beziehungsangebot. Wir versuchen, zunächst vor allem Verständnis für die akute Krise und die damit verbundenen Gefühle zu vermitteln. Die Anonymität des Internets scheint es für manche Menschen leichter zu machen, ganz offen über Suizidgedanken oder Suizidversuche zu sprechen. Mittlerweile finden bereits an die 250 E-Mail-Beratungen pro Jahr statt, die sich über drei bis vier Kontakte erstrecken und wo wir meist eine Stabilisierung erreichen können. Sogar in ganz schwierigen Situationen oder bei vermuteten chronischen Störungen konnten wir Personen erfolgreich zur weiteren Betreuung an entsprechende Einrichtungen vermitteln.

In den vergangenen 40 Jahren gab es wesentliche neurobiologische Erkenntnisse. Wie wirken sich diese auf Ihre Arbeit aus?

Auch wenn wir grundsätzlich Trauma von Krise unterscheiden, so verstehen wir nicht zuletzt durch die Erkenntnisse der Traumaforschung heute viel besser, was bei Stressbelastungen auf neurobiologischer und auf psychischer Ebene passiert und warum Menschen in krisenhaften Situationen genauso wie bei akuten Traumatisierungen ein hohes Maß an Sicherheit und Stabilität brauchen. Ein großer Vorteil ist es übrigens, dass wir hier in einem multiprofessionellen Team arbeiten und etwa jeder zweite Klient die Möglichkeit einer zusätzlichen ärztlich-psychiatrischen Intervention in Anspruch nimmt. Bei Bedarf können wir auch medikamentöse Unterstützung zumindest zur Überbrückung der akuten Situation bereitstellen.

Ein Teil ihres Angebotes ist eine Partner- und Familienberatung: Wo liegen hier die Schwerpunkte?

Es kommen Menschen in akuten Familienkrisen, etwa bei Trennungs-, Beziehungs- oder Schwangerschaftskonflikten, zu uns. Allerdings sehen wir auch in diesem Bereich, dass das Thema Arbeit immer wichtiger wird. Wir fungieren hier durchaus als ein ergänzendes Angebot zu anderen Familienberatungsstellen, die bei Krisen und damit verbundener Suizidgefahr manchmal überfordert sind und wir durch unsere Erfahrung und Multiprofessionalität auf breiterer Basis agieren können.

Was unterscheidet darüber hinaus das Kriseninterventionszentrum von anderen psychosozialen Einrichtungen?

Eine Besonderheit ist neben der Multiprofessionalität die Tatsache, dass alle Mitarbeiter psychotherapeutisch ausgebildet sind, und dies in ganz verschiedenen Schulen. Die gemeinsame Basis bildet das von Univ.-Prof. Dr. Georg Sonneck entwickelte und laufend adaptierte Konzept der Krisenintervention, in dessen Zentrum das Herstellen einer tragfähigen Beziehung zu Menschen in Krisensituationen steht. Das braucht natürlich Zeit und entsprechende Kapazitäten. Hier in Wien ergänzen wir uns zudem gut mit dem Psychosozialen Dienst und können wechselseitig Kapazitäten frei machen. Die rasche Verfügbarkeit und Kostenfreiheit setzt sicher für viele die Schwelle herab, in akuten psychosozialen Krisen zu uns zu kommen.

Wo liegen aktuell die Schwerpunkte Ihrer Arbeit im Bereich Suizidprävention?

Eingebunden in das Projekt Suizidprävention Austria – SUPRA versuchen wir derzeit, durch gebündelte Maßnahmen besonders ältere Menschen in suizidalen Krisen zu erreichen. Obwohl sie die Altersgruppe mit dem höchsten Risiko bilden, wird dieses Thema sowohl gesellschaftlich als auch medizinisch oft vernachlässigt. Wir suchen dabei vor allem die Zusammenarbeit mit Hausärzten, aber auch mit Mitarbeitern von Pflegeeinrichtungen oder Heimhilfen. Mit der eigenen Website www.krisen-im-alter.at werden Betroffene, Angehörige oder Betreuer auf jeweils eigenen Unterseiten angesprochen. Schwerpunktmäßig führen wir schon seit Längerem Gatekeeper- Schulungen durch – mit eigenen Konzepten für verschiedene Zielgruppen. Wie zeigen darin etwa, worauf die Kollegen in der Einschätzung suizidaler Gefährdung achten sollten und wo sie bei Bedarf selbst Unterstützung finden. Suizidprävention geht schließlich jeden etwas an, und das einzig Falsche wäre es, bei entsprechendem Verdacht untätig zu bleiben! Das bedeutet, wenn man den Eindruck hat, jemand könnte daran denken, sich das Leben zu nehmen, sollte man immer das Gespräch suchen und nach Suizidgedanken fragen.

Welche Erfahrungen in der Krisenintervention haben Sie persönlich besonders geprägt?

Grundsätzlich bedeutet für mich die Arbeit in der Krisenintervention, sich stets auf ganz neue Situationen mit Klienten einzustellen. Eine persönliche Herausforderung ist für mich besonders die Begleitung von verwaisten Eltern, die durch Suizid, Unfall oder Krankheit ein Kind verloren haben. Sie dabei zu unterstützen, wieder Sinn im Leben zu finden, ist durchaus möglich, und es zeigt mir immer wieder aufs Neue, dass man bei entsprechender Unterstützung selbst mit den schwierigsten Situationen im Leben zurechtkommen kann.

Vielen Dank für das Gespräch!

40 Jahre „Krise“

Mit der Jubiläumstagung „Aufbruch im Umbruch – Neue Wege in der Krisenintervention“ feierte das Kriseninterventionszentrum in Wien dieser Tage sein 40-jähriges Bestehen. Die Wurzeln der österreichweit einmaligen Einrichtungen reichen zurück bis in das Jahr 1948, als Univ.-Prof. Dr. Erwin Ringel im Rahmen der Caritas der Erzdiözese Wien die „Lebensmüdenfürsorge“ gründete. 1975 entstand daraus der Verein „Kriseninterventionszentrum“; Mitglieder sind neben der Caritas das Gesundheitsministerium, die Gemeinde Wien und der Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger sowie die Bundesarbeitskammer und die Gewerkschaft Pro-GE. Seit 1977 ist das Kriseninterventionszentrum eine selbstständige Institution im rechtlichen Status einer Krankenanstalt. Bis 2012 war Univ.-Prof. Dr. Gernot Sonneck Vorstandsvorsitzender des Vereins Kriseninterventionszentrum; auf Basis des von ihm entwickelten Konzepts der Krisenintervention arbeitet das Team der „Krise“ heute.

Gegenwärtig ist Ing. Harald Ettl, Bundesminister für Gesundheit a.D. Vorstandsvorsitzender. Aktuell arbeiten 16 Personen (entsprechend neun VZÄ) im Kriseninterventionszentrum; neben Fachärzten für Psychiatrie und Psychologen sind es auch Sozialarbeiter, die alle Psychotherapeuten sind. 2016 wurden mehr als 1.600 Erwachsene mit über 8.000 therapeutischen Einzelkontakten beraten. Ärztlicher Leiter des Kriseninterventionszentrums ist seit 1999 Dr. Claudius Stein, Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut und Lehrtherapeut (KIP) sowie Stv. Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Suizidprävention. Stein ist Mitglied im Expertengremium der Kontaktstelle Suizidprävention bei der Gesundheit Österreich GmbH. zur Etablierung eines Nationalen Suizidpräventionsprogramms in Österreich (SUPRA); in diesem Rahmen hat er u.a. am Projekt „Entwicklung eines österreichweiten Curriculums für Suizidprävention – SUPRA Gatekeepertraining“ mitgearbeitet. 2009 veröffentlichte Stein das Buch „Spannungsfelder in der Krisenintervention“ (Kohlhammer).

Kriseninterventionszentrum: Lazarettgasse 14 A, 1090 Wien, Tel.: 01/406 95 95 Web: www.kriseninterventionszentrum.at

Das Gespräch führte Mag. Christina Lechner