Paradigmenwechsel nicht nur bei transitorischen ischämischen Attacken (TIA), sondern auch bei der Thrombolyse und der Thrombektomie: Die Bildgebung wird zu einem immer wichtigeren Parameter für Therapieentscheidungen, die Zeit spielt eine immer geringere Rolle. (CliniCum neuropsy 2/18)
W ie gefährlich sind TIAS?
In den 1960er Jahren – also vor der Ära der Bildgebung – wurden transitorische ischämische Attacken noch zeitbasiert definiert : Als TIAs galten kurze Episoden einer neurologischen Dysfunktion durch eine fokale Ischämie des Gehirns mit klinischen Symptomen von unter 24 Stunden Dauer und ohne Nachweis eines Infarktes. „Die meisten TIAS dauern weniger als 60 Minuten“, erläutert Priv.-Doz. Dr. Julia Ferrari, Abteilung für Neurologie, Neurologische Rehabilitation und Akutgeriatrie, Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, Wien. „Der Schnitt liegt bei zehn Minuten.“ Mit dem Aufkommen der Computertomographie setzte sich eine neue gewebsbasierte TIA-Definition durch, bei der die klinische Symptomdauer keine Rolle mehr spielte.
Entscheidend ist nur noch, dass die transiente neurologische Dysfunktion durch eine fokale Ischämie des Gehirns hervorgerufen wird und kein Hinweis auf einen Infarkt vorliegt. Klinische Bedeutung haben TIAs vor allem deshalb, weil sie Vorläufer eines Schlaganfalls sein können. Wie groß das Risiko ist, lässt sich mit dem ABCD3-I-Score abschätzen. Eine Auswertung von Daten des österreichischen Stroke-Unit-Registers ergab, dass das Risiko, nach einer TIA innerhalb der nächsten beiden Tage einen ischämischen Schlaganfall mit bleibender Behinderung zu erleiden, bei fünf Prozent liegt. „Daher ist eine rasche Aufnahme und Abklärung erforderlich“, betont Ferrari. Als wichtigste Parameter für die Prognose erwiesen sich die klinische Symptomatik, die TIA-Dauer und das Imaging (Nachweis einer Läsion oder Stenose in einer zuführenden Arterie).
i .v. Thrombolyse
In jeder Minute, in der ein supratentorieller Schlaganfall nicht behandelt wird, gehen im Schnitt 1,9 Millionen Neuronen verloren. Die große Herausforderung bei der Thrombolyse ist, dass der Effekt zeitabhängig ist : In den ersten 90 Minuten müssen nur vier bis fünf Patienten behandelt werden, um einen vor Behinderung zu schützen, ab 180 Minuten steigt die NNT aber bereits auf 14. Bezüglich des vielfach strapazierten Schlagwortes „time is brain“ verweist Ferrari jedoch auf Einstein: „Die Zeit ist relativ!“ Auch bei der i.v. Thrombolyse beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gewebe wichtiger ist als die Zeit : In einer kürzlich veröffentlichten Studie wurde bei Schlaganfallpatienten, die innerhalb des Zeitfensters von 4,5 Stunden eine Thrombolyse erhalten hatten, untersucht, welche Parameter für das Outcome nach drei Monaten entscheidend waren. Das Ergebnis : Am stärksten mit einem guten Ausgang assoziiert war in der multivariaten Analyse nicht der rasche Lysebeginn, sondern das Volumen des Infarktkerns und der Grad der Kollateralisierung. Bei guter Ausbildung von Kollateralen besteht selbst bei Patienten mit niedrigen Werten im ASPECT die berechtigte Hoffnung auf ein zufrieden stellendes Outcome nach drei Monaten.
Wie soll vorgegangen werden, wenn der Ereigniszeitpunkt nicht bekannt ist? Immerhin sind rund 22 Prozent aller Schlaganfälle Wake-up-Strokes. Hier liefert die Bildgebung Hinweise darauf, dass ein Großteil der Patienten den Schlaganfall wohl erst kurz vor dem Aufwachen hatte: Vergleicht man Wake-up-Strokes und Schlaganfälle mit bekanntem Symptombeginn, ist die Mismatch-Rate (=Zeichen für noch rettbares Hirngewebe) ähnlich hoch. Wenn die Zeit kein Ausschlusskriterium wäre, würden 36 Prozent der Wake-up-Strokes die Lyse-Kriterien erfüllen, so das Resümee einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2007. „Daher geht man auch bei diesen Patienten immer mehr dazu über, die Entscheidung, ob ein Lyse durchgeführt werden kann, von den Ergebnissen der erweiterten Bildgebung (DWI/FLAIR mismatch) abhängig zu machen“, fasst Ferrari zusammen.
Thrombektomie auch nach sechs Stunden?
In den aktuellen Leitlinien der DGN wird die mechanische Thrombektomie zur Behandlung von akuten Schlaganfällen mit großen arteriellen Gefäßverschlüssen bis zu einem Zeitraum von sechs Stunden nach Auftreten der Symptome empfohlen. Offensichtlich ist das Zeitfenster, in dem Patienten von einer mechanischen Thrombektomie profitieren können, aber wesentlich größer: Im Vorjahr wurde die DAWN-Studie, in der Patienten mit Mismatch zwischen Klinik und Bildgebung bis zu 24 Stunden nach Beginn der klinischen Symptomatik thrombektomiert worden waren, wegen eindeutig positiver Ergebnisse vorzeitig abgebrochen. Auch in der kürzlich im NEJM veröffentlichen DEFUSE-3Studie hatten Patienten mit Mismatch in der Bildgebung, bei denen bis zu 16 Stunden nach Symptombeginn eine Thrombektomie durchgeführt worden war, ein signifikant besseres funktionelles Outcome als die standardtherapierte Vergleichsgruppe. Die American Stroke Association hat darauf bereits reagiert und in ihren aktualisierten Leitlinien das Zeitfenster für die Thrombektomie für selektionierte Patienten auf 24 Stunden verlängert.
„Paradigmenwechsel in der Schlaganfallmedizin: von der Uhr zum Bild“, 15. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN), Linz, 23.3.18
Von Mag. Dr. Rüdiger Höflechner