Wenn Menschen direkt oder indirekt mitteilen, dass sie nicht mehr leben wollen, ist dies meist als ein Hilferuf zu verstehen, und dieser sollte keinesfalls überhört werden. Daher ist das offene Gespräch über die Verzweiflung und die Suizidgedanken sowie die Herstellung einer tragfähigen Beziehung das zentrale Element jeder Form der Behandlung, sowohl der Krisenintervention als auch der Psychotherapie suizidaler Menschen. (CliniCum neuropsy 3/18) 

Es gibt keine einheitliche Theorie der Suizidalität. Das liegt daran, dass es für suizidales Verhalten und Erleben unterschiedlichste Gründe biopsycho- sozialer Natur geben kann. Suizidalität kann man nur in Zusammenhang mit der Gesamtpersönlichkeit und der jeweils individuellen psychosozialen Situation und Belastung verstehen. Man kommt also nicht umhin, sich jedes Mal aufs Neue darauf einzulassen, gemeinsam mit dem Betroffenen die Bedeutung der suizidalen Fantasien und Handlungen zu ergründen und daraus das richtige therapeutische Handeln abzuleiten.

Epidemiologie suizidalen Verhaltens

In Österreich nahmen sich 2016 1.204 Menschen das Leben. Das entspricht einer Suizidrate (Anzahl der Suizide pro 100.000 der Gesamtbevölkerung) von 14,5/100.000. Davon waren 907 Männer (22,6/100.000) und 297 Frauen (6,4/100.000). Auffallend ist, dass Männer deutlich häufiger Suizide begehen als Frauen (etwa im Verhältnis 3:1) und ältere Menschen deutlich öfter als Jüngere (ein Drittel aller Suizide betrifft Menschen über 65). Seit dem Höchststand im Jahr 1986 (2.139 Suizide) gibt es einen deutlichen Rückgang der Suizidhäufigkeit um 44 Prozent, allerdings ist die Zahl der Suizidtoten immer noch hoch und mehr als zweieinhalb Mal so hoch wie beispielsweise jene der Verkehrstoten (427 Personen). Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern liegt Österreich im mittleren Bereich. Zusätzlich schätzt man, dass etwa zehn bis 25 Suizidversuche auf einen  vollzogenen Suizid kommen. Dabei fällt auf, dass deutlich mehr Frauen und junge Menschen Suizidversuche begehen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass sich die innerseelische Dynamik jener Menschen, die einen Suizid vollzogen haben, in einigen Aspekten von jenen Personen, die Suizidversuche begehen, unterscheidet.

Ursachen von Suizidalität

Es zeigt sich, dass es viele Menschen gibt, die aufgrund einer akuten psychosozialen Krisensituation sehr ernsthaft suizidal werden. Oft bleibt dies die einzige suizidale Episode im Leben Betroffener. Krisen werden durch äußere belastende Ereignisse wie Todesfälle, Trennungen, Diagnose einer schweren Krankheit oder plötzlicher Arbeitsplatzverlust ausgelöst. Das Befinden verschlechtert sich rasch, und Bewältigungsmöglichkeiten, die sonst zur Verfügung stehen, gehen verloren. Es entwickeln sich verschiedenste psychische und physische Symptome, Selbstwert und Identität sind infrage gestellt, und das normale psychische Funktionsniveau ist erheblich beeinträchtigt. Die Situation kann sich so zuspitzen, dass sich ein Gefühl von Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit entwickelt. Eine suizidale Handlung kann dem Betroffenen dann als letzter Ausweg erscheinen. Krisen sind also Situationen hoher Dringlichkeit, die sowohl sehr ernste Gefahren für den Betroffenen haben als auch bei geglückter Bewältigung die Chance auf Reifung und Weiterentwicklung in sich bergen.

Demgegenüber geraten etwa 20 bis 30 Prozent jener Menschen, die einen Suizidversuch unternommen haben, wiederholt in suizidale Krisen. Man spricht von chronischer Suizidalität. Das Suizidrisiko von Menschen, die bereits einen oder mehrere Suizidversuche unternommen haben, ist vierzig Mal höher als in der Normalbevölkerung. Zirka fünf bis zehn Prozent sterben innerhalb von zehn Jahren nach dem ersten Versuch durch Suizid. Bei diesen Menschen finden wir oft sehr ernste Psychopathologien. Besonders ausgeprägte Zusammenhänge gibt es bei affektiven Störungen (Depression und manische Depression), bei Schizophrenie, Borderlineund antisozialen Persönlichkeitsstörungen, Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch und Essstörungen. Einsame und sozial isolierte Menschen sind eine weitere Risikogruppe. Auch bei schweren, chronisch fortschreitenden körperlichen Erkrankungen finden sich erhöhte Suizidraten. Untersuchungen legen nahe, dass das Suizidrisiko besonders nach der Diagnosestellung hoch ist. Menschen mit Krebserkrankungen z.B. haben im ersten Jahr nach Diagnosestellung ein dreifach erhöhtes Risiko, durch einen Suizid zu versterben (Vyssoki, 2015).

Krisenintervention bei akuter Suizidalität

Bei der Behandlung von Suizidalität ist grundsätzlich zwischen Krisenintervention und längerfristiger Therapie zu unterscheiden. Bei akuter Gefährdung steht natürlich zunächst die Frage im Vordergrund, ob eine stationäre oder ambulante Behandlung sinnvoller ist. Bald sollte man auch eine Einschätzung haben, ob die Suizidalität vorwiegend Ausdruck der aktuellen Krise ist, oder ob es sich im Sinne chronischer Suizidalität um ein immer wiederkehrendes Problem handelt, das Teil einer tieferliegenden psychischen Problematik und Störung ist. Eine frühzeitige differenzialdiagnostische Abklärung ermöglicht es zu entscheiden, ob die Krisenintervention baldmöglichst in eine längerfristige medikamentös-psychiatrische und/oder psychotherapeutische Behandlung überzuführen ist.

Die Beziehungsaufnahme mit dem suizidalen Menschen – emotionale Entlastung. Um eine tragfähige und haltende Beziehung herstellen zu können, ist es notwendig, eine ungestörte Gesprächssituation zu ermöglichen und ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen. Man begegnet dem Betroffenen mit Respekt, Verständnis und Interesse und nimmt seine Sorgen ernst. Er soll offen und ehrlich über seine verzweifelte Situation, etwaige Suizidimpulse und über die auslösenden kränkenden Ereignisse sprechen können. Der Klient soll auch die Möglichkeit haben, seinen intensiven und oft auch widersprüchlichen Gefühlen wie Kränkung, Trauer, Schuld und Scham, Angst oder Wut Ausdruck zu geben. Dies hilft dabei, in eine emotional hochgespannte Situation etwas Ruhe und Klarheit zu bringen (Stein, 2009). Der Behandler stellt sich zunächst gleichsam als Auffangbecken für die unerträglichen Gefühle zur Verfügung, einfach indem er das „Unerträgliche“ erträgt.

Dies entspricht dem Konzept des Psychoanalytikers Bion, der vom Therapeuten als „Container“ spricht (Bion, 1962). Das Wort „Container“ wird von ihm mit „one that contains“ also „jemand, der hält“, erklärt. Der Psychoanalytiker Winnicott (1996) wiederum spricht von der „holding function“, der „haltenden Funktion“ des Therapeuten. Beides beschreibt gleichsam die Haltung der guten Mutter dem kleinen Kind gegenüber. In einer solchen Atmosphäre von haltender Zuwendung erlebt der Klient, dass die verzweifelte Situation ernst genommen wird, und trifft gleichzeitig auf ein Gegenüber, das grundsätzlich zuversichtlich bleibt. Hingegen sollte eine Suizidabsicht weder bagatellisiert, z.B. indem man durch vorschnelle Tröstung oder Lösungsvorschläge Verzweiflung und Nöte abtut, noch heroisiert werden.

Einschätzung der aktuellen Suizidgefährdung im Gespräch. Jede Suizidankündigung muss ernst genommen werden. Suizidfantasien und Suizidpläne sollen offen und direkt angesprochen werden. Dies gilt auch für alle indirekten Hinweise (z.B. verbale Äußerungen wie: „Ich kann nicht mehr weiter“, „Alles ist sinnlos“). Dies entlastet den Betroffenen meist erheblich und ermöglicht eine klarere Einschätzung der Gefährdung. Oft hat sich der Klient schon über einen längeren Zeitraum mit diesen Gedanken und den damit verbundenen inneren Konflikten gequält. Durch die Möglichkeit, sich gemeinsam und unvoreingenommen mit diesem Thema auseinanderzusetzen, fühlt sich der suizidale Mensch ernst genommen. Das Beziehungsangebot stellt in den allermeisten Fällen ein Hoffnungssignal dar und steht somit im Widerspruch zur Selbsttötungsabsicht.

Die Risikoabschätzung erfordert im Weiteren die detaillierte Klärung folgender Fragen: Gehört der Klient einer Risikogruppe an, und/oder gab es frühere Suizidversuche oder Suizide in der Familie? Von großer Bedeutung ist, wie konkret die Suizidgedanken sind und ob sie bewusst herbeigeführt sind oder sich gegen den Willen aufdrängen. Wichtig ist auch die Frage, wie konkret die Vorbereitung der Suizidhandlung ist, ob das geplante Suizidmittel verfügbar ist und ob der Betroffene dazu neigt, impulsiv zu handeln. Die Umstände, die Menschen suizidal werden lassen, machen Räume eng – nicht umsonst ist Erwin Ringels Überlegung zur Einengung des suizidalen Menschen zu einem zentralen Begriff zum Verständnis der Situation Betroffener geworden (Ringel, 1953). Einengung hat eine Reihe von unterschiedlichen Aspekten. Situative Einengung bedeutet, dass die persönlichen Handlungsmöglichkeiten als Folge äußerer Umstände oder aufgrund eigenen Verhaltens zunehmend eingeschränkt sind.

Dynamische Einengung heißt, dass sich die Wahrnehmung der Welt und die Assoziationen nur in eine negative Richtung bewegen. Es dominieren dann Gefühle von Angst, Depression, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, man spricht von affektiver Einengung. Das Ausmaß von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ist ein besonders wichtiger Indikator, wie gefährlich die Situation aktuell ist. Eine Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen entsteht dadurch, dass der Betroffene sich zurückzieht, aber auch dadurch, dass die reale Wertschätzung durch die anderen abnimmt. Für viele Menschen gibt es zentrale Werte im Leben wie Religion oder Beziehungen, die sie von einer Selbsttötung abhalten. Werden diese zentralen Werte infrage gestellt, kann dies ein letzter, sehr ernster Schritt in Richtung Suizid sein. Eine überraschende Besserung der Stimmungslage bei weiter bestehender erheblicher Belastung sollte an einen feststehenden Suizidplan denken lassen. Menschen, die den Entschluss gefasst haben, sich das Leben zu nehmen, fühlen sich unter Umständen entlastet und haben subjektiv das Gefühl, einen Ausweg für ihre verzweifelte Situation gefunden zu haben, somit sehen sie auch keinen Grund mehr, mit anderen darüber zu sprechen.

Wenn sich bei bekannter Suizidgefährdung der Kontakt nicht oder nur schwer herstellen lässt, sich das Gefühl von emotionaler Nichterreichbarkeit einstellt oder der Eindruck entsteht, jemand sei nicht bereit, ehrlich über sich und seine Gefühle zu sprechen und somit die Gesprächsbasis fehlt, ist das ein ernstes Alarmsignal. Gegenübertragungsgefühle, also jene Gefühle, die aufgrund der Interaktion mit dem Patienten im Arzt entstehen, können ein überaus wichtiges diagnostisches und therapeutisches Instrument darstellen. Nimmt der Behandler also Gefühle von Angst, Sorge, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit in sich wahr, sollte er diese unbedingt ernst nehmen. In aller Regel sagen sie auch etwas über den Zustand des Patienten aus. Andererseits darf aber auch die Frage, was den Klienten im Leben hält (z.B. Beziehungen, Werte) nicht vernachlässigt werden. Wesentlich für die weitere Planung der Intervention ist, ob sich im Gespräch Zukunftsperspektiven entwickeln lassen. Wenn der Betroffene sich entlastet fühlt, ändert sich meist die Atmosphäre, und es lassen sich gemeinsam Pläne entwickeln, wie es weitergehen könnte.

Für die weitere Beurteilung der Situation sind zwei Faktoren besonders bedeutsam: Ist die Beziehung sowohl aus Sicht des Arztes als auch aus der des Klienten tragfähig und zuverlässig, und ist der Betroffene in der Lage, auch über den unmittelbaren Kontakt hinaus zu kooperieren. Ist die Situation ernst, bedarf es akut fürsorglicher und schützender Maßnahmen. Unter Umständen ist es notwendig, ein dichtes Kontakt- und Beziehungsnetz zu organisieren, indem man das soziale Umfeld in die Begleitung miteinbezieht. Dabei muss auch darauf geachtet werden, wie belastbar die Bezugspersonen sind. Gelegentlich müssen dem Klienten engmaschig Termine angeboten werden. In Ausnahmefällen kann dies sogar bedeuten, dass täglich zumindest kurze (eventuell telefonische) Kontakte vereinbart werden. In der Folge ist zu entscheiden, ob eine stationäre Behandlung notwendig ist. Nach Möglichkeit ist dabei immer ein Konsens mit dem Betroffenen und seinen Angehörigen zu suchen.

Wenn es nicht gelingt, eine Beziehung zum suizidalen Klienten herzustellen, oder durch die Beziehungsaufnahme keine deutliche Entlastung eintritt, ist in folgenden Fällen eine stationäre Aufnahme unumgänglich: bei erheblicher Selbstgefährdung des Klienten, bei Fremdgefährdung abhängiger Personen (Gefahr eines erweiterten Suizides), bei einem Missverhältnis zwischen notwendiger Betreuung und der aktuellen Belastbarkeit des Umfeldes und bei fehlender ambulanter Betreuungsmöglichkeit. Wird aufgrund einer nicht auflösbaren Einengung eine Zwangsmaßnahme gegen den Willen des Betroffenen notwendig, sollte größtmögliche Transparenz bezüglich der Aufgaben und Absichten des behandelnden Arztes hergestellt werden. Zwangsmaßnahmen stellen für alle Beteiligten eine große Belastung dar und sollten daher eine absolute Ausnahme bleiben.

Der Kontrakt mit dem suizidalen Klienten – „der Antisuizidpakt“. Abgesehen von jenen Vereinbarungen, die im Rahmen einer Krisenintervention jedenfalls zu treffen sind, stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, einen Antisuizidpakt abzuschließen: „Ich würde gerne mit Ihnen vereinbaren, was Sie tun, wenn die Suizidgedanken wieder zunehmen. Können Sie versprechen, dass Sie mich anrufen (sich melden, sich an die Stelle […] wenden), wenn Sie glauben, die Suizidimpulse nicht mehr beherrschen zu können?“ Ein Antisuizidpakt wird für sich genommen vermutlich keinen Suizid verhindern. Eingebettet in eine tragfähige Beziehung geht es darum, sich der Folgen einer solchen Vereinbarung für den Klienten, den Behandler und die Beziehung klar zu werden. Eine weitere wichtige behandlungstechnische Frage, die im Zusammenhang mit der Vereinbarung des Kontraktes steht, betrifft die Wahrung der Grenzen des Arztes. Es sollte festgelegt werden, wann und unter welchen Umständen man erreichbar ist. Für Zeiten, in denen keine Erreichbarkeit besteht, sollte ein Notfallplan erarbeitet und überprüft werden, ob der Betroffene in der Lage ist, diese alternativen Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen. Ist dies nicht der Fall, muss wiederum eine stationäre Aufnahme in Erwägung gezogen werden. Man soll sich klar sein, dass einmal getroffene Vereinbarungen vonseiten des Arztes unbedingt eingehalten werden sollten.

Verstehen des Krisenanlasses und der damit verbundenen Psychodynamik – Problemlösung. Um den betroffenen Menschen darin unterstützen zu können, einen konstruktiven Weg aus seiner verzweifelten Situation zu finden, muss man die Dynamik im Hintergrund seiner inneren Not verstehen. Dabei stellt sich die Frage, in welcher Weise die Krise oder das den Suizidimpuls auslösende Ereignis ein zentrales, sich möglicherweise wiederholendes Kränkungs- und Konfliktthema des Klienten berührt. Die subjektive Bedeutung, also die Frage, wie der Betroffene die Situation kognitiv und emotional bewertet, sollte verstehbar werden. In tiefenpsychologischen Theorien wird Suizidalität nicht nur als ein Zeichen seelischer Dekompensation, sondern darüber hinaus als eine psychische Funktion aufgefasst. Diese wird dann eingesetzt, wenn intrapsychische oder interpersonelle Krisen nicht mehr anders handhabbar scheinen. So gesehen kann Suizidalität eine regulierende, manchmal auch stabilisierende Funktion haben.

Die zentralen konflikthaften Themen des suizidalen Menschen sind der Umgang mit Aggression und mit nahen Beziehungen und die Selbstwertregulation. Erfahrungsgemäß verbirgt sich hinter den Suizidgedanken und -vorstellungen des Betroffenen ein Kommunikationsangebot, eine Mitteilung, die der Klient seiner Umgebung und dem Helfer zu machen versucht. Es empfiehlt sich, gemeinsam diesen Fantasien nachzugehen, um einen Zugang zur symbolischen Bedeutung der Suizidalität zu finden. Drücken diese Gedanken eher das dringende Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Ernstgenommen- Werden aus, oder hat man es eher mit manipulativen Tendenzen zu tun, die das Ziel haben, in einer Beziehung etwas zu erreichen oder diese zu verändern bzw. zu halten (vgl. Kind, 2005)? Manchmal drehen sich die Suizidgedanken um Rachefantasien oder Selbstbestrafungstendenzen. Oft geht es aber auch einfach um den Wunsch, eine verzweifelte Situation zu unterbrechen, um sich Ruhe zu verschaffen. Bedrohlicher wird es, wenn die Suizidgedanken nicht mehr beziehungsorientiert sind und die Vorstellung, „tot zu sein“, definitiv im Vordergrund steht.

Im Gesamtkontext muss auch beachtet werden, ob das suizidale Verhalten einen primären oder sekundären Gewinn hat, ob z.B. durch die Suiziddrohung erreicht wird, dass der jeweilige Beziehungspartner sich in gewünschter Weise verhält, beispielsweise von einer Trennung absieht. Ist der psychodynamische Hintergrund auf diese Weise deutlicher geworden, ist es leichter, konkrete Schritte in Richtung einer Problemlösung zu machen. Es ist vielleicht klarer geworden, warum manche Problemlösungsstrategien versagt haben und welche erfolgversprechender sein könnten. Sind die Motive verstehbarer geworden, können Strategien besprochen und ausprobiert werden, die als Alternative zur Suizidfantasie oder -handlung Entlastung verschaffen könnten. Ein stationärer Aufenthalt mag z.B. dem Wunsch nach Ruhe entgegenkommen, Verantwortung wird delegiert und eine Pause ermöglicht. Es wird daran gearbeitet, unmöglich zu erreichende Ziele aufzugeben und damit verbundene Verluste zu betrauern. Man wird versuchen, den Klienten zu ermutigen, wichtige Beziehungen wiederherzustellen oder Beziehungskonflikte zu klären.

Oft wird man auch aktiv die Angehörigen oder Freunde, soweit diese noch belastbar sind, in die Behandlung einbeziehen. Auf diese Art und Weise sollten sich die Einengung auflösen und neue Lebensperspektiven entwickeln lassen. Bei quälenden seelischen Beschwerdebildern wie Angst, Unruhe, Schlafstörungen oder bei depressiven Verstimmungen kann eine Medikation sinnvoll sein. Die Medikamentengabe ist als eine ergänzende Maßnahme zum Gesprächsangebot zu betrachten und darf dieses keinesfalls ersetzen. Dem Betroffenen muss bewusst sein, dass ein Medikament die Krise nicht beseitigen kann, aber unter Umständen die Auseinandersetzung mit ihr erleichtert. Bei akuter Suizidgefährdung ist es sinnvoll, die notwendige Dosis des Medikaments bis zum nächsten Gespräch mitzugeben und weder ein Rezept noch ganze Packungen zur Verfügung zu stellen. Wichtiger Teil der Kriseninterventionsarbeit, die ja zeitlich begrenzt ist, ist auch die Motivation zu einer Langzeitpsychotherapie und/oder einer längerfristigen psychiatrischen Behandlung und die anschließende Weitervermittlung. Dies gilt insbesondere bei chronisch suizidalen Menschen, die in belastenden Lebenssituationen immer wieder suizidal werden. Die Strategie einer Langzeitbehandlung wird sich primär an der zugrunde liegenden Störung orientieren. Psychiatrische und speziell medikamentöse Therapie und Psychotherapie schließen einander keinesfalls aus. Zahlreiche Studien belegen, dass die Kombination beider den chancenreichsten Weg zur erfolgreichen Behandlung darstellt.

Resümee

Die Arbeit mit suizidalen Menschen stellt für den Arzt oft eine große Herausforderung dar. Ziel einer Krisenintervention ist es, den Suizidgefährdeten darin zu unterstützen, seine Lebensumstände so zu verändern, dass das Leben wieder lebenswert für ihn wird. Damit dies gelingen kann, ist es zunächst notwendig, eine tragfähige, belastbare Beziehung herzustellen und darauf aufbauend die Motive und die Dynamik hinter der Suizidabsicht zu verstehen. So kann es gelingen, den verzweifelten Menschen im entscheidenden Moment zu halten, sodass er wieder Sinn in seinem Leben finden kann.

Literatur beim Verfasser

Dr. Claudius Stein
Kriseninterventionszentrum Wien
E-Mail: claudius.stein@kriseninterventionszentrum.at
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