<strong>Zum ersten Mal fand in diesem Jahr ein gemeinsamer Kongress der beiden europäischen neurologischen Gesellschaften EFNS und ENS statt. Von 31. Mai bis 3. Juni trafen sich Experten aus ganz Europa und vielen außereuropäischen Ländern in Istanbul zum Erfahrungsaustausch im Rahmen des ersten Joint Congress of European Neurology. </strong>
Ein zentrales Thema des Kongresses, dem zehn wissenschaftliche Sitzungen und mehr als 200 Abstracts gewidmet waren, war die Erforschung und klinische Behandlung der multiplen Sklerose. Ein viel diskutiertes Thema war dabei die zunehmende Bedeutung von Biomarkern für das Management der Erkrankung. „Mit der zunehmenden Identifizierung und Verwendung von Biomarkern wird ein neues und sehr vielversprechendes Kapitel im Management der MS eröffnet“, kommentierte Univ.-Prof. Dr. Aksel Siva von der Universität Istanbul. „Immer mehr Biomarker unterstützen uns heute dabei, rasch und nicht invasiv Diagnosen zu bestätigen oder auszuschließen, den weiteren Krankheitsverlauf abzuschätzen oder den möglichen Erfolg einer Therapie bei individuellen Patienten vorherzusagen. Die Palette der untersuchten Marker ist groß. Neue Daten gibt es etwa zum Vitamin-D-Spiegel im Plasma, zu Anti-Myelin-Antikörpern oder zu L-Selektin. Um die Rolle und den möglichen Beitrag dieser Marker zum MS-Krankheitsgeschehen zu verstehen, wird allerdings noch mehr Evidenz benötigt.“
Intensiv beforscht wird die Rolle von Entzündungsmarkern. So konnte eine tschechische Gruppe zeigen, dass im spinalen Liquor von MS-Patienten Spiegel von Beta2-Mikroglobulin und Interleukin-8 deutlich höher waren als in einer gesunden Kontrollgruppe (Matejcikova Z.: Cerebrospinal fluid inflammatory markers in patients with multiple sclerosis; EFNS/ENS 2014, Abstract PP 2068). Die Ergebnisse einer anderen Studie, die in Istanbul präsentiert wurde, weisen darauf hin, dass das Protein sIFNAR2 sich als weiterer diagnostischer MSBiomarker etablieren könnte (Orpez- Zafra T et al.: Evaluation of sIFNAR2 as a potential diagnostic biomarker of multiple sclerosis; EFNS/ENS 2014, Abstract PP4149). Als ein neuer MSMarker könnte sich zum Beispiel auch der Nachweis von Eisen im Gehirn mittels Magnetresonanztomographie erweisen, wie eine auf dem Kongress vorgestellte Studie aus Graz belegt. Sie zeigte, dass im Gehirn von MS-Patienten die Eisenkonzentration vor allem in den frühen Krankheitsphasen rasch zunimmt und mit einem Verlust an Gehirnvolumen assoziiert ist (Khalil M et al.: Dynamics of brain iron accumulation differ between clinically isolated syndrome and multiple sclerosis: a longitudinal 3T MRI study EFNS/ENS 2014, Abstract OS2121). Eine wichtige und für die Therapie entscheidende Rolle könnte Biomarkern in Zukunft auch bei der Unterscheidung der verschiedenen MS-Verlaufsformen zukommen. Dank dieser Biomarker könnte es möglich werden, schon früh zwischen schubförmig remittierendem (RRMS), primär-progredientem (PPMS) und sekundär-progredientem (SPMS) Verlauf zu differenzieren. Eine große, EU-geförderte Studie, die beim Kongress in Istanbul präsentiert wurde, belegt, dass im Blut nachweisbare Marker wie CD40L, Eotaxin oder IL-8 das Ansprechen auf eine Interferon- beta-Therapie vorhersagen können (Hegen H et al.: Serum biomarkers predict IFNb treatment response in patients with multiple sclerosis; EFNS/ENS 2014, Abstract OS2120).
<h4>Kopfschmerzen </h4>
Ein im neurologischen Alltag besonders häufiges Problem ist Kopfschmerz. Die hohe Prävalenz, Tendenz zur Chronifizierung und das potenziell unzureichende Ansprechen auf Therapie erfordern offenbar erheblichen Forschungsbedarf. Laut WHO zählt Kopfschmerz weltweit zu den zehn Erkrankungen mit der stärksten funktionellen Behinderung. Analgetika sind zwar kurzfristig durchaus wirksam, bergen auf lange Sicht jedoch das Risiko von Gewöhnung und medikamenteninduziertem Kopfschmerz. Dass regelmäßig auftretende Kopfschmerzen fachärztlich abgeklärt und behandelt werden sollten, zeigte eine im Rahmen des Kongresses vorgestellte Studie der Universität Pavia. Für die Arbeit wurden 274 Patienten mit symptomatischer Kopfschmerzmedikation in Apotheken rekrutiert und strukturiert behandelt. Das brachte eine Reduktion der Kopfschmerzdauer um mehr als die Hälfte, eine Reduktion der Schmerzintensität sowie der monatlichen Analgetikadosis (Antonaci et al.: Monitoring the use of symptomatic drugs in headache: a population study; EFNS/ENS 2014, Abstract EP 3243). Dazu Studienautor Univ.-Prof. Dr. Fabio Antonaci: „Die Ergebnisse belegen, dass der Wechsel von der Selbstmedikation zur ärztlichen Betreuung die Anzahl der symptomatischen Behandlung und die Zahl der monatlichen Kopfschmerzattacken reduzieren sowie die Lebensqualität der Patienten mit Kopfschmerzen verbessern kann.“
Ein erfreuliches Ergebnis brachte eine Studie der Katip Celebi Universität in Izmir. Sie zeigte, dass ein durch Medikamentenübergebrauch verursachter Kopfschmerz (Medication Overuse Headache, MOH) bei adäquater Behandlung eine gute Prognose hat. An der Studie nahmen 67 Frauen und zehn Männer mit einem Durchschnittsalter von 40,7 Jahren teil. Bei 75,3 Prozent der Studienteilnehmer wurde Migräne diagnostiziert, bei 20,7 Prozent Spannungskopfschmerzen. Vier Prozent litten unter einer Kombination von Migräne und Spannungskopfschmerzen. Am häufigsten wurden nicht steroidale Entzündungshemmer (NSAID; 54 Prozent) eingenommen, gefolgt von Mutterkornalkaloiden (17 Prozent) sowie einer Kombination von beiden Substanzgruppen (28,5 Prozent). Die mittlere Dauer der Medikamenteneinnahme lag bei 5,4 Jahren, einige Patienten gaben bis zu 29 Jahre Medikamenteneinnahme an. Die Studienteilnehmer wurden mit einem strukturierten Entgiftungsprogramm behandelt und anschließend über zwölf Jahre nachbeobachtet. Dabei zeigte sich ein überraschend gutes Therapieergebnis: 77 Prozent der Studienteilnehmer hatten zwölf Jahre nach dem Therapieprogramm keinen MOH mehr, bei 20 Prozent wurde eine Reduktion der Kopfschmerzen um mehr als 50 Prozent erreicht. Nur bei drei Prozent der Teilnehmenden kam es zu einem Rückfall in episodische Kopfschmerzen (Beckmann et al.: Medication overuse headache: a-12 year followup study of 77 patients EFNS/ENS 2014, Abstract EP1233).
<h4>Morbus Parkinson </h4>
Auch zum Morbus Parkinson wurden im Rahmen des Joint Congress of European Neurology in Istanbul zahlreiche Studien präsentiert. Diagnostik und Früherkennung nahmen dabei eine wichtige Rolle ein. Genetische Verfahren und Bildgebung sind dabei bedeutsam. Allerdings kommt im Fall des Morbus Parkinson noch eine ganz besondere und möglicherweise auch besonders einfache Option hinzu: Ein Geruchstest. Ein gestörter Geruchssinn wird seit einiger Zeit als Prädiktor einer Parkinson-Erkrankung diskutiert. Im Rahmen einer Studie, an der auch die Universität Innsbruck beteiligt war, wurden 35 Menschen mit REMSchlaf- Störungen einem Geruchstest unterzogen und über mehr als vier Jahre nachbeobachtet. Dabei erwies sich eine Einschränkung des Geruchssinns als Prädiktor für die Entwicklung einer Parkinson-Erkrankung (Mahlknecht et al.: Olfactory assessment for predicting transition to neurodegenerative parkinsonian disorders in subjects with idopathic rapid-eye-movement sleep behavior disorder EFNS/ENS 2014, Abstract OS1210).
Sowohl der reduzierte Geruchssinn als auch der gestörte REM-Schlaf könnten in Zukunft an Bedeutung für die Parkinson-Diagnostik gewinnen. Bis zu 90 Prozent der Parkinson- Patienten leiden unter Riechverlust. Denn die Krankheit greift zu Beginn unter anderem den Riechlappen an und manifestiert sich dadurch. Bei 60 bis 98 Prozent der Patienten ist der nächtliche Schlaf gestört. „Und das vielfach auch erheblich, denn bei REM-Schlaf-Störungen verlieren die Betroffenen die Skelettmuskelatonie während der REM-Phase. Dadurch sind sie in der Lage, ihr Traumgeschehen körperlich auszuleben, was oft sehr unangenehm sein kann“, wie Univ.-Prof. Dr. Heinz Reichmann vom Universitätsklinikum der Carl Gustav Carus TU in Dresden ausführt. Dies zeige, dass sich „Diagnose und Behandlung nicht ausschließlich auf die typischen motorischen Parkinson-Symptome konzentrieren dürfen“. Symptome wie REM-Schlaf- Störungen, Riechverlust, Depressionen oder Darmträgheit können nicht nur auf ein Parkinson-Vorstadium hindeuten, sondern bleiben später oft als Begleiterkrankungen bestehen. Reichmann: „Darauf wird oft zu wenig geachtet, obwohl die Lebensqualität der Betroffenen erheblich darunter leidet.“
<h4>Parkinson-Komorbiditäten </h4>
Reichmann weist auch auf andere verbreitete Komorbiditäten des Morbus Parkinson wie Depression, Angststörungen, Demenz oder Spielsucht hin. Dabei ist vor allem die Depression häufig und betrifft mindestens 40 bis 50 Prozent der Parkinson-Patienten. Bei mehr als 30 Prozent der Patienten treten Depressionen bereits vor den motorischen Symptomen auf. Reichmann: „Die Depression wird vor allem durch den Abbau jener Systeme ausgelöst, die die Monoamine-Neurotransmitter freisetzen, sowie durch eine Fehlfunktion des Stirnlappens und der Hirnrinde. Forschungsergebnisse aus der Neuropathologie zeigen einen Verlust von Neuronen im Nucleus coeruleus, bei manchen Patienten auch in den Raphe-Kernen – womit die Depression eindeutig nicht nur Folge reaktiven Verhaltens ist.“ Im weiteren Krankheitsverlauf kommt es häufig zu Panikattacken und Ängsten. Auch Stimmungsschwankungen sind typisch, korrelieren jedoch nur schwach mit dem Schweregrad der motorischen Beeinträchtigung. „Betroffene sollten unbedingt in geeigneter Weise unterstützt werden. Psychosoziale Angebote, Psychotherapie, Verhaltenstherapie oder Medikamente haben sich bewährt“, so Reichmann (Reichmann H: Movement disorders moving beyond the motor phenotype. EFNS/ENS 2014, Symp6-2).
EFNS-ENS-Kongress, Istanbul, 31.5.–3.6.14
Autor: Reno Barth