1. ÖGPB Newsletter 2022
Prim. Priv.-Doz. Dr. Andreas Erfurth
1. Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin Klinik Hietzing, Wien
Am 11.3.2020 wurde von der Weltgesundheitsorganisation WHO die SARS-CoV-2-Pandemie ausgerufen. Jetzt – zwei Jahre später – ist die Welt weiterhin mit den Auswirkungen und Folgen der Pandemie beschäftigt, die Fallzahlen sind derzeit in Österreich so hoch wie noch nie. Dieser erste Newsletter der ÖGPB im Jahr 2022 möchte einige Aspekte beleuchten, die im Fach Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Pandemie diskutiert werden.
Eine der ersten gestellten Fragen war, ob Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen – insbesondere Schizophrene – häufiger an einer SARS-CoV-2-Infektion versterben als Menschen ohne psychiatrische Pathologie. Bereits vor der Pandemie war bekannt, dass eine genetische Komponente bei der Anfälligkeit für Infektionen wirksam ist und dass das Auftreten von Infektionen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen zum Teil genetisch bedingt sein könnte (1). In einer im April 2021 publizierten Kohortenstudie von Erwachsenen mit SARS-CoV-2-positiven Testergebnissen in einem großen New Yorker Gesundheitssystem war die Diagnose einer Schizophrenie-Spektrum-Störung mit einem erhöhten Sterberisiko verbunden,(2) die Diagnose von affektiven oder Angststörungen jedoch nicht. Weitere Studien legen zusammenfassend nahe, dass Menschen mit vorbestehenden psychiatrischen oder neurologischen Erkrankungen anfälliger für eine SARS-CoV-2-Infektion sind und ein höheres Risiko für schwerwiegende Folgen, einschließlich des Versterbens, haben (3-8).
Mit zunehmender Dauer der Pandemie rückte in der Gesundheitspolitik die Frage in den Vordergrund, inwiefern depressive und ängstliche Symptome in der Pandemie neu auftreten und somit insgesamt zunehmen. Eine in „Lancet“ erschienene Studie (9) schätzte, dass aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie im Jahr 2020 weltweit 53,2 Millionen zusätzliche Fälle von schweren depressiven Störungen aufgetreten sind (Anstieg um 27,6 %, Gesamtprävalenz von 3152,9 Fällen pro 100 000 Einwohner). Außerdem wurde geschätzt, dass weltweit 76,2 Millionen zusätzliche Fälle von Angststörungen auftraten (Anstieg um 25,6 %, Gesamtprävalenz von 4802,4 Fällen pro 100 000 Einwohner). Im selben Heft von „Lancet“ wiesen Taquet et al. (10) darauf hin, dass die Extrapolation von Daten schwierig ist, da sich die Regionen der Welt sehr unterscheiden (wirtschaftlich, demografisch, politisch, kulturell). Die meisten Daten basieren auf Selbstauskunftsskalen (Patient Health Questionnaire-9, General Anxiety Disorder-7), die Symptome messen, aber keine Diagnosen bestimmen: Eine Schätzung von Prävalenzen von Diagnosen (und nicht Symptomen) ist somit schwierig. Zudem ist die generalisierte Angststörung (GAD) dadurch charakterisiert, dass die Betroffenen das emotionale Leiden als exzessiv oder irrational anerkennen. Diese Übermäßigkeit und Nichtkontrollierbarkeit im Vergleich zu nichtpathologischer Sorge wird durch die General Anxiety Disorder-7 nicht erfasst. Außerdem könnten die von den Untersuchten in der SARS-CoV-2-Pandemie angegebenen Sorgen durchaus adäquat und nicht übermäßig sein, die Diagnose einer GAD wäre somit nicht statthaft.
Zusammenfassend kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Pandemie das Auftreten von Stress, ängstlichen und depressiven Symptomen erhöht hat. Schwierig ist es, manifeste Erkrankungen zu erfassen sowie zwischen unterschiedlichen Ursachen zu unterscheiden (direkte Folgen einer Infektion, sekundäre Faktoren wie Lockdown, Arbeitslosigkeit oder wirtschaftliche Not).
Eine dritte wichtige Frage ist die nach den Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion. Eine ausführliche Untersuchung führten Groff et al. durch (11). Zur Bewertung der psychischen Gesundheit wurde eine Reihe von standardisierten Fragebögen verwendet. Die häufigsten postakuten Auswirkungen einer SARS-CoV-2-Infektion (PASC) waren funktionelle Mobilitätsbeeinträchtigungen, Lungenfunktionsstörungen und neuropsychiatrische Störungen (vor allem depressive Störungen, GAD, posttraumatische Belastungsstörungen, Insomnien, kognitive Einschränkungen, Gedächtnisstörungen, Konzentrationsstörungen). Eine im März 2022 erschienene Untersuchung zu Prädiktoren für PASC (12) zeigte u. a. die Bedeutung eines Typ-2-Diabetes für die Entwicklung von PASC auf.
Zusammenfassend gingen schon Groff et al. in ihrem Artikel davon aus, dass es sich bei PASC um eine Multisystemerkrankung handelt und dass die langfristigen Auswirkungen von PASC ein Ausmaß angenommen haben, das die bestehenden Kapazitäten im Gesundheitswesen überfordert, insbesondere in ressourcenbeschränkten Regionen. Die Langzeitfolgen der Infektion verdeutlichen die Notwendigkeit einer holistischen Sicht auf die klinische Medizin.
Literatur:
- Nudel R et al.: A large-scale genomic investigation of susceptibility to infection and its association with mental disorders in the Danish population. Transl Psychiatry 2019; 9: 283
- Nemani K et al.: Association of psychiatric disorders with mortality among patients with COVID-19. JAMA Psychiatry 2021; 78: 380-6
- Wang Q et al.: Increased risk of COVID-19 infection and mortality in people with mental disorders: analysis from electronic health records in the United States. World Psychiatry 2021; 20: 124-30
- Castro VM et al.: Mood disorders and outcomes of COVID-19 hospitalizations. Am J Psychiatry 2021; 178: 541-7
- Vadukapuram R et al.: Does a mental health diagnosis worsen outcomes from COVID-19? Prim Care Companion CNS Disord 2022; 24: 21com03152
- Teixeira AL et al.: Analysis of COVID-19 infection and mortality among patients with psychiatric disorders, 2020. JAMA Netw Open 2021; 4: e2134969
- Barcella CA et al.: Severe mental illness is associated with increased mortality and severe course of COVID-19. Acta Psychiatr Scand 2021; 144: 82-91
- Sörberg Wallin A et al.: Risk of severe COVID-19 infection in individuals with severe mental disorders, substance use disorders, and common mental disorders. Gen Hosp Psychiatry 2022; 75: 75-82
- COVID-19 Mental Disorders Collaborators: Global prevalence and burden of depressive and anxiety disorders in 204 countries and territories in 2020 due to the COVID-19 pandemic. Lancet 2021; 398: 1700-12
- Taquet M et al.: Depression and anxiety disorders during the COVID-19 pandemic: knowns and unknowns. Lancet 2021; 398: 1665-6
- Groff D et al.: Short-term and long-term rates of postacute sequelae of SARS-CoV-2 infection: a systematic review. JAMA Netw Open 2021; 4: e2128568
- Su Y et al.: Multiple early factors anticipate post-acute COVID-19 sequelae. Cell 2022; 185: 881-95
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