1. ÖGPB Newsletter 2024
Univ.-Prof. Dr. Dan Rujescu
Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Wien Präsident der ÖGPB
© feelimage/Matern
Dr. med. univ. Vincent Millischer, PhD
Ärztlich-wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Allgemeine Psychiatrie an der Medizinischen Universität Wien
© feelimage/Matern
In dieser Ausgabe unseres Newsletters widmen wir uns der Pharmakogenetik. In einer Zeit, in der die personalisierte Medizin immer mehr in den Fokus rückt, bietet die Pharmakogenetik vielversprechende Ansätze, um die psychopharmakologische Behandlung durch individualisierte Verschreibungen zu verbessern und Therapieabbrüche aufgrund unerwünschter Arzneimittelreaktionen oder eines inadäquaten Therapieregimes zu reduzieren.
Was ist Pharmakogenetik?
Die Pharmakogenetik ist ein Zweig der Genetik, der untersucht, wie genetische Variationen die Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln beeinflussen. Derzeit liegt der Schwerpunkt von pharmakogenetischen Testungen auf pharmakokinetisch relevanten Genen, d.h. Genen, die den Metabolismus eines Medikaments im Körper beeinflussen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Cytochrom-P450(CYP)-Superfamilie, eine Gruppe von Leberenzymen, die bei der Oxidation und Elimination von Arzneimitteln und anderen Fremdstoffen eine wichtige Rolle spielen. Die Aktivität dieser Enzyme wird u.a. genetisch beeinflusst, wobei für die meisten CYP-Enzyme genetische Varianten beschrieben wurden, die mit einer erhöhten oder verminderten Aktivität einhergehen. Eine genetische Testung auf diese Varianten erlaubt es, Vorhersagen über den sogenannten genetisch determinierten metabolischen Phänotyp zu treffen. Für jedes Enzym kann somit bestimmt werden, ob jemand genetisch ein poor metabolizer (langsamer Metabolisierer), ein intermediate metabolizer (verlangsamter Metabolisierer), ein normal metabolizer oder ein rapid metabolizer (schneller Metabolisierer) ist. Dies ist wiederum von klinischer Relevanz, da ein schneller Metabolismus eines Medikaments mit niedrigeren Serumspiegeln und einem potenziell geringeren therapeutischen Ansprechen assoziiert ist, während ein langsamer Metabolismus zu erhöhten Plasmaspiegeln und mehr Nebenwirkungen führen kann. Durch die Einbeziehung individueller genetischer Informationen in Entscheidungen über die Auswahl und Dosierung von Arzneimitteln ermöglichen pharmakogenetische Tests Ärzt:innen, spezifische Empfehlungen zu geben und einen zielgerichteten, personalisierten Behandlungsplan zu erstellen.
Welche Bedeutung hat Pharmakogenetik in der Psychiatrie?
Eine große Anzahl der heute in Verwendung stehenden Psychopharmaka wird durch das CYP-System metabolisiert. Da der Metabolisierungsstatus Auswirkung auf den Serumspiegel haben kann, ist die schnelle Etablierung einer angemessenen Dosierung ein wesentlicher Faktor für eine effektive Behandlung, da sowohl unerwünschte Arzneimittelreaktionen als auch ein unzureichendes therapeutisches Ansprechen zum Abbruch der Psychopharmakotherapie führen kann. Die Bestimmung der optimalen Dosis wird jedoch dadurch erschwert, dass die Menge, die benötigt wird, um diese therapeutischen Spiegel zu erreichen, bei den meisten Psychopharmaka zwischen den Individuen erheblich variieren kann. Für etliche (aber nicht alle!) Psychopharmaka gibt es von internationalen Fachgesellschaften herausgegebene Empfehlungen, wie die Verschreibung je nach Phänotyp angepasst werden sollte.
So wird z.B. empfohlen, das SSRI Sertralin, das über CYP2C19 und CYP2B6 metabolisiert wird, bei einem verlangsamten Metabolismus dieser beiden Enzyme (poor oder intermediate metabolizers) mit einer um bis zu 50% reduzierten Anfangsdosis zu verabreichen oder ein anderes Antidepressivum in Betracht zu ziehen, da erhöhte Spiegel wahrscheinlich sind. Die Empfehlungen sind in der Pharmacogenomics Knowledgebase (https://www.pharmgkb.org/) zusammengestellt und können dort nachgelesen werden. Empfehlungen gibt es für die meisten trizyklischen Antidepressiva sowie für (Es)citalopram, Sertralin, Venlafaxin, Paroxetin, Vortioxetin, Aripiprazol, Risperidon, Quetiapin, Haloperidol, Zuclopenthixol, Carbamazepin, Lamotrigin, Codein und Tramadol. Bei Verschreibung dieser Medikamente kann eine pharmakogenetische Testung indiziert sein. Für viele häufig verwendete Medikamente, wie z.B. Bupropion, Duloxetin, Mirtazapin, Olanzapin gibt es derzeit keine Empfehlungen, eine pharmakogenetische Testung würde hier einen geringen Informationsgewinn bringen. Wieder andere Medikamente wie Lithium und Milnacipran werden renal ausgeschieden, hier bringt eine genetische Untersuchung des Leberstoffwechsels wenig.
Wann sollte eine Testung durchgeführt werden?
Sollte vor Beginn einer psychopharmakologischen Behandlung ein pharmakogenetischer Test durchgeführt werden? Auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass eine Testung den Behandlungserfolg etwas erhöhen (Brown et al. 2022) würde bzw. bei Beginn einer antidepressiven Therapie mit trizyklischen Antidepressiva zu einem schnelleren Erreichen wirksamer Spiegel bei geringeren Nebenwirkungen führen kann (Vos et al. 2023), wird eine generelle Testung vor Beginn einer antidepressiven Therapie von den S3-Leitlinien Depression nicht empfohlen, da die derzeitige Studienlage nicht als ausreichend gesehen wird (Bousman et al. 2023). Die derzeit laufende internationale, nicht von der Industrie gesponserte PSY-PGx-Studie zielt jedoch darauf ab, hier eine klarere Antwort zu geben: Diese randomisierte, patienten- und bewerterblinde Studie vergleicht pharmakogenetisch gestützte Therapie mit treatment as usual bei 2000 Patient:innen, die eine Neueinstellung oder Umstellung einer Pharmakotherapie für Depression, Angststörung oder psychotische Störung haben. Die Ergebnisse sind in den kommenden Jahren zu erwarten.
Grundsätzlich ist der Einsatz der Pharmakogenetik derzeit also dann besonders sinnvoll, wenn trotz korrekter Medikamenteneinnahme unerwartete Auffälligkeiten der Wirkstoffspiegel im Blut auftreten, da die pharmakokinetisch orientierte pharmakogenetische Testung der CYP-Enzyme Wirkungen oder Nebenwirkungen erklären kann, die durch abweichende Spiegel vermittelt werden. Wie oben erwähnt, wird die Testung dann empfohlen, wenn Medikamente verordnet werden sollen, für die es pharmakogenetische Empfehlungen gibt. Eine Ausnahme sind Therapien mit dem als Stimmungsstabilisator verwendeten Carbamazepin: Hier ist eine Testung auf genetische Varianten im HLA-Gen indiziert, da diese über die Wahrscheinlichkeit des Auftreten schwerer Nebenwirkungen Auskunft geben kann.
Welche Einschränkungen gibt es?
Obwohl pharmakogenetische Tests ein vielversprechendes Instrument in der personalisierten Medizin darstellen, ist es wichtig, sich ihrer Grenzen bewusst zu sein.
Derzeit gibt es für viele Arzneimittel keine spezifischen Empfehlungen für pharmakogenetische Testung. In diesen Fällen kann ein pharmakogenetischer Test begrenzten direkten Nutzen für die Anpassung der Behandlung bieten, da klare evidenzbasierte Leitlinien für die Anwendung der Testergebnisse fehlen.
Eine weitere wesentliche Einschränkung ist das Fehlen pharmakodynamischer Empfehlungen: Derzeit gibt es keinen (genetischen) Test, der das Ansprechen auf eine Medikation vorhersagen kann. Ein fehlendes Ansprechen bei korrektem Medikamentenspiegel kann daher durch einen pharmakogenetischen Test nicht geklärt werden. Es gibt zwar vielversprechende Forschungsergebnisse, die aber noch nicht die klinische Reife erreicht haben.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Abbau von Arzneimitteln nicht nur durch genetische Faktoren, sondern auch durch Umweltfaktoren (z.B. Rauchen) und eine Vielzahl von Arzneimitteln (z.B. CYP-Induktoren oder -Inhibitoren) beeinflusst wird. Diese Faktoren können die Metabolisierung von Arzneimitteln erheblich beeinflussen und damit die Vorhersagbarkeit und Zuverlässigkeit pharmakogenetischer Tests einschränken.
Es ist wichtig, dass sowohl Ärzt:innen als auch Patient:innen sich dieser Einschränkungen bewusst sind und Entscheidungen über den Einsatz pharmakogenetischer Tests auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz und klinischer Leitlinien treffen.
Wo kann man eine pharmakogenetische Testung durchführen?
Pharmakogenetische Untersuchungen werden derzeit nicht von den österreichischen Krankenkassen übernommen, sondern z.B. in Wien vor allem im stationären Bereich in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Universität Wien durchgeführt bzw. müssen privat bezahlt werden. Seit einigen Jahren gibt es auch eine pharmakogenetische Spezialambulanz an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Wien, die eine pharmakogenetische Beratung im Rahmen einer psychopharmakologischen Behandlung anbietet. Bei Verdacht auf einen abweichenden Stoffwechsel kann hier eine Abklärung durchgeführt werden. Hierzu wird eine Überweisung von einem Facharzt/einer Fachärztin inklusive einer Medikamentenspiegelbestimmung im Blut benötigt. Das Untersuchungsergebnis bleibt lebenslang gültig und kann daher immer wieder zur Therapieplanung für neue Medikamente, die die untersuchten Stoffwechselwege benötigen, herangezogen werden.
Zusammenfassung
Zum Abschluss ist es wichtig, zu betonen, dass das Gebiet der Pharmakogenetik sehr dynamisch ist und sich ständig weiterentwickelt. Während es für einige Medikamente heute vielleicht noch keine klaren pharmakogenetischen Empfehlungen gibt, kann sich dies in Zukunft schnell ändern, wenn neue Erkenntnisse gewonnen werden. Dennoch bleibt die individuelle klinische Bewertung durch einen Facharzt/eine Fachärztin für die Auswahl und Anpassung psychiatrischer Medikamente unter Berücksichtigung aller verfügbaren Informationen, einschließlich der klinischen Vorgeschichte und der Präferenzen des Patienten/der Patientin, entscheidend.
Bousman, Chad A., Abdullah Al Maruf, Diogo Ferri Marques, Lisa C. Brown, and Daniel J. Müller. 2023. “The Emergence, Implementation, and Future Growth of Pharmacogenomics in Psychiatry: A Narrative Review.” Psychological Medicine, September, 1-11
Brown, Lisa C., Joseph D. Stanton, Kanika Bharthi, Abdullah Al Maruf, Daniel J. Müller, and Chad A. Bousman. 2022. “Pharmacogenomic Testing and Depressive Symptom Remission: A Systematic Review and Meta-Analysis of Prospective, Controlled Clinical Trials.” Clinical Pharmacology and Therapeutics 112 (6): 1303-17
Vos, Cornelis F., Sophie E. Ter Hark, Arnt F. A. Schellekens, Jan Spijker, Annemarie van der Meij, Anne J. Grotenhuis, Raluca Mihaescu, et al. 2023. “Effectiveness of Genotype-Specific Tricyclic Antidepressant Dosing in Patients With Major Depressive Disorder: A Randomized Clinical Trial.” JAMA Network Open 6 (5): e2312443
- 92. ÖGPB Newsletter 2024
- 91. ÖGPB Newsletter 2024
- 92. ÖGPB Newsletter 2023
- 91. ÖGPB Newsletter 2023
- 9 3. ÖGPB Newsletter 2022
- 92. ÖGPB Newsletter 2022
- 91. ÖGPB Newsletter 2022
- 93. ÖGPB Newsletter 2021
- 92. ÖGPB Newsletter 2021
- 91. ÖGPB Newsletter 2021
- 94. ÖGPB Newsletter 2020
- 93. ÖGPB Newsletter 2020
- 92. ÖGPB Newsletter 2020
- 91. ÖGPB Newsletter 2020